Die Herrschaftsstruktur des Faschismus: Folgerungen und Fehldeutungen

[…] Die erste, insbesondere für die marxistische Faschismusdiskussion zentrale Frage ist so zu formulieren: Wenn die Interessen des Großkapitals – wie nicht nur von marxistischen Untersuchungen, sondern auch von Schweitzer, Bloch, Petzina und vielen anderen überzeugend nach-gewiesen – in so starkem Maße zum Zuge kamen: wie und in welchem Sinne wurden dann noch spezifische Interessen der faschistischen Partei realisiert? Wie kann noch von einem »Bündnis« die Rede sein, nachdem die antikapitalistischen und mittelständischen Bestrebungen der faschistischen Anhängerschaft, wie gezeigt wurde, so rigoros unterdrückt worden waren?

Da sich also mittelständische Inhalte in der Politik faschistischer Systeme kaum finden, wird von manchen Autoren auf die Irrationalismen faschistischer Politik hingewiesen, in denen sich die vorkapitalistischen und vorindustriellen Bewußtseinsformen der Mittelschichten widergespiegelt hätten. Es bestehe ein Zusammenhang zwischen der »irrationalen Tendenz zur Selbstzerstörung« und der »letztendlichen Realitätsuntüchtigkeit . . . der faschistischen Diktatur« einerseits und den Mittelschichten, die mit dem Faschismus zu einer »autonomen politischen Kraft« geworden seien, andererseits. Sicher ist es richtig, daß nicht nur in der faschistischen Ideologie, sondern auch in der faschistischen Politik starke irrationale Elemente enthalten sind. Die Schlußfolgerung, daß darin der Einfluß der Mittelschichten zum Ausdruck komme, erscheint jedoch sehr zweifelhaft. Die Militärpolitik des kaiserlichen Deutschland ist nicht weniger abenteuerlich, die Begeisterung für den Krieg nicht weniger rauschhaft, die Eroberungspläne sind nicht weniger großspurig gewesen als im Faschismus, ohne daß hier Mittelschichteninteressen und -mentalitäten als treibende Kräfte überhaupt in Frage kommen. Die Ansicht, es sei die faschistische Bewegung gewesen, die in Deutschland und Italien »die Industrie und das konservative Militär in einen Weltkrieg« zogen gegen deren Willen, steht in klarem Widerspruch zu den Quellen und ist historisch absolut unhaltbar.

Eine andere Variante, spezifische Interessen der faschistischen Partei im Herrschaftssystem aufzuzeigen, besteht darin, dieses System als eine Diktatur der faschistischen Führungsclique zu erklären. So spricht H.A. Winkler von der absoluten Herrschaft einer von keiner sozialen Machtgruppe kontrollierten »Clique und des von dieser Gruppe verkörperten Primats der Politik«, und I. Fetscher von der »Herrschaft einer radikalen Minderheit… aus deklassierten Kleinbürgern, Lumpenproletariern und Halbgebildeten«. Über die Inhalte faschistischer Politik ist damit freilich noch nichts ausgesagt, und es ist ziemlich evident, daß diese durch den bloßen Hinweis auf die Macht- und Karriereinteressen der faschistischen Führer nicht erklärt werden können.

An der Frage, wie die Bündnisstruktur des faschistischen Systems konkret zu bestimmen ist, unterscheiden sich die verschiedenen Theorien sehr stark. Es ist umstritten, ob es sich bei der faschistischen Diktatur um eine Dominanz großkapitalistischer Interessen oder um eine Dominanz der faschistischen Führungsclique gehandelt hat, ob von einem »Primat der Politik«, das heißt des Staates, oder von einem »Primat der Ökonomie« gesprochen werden muß. Ebenso umstritten ist, ob das Großkapital aktiv und maßgeblich an der Gestaltung der faschistischen Politik mitgewirkt hat oder ob der faschistische Staat zwar objektiv großkapitalistische Interessen vertreten hat, jedoch ohne dem Großkapital reale politische Mitwirkung einzuräumen, oder ob die faschistische Diktatur mindestens in Deutschland in zwei Phasen zerfällt,deren erste (bis 1936) auf einem Kompromiß (partialfascism), deren zweite aber auf einer Dominanz der faschistischen Parteiführung beruhte (ful fascism), wie Schweitzer und Petzina meinen.

Diesem Problem kommt man näher, wenn man die soziale Funktion des Faschismus im Vergleich zu früheren Formen diktatorischer bürgerlicher Herrschaft einerseits und zu parlamentarisch-demokratischen Formen andererseits genauer ins Auge faßt. Dies geschieht bei Wolfgang Abendroth, der dabei methodisch an die Bonapartismusanalyse von Marx und die Faschismusanalysen von Thalheimer aus den 20er und 30er Jahren anknüpft. Thalheimer hatte die Trennung von politischer und sozialer Herrschaft behauptet und den Faschismus als eine Herrschaftsform interpretiert, in der das Kapital auf die politische Herrschaft verzichtet, um seine soziale aufrechterhalten zu können. Schon die Errichtung der faschistischen Diktatur sei eine Vergewaltigung aller Schichten und Klassen, auch des Kapitals, und in der Folge werde zwar die Herrschaft im Interesse des Kapitals, aber ohne dessen aktive Mitwirkung ausgeübt. Diese inhaltlichen Thesen werden von Abendroth natürlich nicht übernommen, weil sie durch die reale Entwicklung des Faschismus widerlegt worden sind. Insofern sind über Bonapartismustheorien dieser Art weitausholende theoretische Erörterungen nicht mehr erforderlich: Sie stimmen einfach mit den Tatsachen nicht überein.

Abendroth führt aus, daß der bürgerliche Staat schon im 19. Jahrhundert autoritär-repressive Mittel angewandt hatte, um die aufkommende Arbeiterbewegung niederzuhalten. Dies geschah nicht nur in Deutschland (besonders drastisch durch das Sozialistengesetz Bismarcks), sondern auch in Frankreich (zum Beispiel durch Napoleon III.) und in England (durch Disreali). Das Erstarken der Arbeiterbewegung nach der Russischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg machte jedoch neue Herrschaftsmittel erforderlich: »Dafür mußten die herrschenden Klassen nicht nur die traditionalen selbständigen Mittelschichten mobilisieren, sondern auch die neuen Teile der Arbeitnehmerschichten mit traditional mittelständischer Ideologie – die zahlenmäßig stark angewachsenen Schichten der Angestellten und Beamten wenn sie die proletarische Revolution nicht nur vorübergehend zurückdrängen, sondern dauerhaft schlagen wollten.

In den von den Krisen dieser Periode am stärksten getroffenen Gesellschaften reichte nunmehr die bloße Reduktion des rechtsstaatlichen Moments und der demokratisch-parlamentarischen Formen klassischer bürgerlicher Staatlichkeit auf den autoritären Staat nicht mehr aus, um den Druck der Arbeiterklasse in Richtung auf Transformation der kapitalistischen Produktionsverhältnisse auszuschalten. Das zeigt sich sehr deutlich in der Zeit der Präsidialdiktatur im Deutschen Reich. Inzwischen war das Kapital zu gewaltigen Oligopolen und Monopolen konzentriert, welche die Marktkonkurrenz durch Machtkonkurrenz (und Machtausgleich) ersetzten. So konnte man nun auch für längere Zeiträume auf die durch Öffentlichkeit vermittelte und daher auf den klassischen Parlamentarismus verwiesene Form sowohl der Gesetzgebung als auch der in anderer Weise durchgesetzten Regulierung der Gesellschaft und Intervention der öffentlichen Macht in die Gesellschaft verzichten. Der Machtausgleich zwischen einer fast unendlich großen Zahl von kleinen und mittleren Wirtschaftseinheiten bedarf der öffentlichen Auseinandersetzung zur Herstellung der erforderlichen Kompromisse; der Machtausgleich hinsichtlich des Einsatzes und der Verwendung der Staatsmacht zwischen einer begrenzten Zahl von ökonomischen Zentren der Produktion, des Kredits und der Distribution, die wieder untereinander verknüpft sind, kommt ohne das Moment der Öffentlichkeit leicht aus. Diese Zentren führen ohnedies ständig nicht-öffentliche Spitzenverhandlungen untereinander und mit den Vertretern der Staatsmacht. In Krisenperioden ist dieser Machtausgleich auf völlige Abschirmung gegen die Öffentlichkeit sogar unbedingt angewiesen, weil demokratischer Parlamentarismus bei rechtsstaatlich gesicherter freier Willensbildung der Arbeiterbewegung zwei Konsequenzen hätte: Er würde das Eingreifen der Arbeiterbewegung in staatliche Willensbildungsprozesse ermöglichen und – vor allem in der Krise – die Einsicht der Arbeiterbewegung in die Notwendigkeit des Übergangs von kapitalistischen zu sozialistischen Produktionsverhältnissen geradezu produzieren.

So entsteht in der Periode des Monopolkapitalismus generell in allen Teilen der herrschenden Klassen die Tendenz, die aus der Aufstiegsperiode des liberalen Kapitalismus überkommenen Vorstellungsweisen und Rechtsformen mindestens zurückzudrängen, im Extremfall langwieriger ökonomischer und sozialer Krisen jedoch voll zu überwinden. Da sich die Technologie weiterentwickelt und die Kapitalkonzentration sich verstärkt, muß das Gleichgewicht der wirtschaftlichen Prozesse aufrechterhalten und wiederhergestellt werden, indem der Staat zunächst stärker in die Ökonomie eingreift, bis im Endresultat Staatsmacht und Großökonomie zu einheitlicher Willensbildung verschmelzen.

Zwischen den beiden Weltkriegen stand dieser Transformationsprozeß der politischen Ordnung unter dem Vorzeichen der Abwehr der Gefahr der proletarischen Revolution.« Dies ließ sich »nur dadurch vermitteln, daß als Gegenmacht gegen sozialistisch-proletarische Kräfte soziale Gruppen mit Mittelschichtenmentalität mobilisiert wurden. Den diesen Sozialschichten angebotenen antibolschewistischen und antimarxistischen Parolen wurde der Schein ‚antikapitalistischer‘ Ideologie zugesetzt, um ihnen die Illusion des Kampfes für ihre eigenen Interessen zu geben. Mit Hilfe dieser Parolenmixtur sollte das Mittelstandsaufgebot die Arbeiterorganisationen ausschalten. Verstärkter Druck der Staatsmacht, die mittels der militanten gegenrevolutionären Mittelschichten-Organisationen gefestigt und von ihnen unterstützt wurde, mußte dann die Arbeiterorganisationen vernichten.

Gleichzeitig konnte auch die nunmehr der Kontrolle der Öffentlichkeit entzogene Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Interessen der einzelnen Oligopole ohne Gefährdung des sozialen Gesamtsystems weitergeführt werden. Die Oligopole hatten jedoch spätestens seit Ausbruch der Weltwirtschaftskrise einsehen müssen, daß der konjunkturelle Prozeß ohne Mithilfe der öffentlichen Gewalt nicht gesteuert werden konnte, wenn auch eventuell nur in der Weise, daß sie sich formell gemeinsam der quasi schiedsrichterlichen Entscheidung durch die öffentliche Gewalt unterwarfen. Auf dieser Situation beruhte die Wendung zum Faschismus, wie sie 1922 in Italien, 1933 in Deutschland und in Österreich durchgespielt worden ist . . . Dadurch wurde es . . . möglich, daß diese Parteien und ihre militärischen Verbände in Zusammenarbeit mit der traditionellen Staatsorganisation die Unterdrückungsfunktion der öffentlichen Gewalt gegenüber den Unterklassen generalisierten und extrem verstärkten …«

Weiter »führte diese Situation zu einer relativ permanenten Symbiose von Monopolwirtschaft und Staat im Zeichen eines auch nach außen aggressiven Rüstungskapitalismus …«

»Zwar wurde die Organisationswelt der früheren Arbeiterbewegung vernichtet und konkurrierende andere gesellschaftliche Organisationen wurden ausgeschaltet, abgesehen freilich von den kapitalistischen ökonomischen Verbänden der Wirtschaftsgewalt selbst, doch das sozialökonomische System der auf Machtausgleich angewiesenen formell privatwirtschaftlichen Monopole und Oligopole bestand fort.

Dieser Machtausgleich mußte durch staatliche Dezision bewirkt werden, wenn er nicht durch unmittelbaren Kompromiß vermittelt werden konnte. Die Differenzen der Monopole und Oligopole untereinander, aber auch die Sonderinteressen anderer gesellschaftlicher Gruppen drückten sich nunmehr in den Gefügen der verwandelten staatlichen Struktur und der faschistischen Parteiorganisationssysteme selbst aus. Sie waren damit zwar der öffentlichen Diskussion entzogen und für den außenstehenden Beobachter nicht mehr offenkundig, aber – wie jede neuere Untersuchung des italienischen faschistischen Systems oder des deutschen nationalsozialistischen Systems belegt – ständig vorhanden und wirksam. Der rechtsstaatlich nicht mehr normierte Kampf divergenter Interessen wurde dadurch in einen permanenten untergründigen Konkurrenzkampf von Cliquen transformiert, ohne seine reale Bedeutung zu verlieren. Das hatte jedoch zur Folge, daß um dieser Unerkennbarkeit der Zusammenhänge für Außenstehende willen die demokratische Bildung von Bewußtsein bei den Massen der Unterklassen ausgeschaltet wurde – wenn man von der illegalen Tätigkeit der antifaschistischen Opposition absieht. So schien das gesellschaftliche Gesamtsystem in stärkerem Maße abgesichert zu sein, als das in der vorigen Entwicklungsphase parlamentarisch-demokratischer Formierung des bürgerlichen Staates der Fall war. Aus diesem Grunde blieben in den faschistischen Staaten sogar diejenigen Teile der Oberklassen, die durch Einzelentscheidungen der politischen Gewalt benachteiligt wurden, bis zur jeweiligen totalen Katastrophe im Krieg oder doch mindestens bis zur drohenden Katastrophe des Krieges grundsätzlich Anhänger des neuen politischen Systems.«

 

Geht man von diesen Überlegungen Abendroths aus und überprüft man die Quellenmaterialien unter diesem Aspekt, so läßt sich die Struktur des faschistischen Herrschaftssystems und des Bündnisses, auf dem es beruhte, wohl doch genauer kennzeichnen, als es die bisherigen Kontroversen erscheinen lassen. Dies ist im Rahmen dieses Buches natürlich nur als Skizze möglich; und zweifellos wird diese Kontroverse den wissenschaftlichen Meinungsstreit der nächsten Zeit noch wesentlich bestimmen. Methodisch besonders wichtig ist dabei, daß die Frage der Inhalte und Ziele faschistischer Politik sorgfältig unterschieden wird von der Frage der Herrschaftsorganisation, also von der Frage, mit Hilfe welcher Techniken, Institutionen und Organisationsformen diese Inhalte durchgesetzt werden.

Geht man das Problem in dieser Weise an, so läßt sich den Quellen folgende Bündnisstruktur entnehmen: Die Inhalte faschistischer Politik entsprechen im großen und ganzen großkapitalistischen Interessen. Dies gilt für die Zerschlagung der Arbeiterbewegung wie für die Auflösung der mittelständischen Interessenorganisationen, für die Organisation der Betriebe und der Wirtschaft wie für die Verwertung der inländischen und ausländischen Arbeitskräfte, für die Höhe der Profite wie für die Vergabe der Staatsaufträge; und es gilt vor allem für die Vorbereitung und Durchführung des gewaltigen Expansionsprogramms mit dem Ziel der Beherrschung und Ausplünderung Europas.

Wie dies alles in politische Praxis umgesetzt wurde, wie dabei die faschistische Partei- und Staatsführung mitgewirkt hat, daß diese Politik durch die faschistische Ideologie vorbereitet, unterstützt und in den Massen verankert wurde, daß auch die faschistische Führung selbst diese Politik als ihre eigene verstanden und deshalb mit allen Kräften vorangetrieben hat, ist eine andere Frage, die ebenfalls sehr wesentlich ist, aber von der Frage der Inhalte faschistischer Politik unterschieden werden muß. Sie zielt nicht auf die sozialen Inhalte und Interessen, sondern auf die Organisationsform und auf die politische und ideologische Vorbereitung und Durchsetzung. In diesem Kontext muß dann auch noch genauer untersucht werden, wie der staatliche und soziale Herrschaftsapparat aufgebaut war, in welcher Weise die Vertreter der großen Industrie- und Bankkonzerne im politischen Machtapparat repräsentiert waren und dort mit dem traditionellen Staatsapparat und den Führungsgruppen der faschistischen Partei zusammenwirkten, in welchen Institutionen und in welchem Grade sich die Machtgruppen der »Bündnispartner« miteinander verschmolzen bzw. miteinander konkurrierten. Dies ist aber, um das noch einmal ganz deutlich zu sagen, eine andere Frage als die nach den realen Inhalten und sozialen Interessen der faschistischen Politik.

Stellt man in diesem Rahmen die Frage nach den Interessen der faschistischen Partei und ihrer Führungsgruppen, so sind diese nicht in Gestalt von mittelständischen, dem Großkapital entgegengesetzten Inhalten faschistischer Politik zu finden. Solche Inhalte gibt es nicht. Soweit einige Konzessionen an Teile der Kleineigentümer gemacht wurden (wie zum Beispiel an die größeren Bauern in Gestalt des Reichserbhofgesetzes), dienten sie zur funktionalen Sicherung und ideologischen Stabilisierung des Gesamtsystems. Auf Konzessionen solcher Art kann kein politisches System gänzlich verzichten, auch nicht der Faschismus. Sogar gegenüber der Arbeiterklasse, deren Organisationen und Interessenvertretungen mit besonderer Konsequenz und Brutalität zerschlagen wurden, hat der Faschismus eine Reihe solcher Konzessionen gemacht, um ein Minimum an Ruhe, Zufriedenheit und mindestens passiver Zustimmung zu sichern. Die Herrschenden waren sich klar darüber, daß ohne diese Voraussetzung das Hauptziel des Systems, der große Expansionskrieg, der den Massen ungeheure Opfer auferlegte, nicht ins Werk gesetzt werden konnte. Tim Mason hat in seiner großangelegten Untersuchung eine Fülle von Belegen erbracht, daß die Herrschenden genau überlegt haben, welche Konzessionen an die Arbeiterklasse notwendig sind, um die Absicherung des Systems und seiner Hauptziele zu gewährleisten. Besonders die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, als die »innere Front« sich allmählich zersetzte und damit die Expansionskraft des Systems bedrohte, nötigte die Herrschenden zu entsprechenden Vorbeugungsmaßnahmen – sowohl in Hinsicht auf das Ausmaß an Terror wie in Hinsicht auf soziale Konzessionen.

Von solchen Konzessionen zu schließen, daß der Faschismus wesentliche Interessen der Arbeiterklasse und der Mittelschichten zur Richtlinie seiner Politik gemacht habe, ginge also am wirklichen Charakter dieser Politik völlig vorbei. Diese Politik im Ernst als im Interesse der Arbeiterschaft und des Mittelstands und der gesamten »Volksgemeinschaft« aufzufassen, würde bedeuten, noch nachträglich der faschistischen Ideologie auf den Leim zu gehen und die Propaganda des Systems mit seiner Wirklichkeit zu verwechseln. Zu dieser Wirklichkeit gehörte ja auch wesentlich der ungeheure Terror, mit dem alle Versuche, eine Vertretung von Arbeiterinteressen oder Mittelstandsinteressen zu organisieren oder auch nur zu artikulieren, unterdrückt wurden. Die Zehntausende verhafteter und ermordeter Funktionäre der Arbeiterbewegung sprechen hier eine deutliche Sprache.

Wenn also von Interessen der faschistischen Partei und ihrer Führer im Bündnissystem der faschistischen Diktatur die Rede ist, so muß dies offensichtlich in einer anderen Weise verstanden werden. Die Führungsschichten dieser Partei bestanden zu einem beträchtlichen Teil aus sozial bedrohten, im Abstieg begriffenen, real bereits deklassierten oder gescheiterten Existenzen und Sozialgruppen. Für sie bedeutete die Errichtung der Diktatur die Chance, sich eine gesicherte Existenz und womöglich ein gewisses Maß an sozialen Privilegien zu verschaffen – sei es im Staatsapparat, sei es als Funktionäre einer der vielen faschistischen Massenorganisationen, sei es als Kleineigentümer durch Staatsaufträge usw. Soweit daraus Tendenzen entstanden, die sich strukturell gegen Interessen des Großkapitals richteten, wurden sie, wie oben gezeigt, 1934/35 energisch unterdrückt. Soweit daraus jedoch einfach Bestrebungen erwuchsen, sich gewisse Pfründe und Vergünstigungen zu verschaffen, sich zu bereichern, eine parasitäre Existenz innerhalb des gewaltig aufgeblähten Staats- und Parteiapparats zu sichern usw. wurden sie toleriert und sogar gefördert. Dies war sozusagen der politische und soziale Preis, der für die Herrschenden mit der spezifisch faschistischen Art der Herrschaftssicherung verbunden war.

Daraus ergaben sich natürlich allerlei Konkurrenzkämpfe zwischen dem etablierten Staatsapparat und den »Emporkömmlingen« der faschistischen Partei. Doch dabei ging es niemals um die grundsätzliche Richtung der faschistischen Politik. In den Quellen ist zwar bei den Vertretern des etablierten Staatsapparats, bei den hohen Beamten und Offizieren ein beträchtliches Maß an sozialer Verachtung gegenüber den »ordinären« und »plebejischen« Elementen der NSDAP und SA zu spüren – ebenso wie umgekehrt ein gewisses Mißtrauen und ein Gefühl der Minderwertigkeit der faschistischen Führer und Mitglieder gegenüber dem »satten« und abgesicherten Bürgertum -, doch hat dies alles nichts zu tun mit grundsätzlichen Differenzen über die Richtung der Politik des Systems.

Ein zweiter Bereich, in dem sich ein relatives Eigengewicht der faschistischen Partei und ihrer Führer im Bündnissystem des Faschismus manifestierte, ergab sich bereits aus dem Faktum der »Machtübertragung« an diese Partei. In keinem politischen System sind Ökonomie und Politik, ökonomisch herrschende Klasse und politisch Regierende identisch. Der Staat kann seine Aufgabe der Sicherung des sozialen Gesamtsystems überhaupt nur wahrnehmen, wenn er gegenüber allen ökonomischen Einzelinteressen eine relative Selbständigkeit besitzt. Dies ist im Faschismus im Prinzip nicht anders als in der parlamentarischen Demokratie.

Eine graduelle Differenz ergibt sich allerdings daraus, daß mit der Machtübertragung an die faschistische Partei und der Errichtung einer faschistischen Diktatur das Prinzip des relativ weiten und offenen Pluralismus verschiedener Kräfte mit der Chance des politischen Machtwechsels abgelöst wurde durch ein System, in welchem dauerhaft eine politische Kraft, nämlich die faschistische Partei, im Besitz der politischen und staatlichen Gewalt war und alle anderen politischen Kräfte terroristisch unterdrückt waren. Und eben diese faschistische Art der Herrschaftssicherung – nämlich die gewaltsam-terroristische Zerschlagung und Niederhaltung der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen – bedingte eine enorme Ausweitung des staatlichen Unterdrückungsapparats im Vergleich zur parlamentarischen Demokratie.

 

 

Dies alles hatte natürlich zur Konsequenz, daß die relative Selbständigkeit dieser Staatsgewalt größer war, zumal die reale Möglichkeit, einen politischen Machtwechsel herbeizuführen, ohne das soziale Gesamtsystem zu gefährden, stark verringert, ja weitgehend abgeschnitten war. Die ökonomisch Herrschenden waren auf diese faschistische Führung in einem viel höheren Maße »angewiesen«, als sie dies etwa im Fall der verschiedenen Regierungen der Weimarer Republik oder der Bundesrepublik waren. Alle diese Regierungen waren ohne größere Schwierigkeiten ersetzbar. Dies galt nicht für die faschistische Regierung. Dieses wechselseitige Aufeinanderangewiesensein ist es, was den Begriff des »Bündnisses« gerechtfertigt erscheinen läßt – ein Begriff, der im Fall von parlamentarischen Regierungen gänzlich verfehlt wäre.

Das System hatte mit der Errichtung der Diktatur 1933 sozusagen die Brücken hinter sich abgebrochen. Wie schwierig die Rückkehr zu »normalen« Verhältnissen des parlamentarischen Systems mit seiner Chance des politischen Machtwechsels ist und wie groß dabei die Gefahr der sozialen Alternativen anwachsen kann, haben 1943 Italien und in jüngster Zeit die Beispiele Portugal, Griechenland und Spanien gezeigt, obgleich diese Staaten keineswegs im gleichen Maße die Brücken hinter sich abgebrochen hatten. Für den deutschen Faschismus zeigt dies die Periode 1943 bis 1945, als erhebliche Teile der herrschenden Klasse die politischen Machthaber gern abgelöst hätten, doch einerseits die daraus resultierenden Gefahren einer Aktivierung der Massen und einer revolutionären Bedrohung fürchteten, andererseits vor dem Problem standen, gegenüber der seit 1933 und dann besonders im Krieg enorm ausgebauten staatlichen Gewaltmaschinerie, die 1933 den faschistischen Führern übertragen worden war, eigene politische Machtmittel zu mobilisieren. Die Schwächen und Widersprüche des Putschversuchs vom Juli 1944 erklären sich zu einem beträchtlichen Teil aus dieser Sachlage. […]

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