Nachdem Ende der 90er Jahre in der Schweiz Rechte immer organisierter auftraten, fand im Jahr 2000 der erste Antifaschistische Abendspaziergang organisiert vom Bündnis „Alle gegen Rechts“ in Bern statt. Zehn Jahre lang war dieses Event ein zentraler Ausdruck des antifaschistischen Kampfes in der Schweiz. Nach längerer Pause will die Antifa Bern an diese Tradition anknüpfen und erklärt im Interview mit Barrikade.info (schweizer Infoportal) warum das notwendig ist, mit welchen Nazis man damals konfrontiert war, was sich seitdem verändert hat und wie antifaschistische Arbeit heute aussehen muss:
Es gibt wohl kaum eine Gruppe in der Schweiz, welche sich seit so langer Zeit ununterbrochen mit der rechtsextremen Szene in der Schweiz auseinandergesetzt hat wie die Antifa Bern. Es bietet sich also an, ihnen in Anbetracht des bevorstehenden antifaschistischen Abendspaziergangs vom 22. Oktober in Bern ein paar Fragen zur extremen Rechten in der Schweiz zu stellen:
Eurer neuen Antifa-Revue #2 ist zu entnehmen, dass Neonazi-Schlägertrupps bereits in den 1980er Jahren in Schweizer Städten auftauchten. In den Jahren 1996/1997 konnte sich die rechtsextreme Szene dann stark ausbreiten. Für Linke und nicht schweizerisch Aussehende wurde es in dieser Zeit oft ungemütlich. Jedoch formierte sich in dieser Zeit auch antifaschistischer Widerstand. So fand beispielsweise im Jahr 2000 in Bern der erste vom Bündnis alle gegen Rechts organisierte antifaschistische Abendspaziergnag statt. Könnt ihr uns kurz beschreiben, wie wir uns die Situation damals vorstellen müssen? Wie viele Neonazis waren in dieser Zeit aktiv? Wie waren sie organisiert, wie traten sie in der Öffentlichkeit auf?
An der Situation in der Schweiz hat sich tatsächlich einiges geändert. Am auffälligsten ist wohl der Wandel der äusseren Erscheinung der Neonazis. Bis um die Jahrtausendwende traten viele auch in der Schweiz oft gut erkennbar als Nazi-Skins in Bomberjacken, Springerstiefeln (mit weissen Schnürsenkeln) und einer entsprechenden Frisur (Glatze oder Reneeschnitt) auf, szenetypische Klamottenmarken waren breit vertreten. Heute sind sie auf den ersten Blick oft kaum zu erkennen und orientieren sich eher am Look der „Autonomen Nationalist:innen“; Casual-Klamotten oder anderweitig spotliche Outfits. Früher wie heute gab/gibt es Neonazis, die lose oder gar nicht in Gruppen organisiert waren/sind, welche aber trotzdem immer wieder durch Gewalt aufgefallen sind oder an Veranstaltungen teilgenommen haben. Dies macht eine zahlenmässige Schätzung der Szene seit Jahren nicht ganz einfach. Mittlerweile sind lose pöbelnde und agierende Neonazis in der Schweiz eher selten geworden. Sobald sie in einer Gruppe aktiv sind, gelten gewisse Verhaltensregeln, die unorganisierten Personen haben durch die fehlenden offenen Strukturen einen Grossteil der Zusammengehörigkeit verloren. Die beiden grossen Neonazi-Netzwerke, die Hammerskins und Blood & Honour, sind jedoch schon lange in der Schweiz vertreten und die hiesigen Ableger hatten und haben international ein enormes Standing.
Die Schweizer Sektion der Hammerskins war gar die erste in Europa und bereitete der Vernetzung und Ausbreitung der Bruderschaft auf diesem Kontinent den Weg. Es zeigt sich auch, dass die als Bruderschaft organisierten Netzwerke trotz zahlreicher Veränderungen innerhalb der extremen Rechten immer noch als starke Kräfte dastehen. Auch andere Gruppen und Parteien, wie beispielsweise die PNOS oder verschiedene Kameradschaften, haben Personenkreise gebündelt und allmählich in „kanalisierte Bahnen“ gelenkt. Gerade in den 1990er Jahren war man an „typisch linken Orten“ nie sicher und stets auf einen allfälligen Angriff vorbereitet. Auch die Bewegung im Öffentlichen Raum (Strasse, insbesondere Bahnhöfe, Einkaufszentren, etc.) konnte gefährlich sein, sofern man als linke Person und/oder als „nicht schweizerisch aussehend“ zu erkennen war. Nicht selten kam es zu Überfällen, wobei es keine Rolle spielte, ob Tag oder Nacht war. Dies war wohl nicht zuletzt auch dem Umstand geschuldet, dass viele der Neonazis eben nicht in Gruppen organisiert waren und oft intuitiv gehandelt haben. Überfälle und Angriffe gehören leider noch immer nicht der Geschichte an, die öffentliche Präsenz eindeutiger Neonazis ist aber in – gerade in den späten 2000er Jahren – klar gesunken.
Ihr schreibt in der Revue, dass die Rechtsextremen ihren Zenit in den späten 2000er Jahren überschritten hätten und dass die extreme Rechte seit ungefähr 2009 nicht mehr zulegen konnte. Im Jahr 2010 fand schliesslich auch der zehnte und letzte vom Bündnis alle gegen Rechts organisierte antifaschistische Abendspaziergnag statt. Hat der antifaschistische Widerstand also sein Ziel erreicht und es gibt seit dann keine starke rechtsextreme Bewegung mehr in der Schweiz?
Das kann so nicht gesagt werden. Die extreme Rechte vernetzt sich noch immer über die Grenzen der Schweiz hinweg. Auch Verstrickungen und Finanzierungen der grossen Netzwerke oder auch mit dem Kern-Trio des NSU sprechen Bände. Womit die extreme Rechte sicher den Zenit erreicht hat, ist in Anbetracht öffentlicher Auftritte und der Akzeptanz an offiziellen Anlässen (Rütli, Sempach, Strassenpräsenz, etc.) zu verstehen.
Die Akteur:innen agierten eine Zeitlang versteckter und dadurch haben auch die wahrgenommenen Auftritte und Übergriffe abgenommen. Dies hat sich in den letzten beiden Jahren erneut geändert. Zudem hat sich in der Zwischenzeit mit der PNOS auch der parlamentarische Arm der Szene aufgelöst. In den letzten Jahren hat die extreme Rechte auch versucht, sich durch verschiedene niederschwelligere Formate neu zu erfinden und somit einfacher Nachwuchs zu rekrutieren. Festzuhalten bleibt, dass die Personen, die dieser menschenverachtenden Ideologie treu geblieben sind, beinahe ausnahmslos gefestigte Neonazis sind. Auch hat sich die politische Landschaft seither verändert und gewisse früher klar rechtsextreme Positionen sind gesellschaftlich akzeptabler
geworden. Antifaschistischer Widerstand ist und bleibt wichtig, das Ziel ist noch lange nicht erreicht.
Am 22. Oktober soll nun erneut ein antifaschistischer Abendspaziergang in Bern stattfinden. Rechtsextreme Anschläge wie beispielsweise 2019 in Halle, 2020 in Hanau oder in diesem Jahr in Oslo lassen erneut vermehrtem Aktivismus von Rechtsextremen in Europa vermuten. Wie sieht eurer Einschätzung nach die aktuelle Situation in er Schweiz aus? Bewegen wir uns erneut in Richtung der Zustände Ende der 1990er Jahre?
Auch in der Schweiz haben sich in den letzten Jahren Waffenfunde bei Neonazis gehäuft. Allgemein ist festzustellen, dass sich die extreme Rechte – in der Schweiz und anderswo – vermehrt auf den sogenannten „Tag X“ vorbereitet. Dazu gehören Prepper:innen-Vorkehrungen, aber auch die Anschaffung von Waffen. Auch die Spur des NSU-Unterstützer:innen-Umfelds führt in die Schweiz, ausserdem suchen immer wieder Neonazis, die in anderen Ländern Probleme haben, Zuflucht in der Schweiz. Gerade das Internet und die Sozialen Medien fungieren als schnelle Radikalisierungsmaschinen, es ist durchaus nicht auszuschliessen, dass dies über kurz oder lang auch in der Schweiz zu rechtsterroristischen Anschlägen führen kann.
Den Organisator:innen des antifaschistischen Abendspaziergangs vom 22. Oktober ist es wichtig, sich weiter zu entwickeln und aus gemachten Fehlern von früher zu lernen. Insbesondere soll das eigene Auftreten und der Umgang mit Diskriminierungsformen wie Sexismus, Rassismus, Homo- und Transfeindlichkeit innerhalb der Bewegung besser reflektiert werden. Die Demo am 22. Oktober soll möglichst zugänglich und breit abgestützt sein. Wie haben sich die Neonazis in der Schweiz in den letzten zehn Jahren verändert punkto Auftreten und Organisation?
Das äussere Erscheinungsbild klassischer Neonazis hat sich stark gewandelt. Durch die weniger martialischen Outfits sind die Neonazis auch äusserlich „salonfähiger“ geworden. Zudem haben auch Frauen in den letzten Jahren vermehrt sichtbare Rollen in wichtigen Funktionen eingenommen. Die Neonazi-Szene ist generell älter geworden und jüngere Rechtsextreme suchen sich neue Organisationsformen. Der allgemeine Trend zu Fitness und Outdoor hat auch vor der Naziszene keinen halt gemacht. So sind Kraft-und Kampfsport und das Wandern häufige Freizeitbeschäftigungen von Neonazis. Das Wandern kann als gemeinsames Erlebnis auch ideologisch aufgeladen werden, durch das Propagieren einer radikalen Männlichkeit und durch Phrasen von Heimatliebe und eines gesunden Körpers. Die dazu passenden Kleidungsstücke, mit schlichten und häufig unpolitischen Motiven werden von szeneeigenen Kleidermarken angeboten.
Die Möglichkeit der Organisierung übers Internet mit Gleichgesinnten aus der ganzen Welt, ohne je an rechten Events teilnehmen zu müssen, hat das öffentliche Agieren von Rechtsextremen enorm verändert.
Aus Erfahrungen von früher und aufgrund antifaschistischer Intervention, ist das Auftreten der Neonazis durchaus vorsichtiger und zurückhaltender geworden.
Auch während der Corona-Krise hat mensch vermehrt von rechtsextremistischen Tätigkeiten in der Schweiz mitbekommen. Wie haben Rechtsextreme aus eurer Sicht bei den Corona-Massnahmen-Gegner:innen agitiert und wie ist ihnen dies gelungen? Haben sie dadurch an Stärke gewonnen?
Rechtsextreme fühlen sich in der konservativ geprägten und von Verschwörungsideologien durchzogenen Corona-Massnahmen-Bewegung sehr wohl und konnten sich erfolgreich einbringen, nicht zuletzt durch die fehlende Abgrenzung anderer Teilnehmenden den extremen Rechten gegenüber. So gelang es der Gruppe Junge Tat eine Covid-Demo anzuführen und die Demonstrierenden liefen ihnen hinterher. Gross Leute in bestehende Neonazi-Strukturen einzubinden ist nicht gelungen, jedoch trugen sie durch Stimmungsmache und dem Verbreiten von meist antisemitischen Theorien mitunter zu einer Radikalisierung eines Teils der Bewegung bei. Aus diesem ist nun ein rechts-konservatives Netzwerk entstanden, welches sich in andere Themen einzubringen versucht. So sind etwa Antifeminismus, Kinderschutz und Bildung drei der Agierungsfelder dieser Bewegung. Zudem werden neue Strukturen aufgebaut, welche staatliche Angebote ersetzen sollen. So beispielsweise eigene Schulen nach der Anastasia-Lehre. Diese Entwicklung ist äusserst gefährlich und muss genau beobachtet werden.
Ihr beschreibt, dass diverse Rechtsextreme, wie beispielsweise das ehemalige PNOS-Mitglied Thomas Schori, in der SVP Fuss fassen konnten. Wie schätzt ihr die Situation heute ein, wie viele Rechtsextreme sind in den Reihen der SVP aktiv und inwiefern können sie dort ihre rechtsradikalen Ideen schüren?
Durch die SVP sind rassistische, xenophobe und sonstige diskriminierende Positionen salonfähig geworden und werden nicht nur zur öffentlichen Provokation verwendet. So spricht die SVP Leute von ganz rechtsaussen an, welche dann auch die Partei unterstützen, sei dies als aktives Mitglied oder an der Urne. Die SVP konnte mit ihrer Politik die Wähler:innen rechts von ihr zu sich ziehen und grub den – mittlerweile teilweise aufgelösten – rechtsextremen Parteien ,wie der Partei National Orientierter Schweizer (PNOS), den Schweizer Demokraten (SD) oder den Mouvement Citoyen Genevois, den Nährboden weg. In der Jungpartei der SVP, der JSVP, sind die Positionen noch radikaler und damit ist auch ein gewisses Auffangbecken für rechtsextrem denkende Jugendliche gegeben. So waren beispielsweise fast alle Mitglieder der Westschweizer Neonazigruppe Militants Suisse Teil der Jeunes UDC Valais Romand.
Zum Schluss: Teilt ihr die Einschätzung der Organisator:innen des antifaschistischen Abendspaziergangs vom 22. Oktober, dass es an der Zeit ist, den antifaschistischen Widerstand erneut zu intensivieren? Und wie muss aus eurer Sicht antifaschistischer Widerstand im Jahr 2022 aussehen?
Diese Einschätzung teilen wir unbedingt. Neonazistische Inhalte wurden – teilweise auch unterschwellig – bis weit in die Gesellschaft hineingetragen. Gerade die letzten beiden Jahre haben gezeigt, mit wie wenig Widerstand Neonazis zu rechnen haben, wenn sie sich mit gemeinsamen Anliegen an Aktionen und Demos anderer Gruppen beteiligen (Stichwort: Massnahmen-Demos). Wir haben kein Patentrezept, wie antifaschistischer Widerstand aussieht. Dieser muss den Gegebenheiten vielmehr laufend angepasst und aktualisiert werden.
Die im Interview erwähnte Antifa Revue #2 findet ihr hier und weitere Informationen gibt’s unter https://www.antifa.ch/