Geschichte der antifaschistischen Gegenproteste in Budapest

Die antifaschistische Bewegung in Ungarn entstand 1989/90, zeitgleich mit der Etablierung der liberalen Demokratie. Nach den ersten Mehrparteienwahlen 1990 wurde 1991 die bürgerliche Volksfront Demokratische Charta gegründet, um sich den neofaschistischen Tendenzen der nationalkonservativen Regierung entgegenzustellen. 1992 konnte sie 80.000 antifaschistische Demonstrant_innen organisieren.

Zur gleichen Zeit war auch eine autonome Gruppe namens „Antifasiszta Akció“ (Antifaschistische Aktion) aktiv, die Straßenpropaganda, Zeitungspublikationen und Demonstrationen durchführte. Nach ein paar Jahren hörten diese Organisationen auf zu existieren.

Das Erstarken der faschistischen Bewegungen erfolgte immer dann, wenn sie von der Regierung oder von großen, rechtsgerichteten Parteien unterstützt wurden. Nachdem Orbán 2010 an die Macht kam, baute die Fidesz nicht nur eine loyale faschistische Partei auf – Jobbik, und nach deren Zerschlagung die Mi-Hazánk-Partei – sondern nahm immer mehr neofaschistische Elemente in ihre Politik auf.

Anfang der 1990er Jahre gewann die Neonazi-Bewegung als Erbe ehemaliger ungarischer Nazis, die nach 1945 ausgewandert waren, an Stärke. Der Staat löste von Zeit zu Zeit führende Neonazi-Gruppen auf, aber die neofaschistischen Aktivitäten gingen weiter.

1997 organisierte die damals wichtigste Neonazigruppe, die „Magyar Nemzeti Arcvonal“ (Ungarische Nationale Front), die erste Demonstration zum „Tag der Ehre“ mit der Absicht, eine Nazi-Mythologie zu schaffen. Rund 200 ungarische Neonazis nahmen an der Veranstaltung auf der Budaer Burg teil. 1998 waren unter den 400 Neonazis erstmals internationale Teilnehmende angereist. 1999 fand die Veranstaltung erneut auf der Budaer Burg statt. Am Abend kam es bei einem Rechtsrock-Konzerts im „Viking Club“ zu Zusammenstößen mit der Polizei. Das führte dazu, dass der „Tag der Ehre“ im folgenden Jahr verboten wurde. Als Reaktion darauf begannen die Neonazis mit der Organisation einer Wandertour, die nicht polizeilich angemeldet werden muss und daher nicht verboten werden kann.

Die Presse berichtete über die Neonazi-Veranstaltungen, zu denen es noch keine organisierten antifaschistischen Gegenproteste gab. 2003 fand wieder eine Neonazi-Veranstaltung zum „Tag der Ehre“ statt, diesmal organisiert von „Blood & Honour“. Auf dem Kossuth-Platz versammelten sich 100 Neonazis, aber dank verschiedener zivilgesellschaftlicher Mobilisierungen auch Hunderte von Gegendemonstrant_innen. Dabei handelte es sich jedoch lediglich um eine temporäre Demonstration und nicht um organisierten Antifaschismus. In den darauffolgenden Jahren fand der „Tag der Ehre“ meist auf dem Heldenplatz mit circa 1.000 bis 1.500 Teilnehmenden statt, die meist aus dem Ausland angereist waren. 2009 sollte dieser erneut Schauplatz einer Neonazi-Demonstration werden. Autonome Antifaschist_innen organsierten eine Gegendemonstration, an der etwa fünfzig Personen teilnahmen.

Seit 2009 finden regelmäßig antifaschistische Gegendemonstrationen statt: Entweder am Kundgebungsort der Neonazis oder unabhängig davon in der Innenstadt. Auch in den beiden Jahren, in denen die Neonazis nur auf Privatgrundstücken außerhalb der Stadt demonstrieren konnten, gab es Gegenproteste. Im Jahr 2013 versammelten sich 150 Neonazis auf den Budaer Hügeln (Normafa) und 400 Neonazis auf dem Vérmező-Platz in der Nähe der Budaer Burg. Etwa fünfzig Antifaschist_innen demonstrieren am Neonazi-­Treffpunkt auf dem Széll-Kálmán-Platz. Als Neonazis 2014 abermals an der Budaer Burg aufmarschierten, organisierte der „Verband der ungarischen Widerstandskämpfer und Antifaschisten“ (MEASZ) eine Demonstration zur Burg. Die circa 300 Gegendemonstrant_innen wurden jedoch von der Polizei mehrere hundert Meter von den Neonazis entfernt aufgehalten. Ein paar Dutzend Antifaschist_innen versuchten dennoch, sich den Neonazis zu nähern, konnten aber von der Polizei zurückgedrängt werden. 2015 fanden wieder zwei Neonazi-Demonstrationen im Abstand von einer Woche an versteckten Orten statt. Dagegen protestierteten Antifaschist*innen.

2016 versammelten sich die Neonazis auf der Budaer Burg, diesmal wieder legal. Die Gegendemonstration startete am Széll Kálmán Platz mit circa einhundertfünfzig autonomen Antifaschist_innen. 2017 befinden sich nur circa ein Dutzend Gegendemonstrant_innen an der Burg. In der Zwischenzeit ist die als unpolitisches Event getarnte Neonazi-Gedenktour auf regelmäßige 2.000 bis 3.000 Teilnehmende gewachsen.

Seit 2018 wird der „Tag der Ehre“ von der „Legion Hungaria“ organisiert. Die Gruppe mit etwa 200 Mitgliedern ist nach wie vor die dynamischste Neonazi-Organisation mit guten internationalen Verbindungen. Seit diesem Jahr findet jährlich eine autonome antifaschistische Gegendemonstration statt. 2018 sind 50 Personen auf der Burg. 2019 demonstrierten die Neonazis in einem Park (Városmajor) nahe der Burg. Die Gegendemonstration bestand aus etwa 200 Personen auf dem Széll-Kálmán-Platz, unterstützt von einer Studentenorganisation. Die Polizei verhinderte, dass die Neonazis sich der Gegendemonstration näherten. Im Jahr 2020 beschlagnahmte die Bezirks­regierung die Budaer Burg, sodass sich die Neonazis wieder im Park in Városmajor versammeln mussten. Die circa fünfhundert Neonazis sind dort von mindestens ebenso vielen Antifaschist_innen umzingelt. Die Polizei kann die antifaschistische Gegendemonstrantion nur mit erheblicher Gewalt auf Abstand halten, auch ausländische Antifaschist_innen sind stark vertreten.

Nach langer Zeit berichten die liberalen Mainstream-Medien wieder über die Demonstrationen. 2022 hat die Polizei eine Begründung für das Verbot der Neonazikundgebung gefunden. In den vorherigen Jahren wurde ein polizeiliches Verbot von den Gerichten meist wieder aufgehoben. Ermöglicht wird dies durch eine Gesetzesänderung im Jahr 2018, die auch das Verbot von Demonstrationen zu anderen Themen erleichtert. Trotz Verbots marschieren die Neonazis mit 200 Teilnehmenden ungehindert zur Burg. An der antifaschistischen Gegendemonstration beteiligen sich circa 150 Personen.

2023 wird die Neonazi-Demonstration wieder verboten. Dennoch darf sie ungehindert im Wald nahe der Stadt stattfinden. Inzwischen demonstrieren circa 250 Antifaschist_innen auf der Budaer Burg. 2024: Da die Neonazi-Demonstration verboten ist, ist das Hauptziel der antifaschistischen Gegendemonstration nun die Neonazi-Gedenkwanderung mit rund 3.000 Teilnehmenden. Ziel der antifaschistischen Gegenpro­teste ist es, die Öffentlichkeit auf die Neonazi-­Organisationen aufmerksam zu machen. Nach Jahrzehnten ist dies gelungen und zeigt der Gesellschaft, dass es antifaschistischen Widerstand gibt.

Wenn nur zwei oder drei Dutzend Antifaschist_innen an den Gegenprotesten teilnehmen, ist natürlich erhöhte Vorsicht geboten und eine gemeinsame An-und Abreise empfohlen. Dennoch kam es in einzelnen Fällen auch zu Angriffen von Neonazis auf kleinere Gruppen von Antifaschist_innen. Da die Polizei die Antifaschist_innen nicht daran hinderte, sich der Neonazi-Demonstration zu nähern, gelang es selbst kleineren Gruppen, die Neonazis zu stören.

Widerstand macht immer Sinn

In den Jahren, in denen die Organisator_innen der Gegenproteste den Organisationskreis bewusst erweitert haben, konnten mehr Menschen mobilisiert werden – und das ist seit 2019 kontinuierlich der Fall. Für ungarische Verhältnisse ist eine antifaschistische Demonstration mit circa 300 Personen wegen der Besonderheit des Themas eine nationale Nachricht. Und für die Teilnehmenden der Demonstration bedeutet bereits eine Menschenmenge von einigen hundert Personen ein echtes Gefühl der Sicherheit.

Derzeit umfasst die antifaschistische Bewegung nur die radikaleren linken Gruppen und eine kleine Minderheit von Menschenrechts-Gruppen. Beispiele für einen zivilen Antifaschismus gibt es nur wenige. In der offiziellen, oppositionellen Politik sind antifaschistische Manifestationen die Ausnahme, und es gibt kein ideologisches Konzept dahinter.

Die ungarische Gesellschaft ist durch politische Passivität und einen geringen antifaschistischen Bewusstsein gekennzeichnet, so dass sich keine Massenbewegung herausgebildet hat. Aber die Öffentlichkeit hat den Faschismus als Problem erkannt. Die hohe internationale Aufmerksamkeit für die Neonazi-Demonstration hat sicherlich eine Rolle für das offizielle Verbot gespielt. Das Problem ist damit nicht gelöst, denn der (Neonazi-)Geschichtsrevisionismus ist Teil der nationalen Politik der Regierung. Aber der antifaschistische Widerstand zwingt die Regierung, ihre Absichten zu verbergen oder sogar zu verfeinern.

Die Gesellschaft kann erkennen, dass der Faschismus nicht akzeptiert werden muss, sondern bekämpft werden kann.

Dieser Artikel stammt vom Antifaschistischen Info-Blatt. Schaut gerne mal dort vorbei! Dort gibt es immer wieder gute Rechercheartikel über die rechte Szene, aber auch politische Analysen und Berichte rund um das Thema Anitfa und darüber hinaus.