Für Silvio Meier und alle Opfer rechter Gewalt

Silvio Meier war späten 1980ern und frühen 90er Jahren in der linken, selbstorganisierten Bewegungen Ostberlins aktiv. Er war Mitbegründer der Umweltbibliothek, Teil der DDR-Opposition und hat 1987 auch das »Element of Crime«-Konzert 1987 in der Zionskirche mitorganisiert, welches an diesem Abend Ziel eines Naziangriffes wurde. Ende Dezember 1989 besetzte er mit FreundInnen die damals leerstehende Schreinerstraße 47 in Berlin-Friedrichshain. Die besetzten Häuser aber auch linke Menschen generell waren in dieser Zeit häufigen Angriffen von Neonazis ausgesetzt. Gegen den stärker werdenden Rassismus und Faschismus setzten sich Silvio und seine FreundInnen zur wehr. Dies kostetet ihn am 21. November 1992 sein Leben.

Am Abend des 21.11.1992 war Silvio Meier mit drei Freund*innen auf dem Weg zu einer Party. Auf dem U-Bahnhof Samariterstraße trafen sie auf eine Gruppe junger Neonazis, von denen einige rechte Aufnäher trugen. Silvio Meier und seine Freund*innen stellten sie zur Rede und rissen einem der Faschos seinen »ich bins stolz ein Deutscher zu sein«-Aufnäher von der Jacke. Durch den Streit hatten sie die letzte U-Bahn verpasst. Als sie den U-Bahnhof wieder verlassen wollten, wurden sie auf der Mittelebene von den Neonazis abgepasst. Diese stachen auf Silvio und seine Freund*innen ein. Silvio starb kurze Zeit später. Bereits am Tag nach der Tat richteten seine Freund*innen eine Mahnwache am U-Bahnhof Samariter Straße ein. Seit mehr als zehn Jahren erinnert auch eine Straße an Silvio Meier und ein Preis für Zivilcourage trägt seinen Namen. Seit Silvios Tod erinnert im U-Bahnhof eine Gedenktafel an ihn. Sie musste immer wieder gegen die Schändung von Nazis oder Demontagen durch die BVG verteidigt werden. Die Tafel gibt es heute noch und sie erinnert an Silvio – so wie die Mahnwache, die jedes Jahr an seinem Todestag dort stattfindet. In diesem Jahr wollen wir nicht nur den Ermordeten gedenken, sondern legen einen Fokus auf den Widerstand gegen die Faschisten. Die Gewaltwelle auf den Straßen und die Verschärfung des Asylgesetztes in den 90ern führten dazu dass viele junge Menschen sich dazu entschieden keine wehrlosen Opfer mehr zu sein und sich den Nazis entgegenzustellen. Wir wollen diesen Erzählungen und Erfahrungen Raum geben und verbinden diese mit Beiträgen aktiver antifaschistischer Jugendgruppen, die aus ihrer alltäglichen Praxis berichten. Denn dieser Austausch und Zusammenschluss zwischen Antifaschist*innen ist gerade jetzt nötiger denn je.


Die Silvio Meier-Gedenk AG organisiert im Rahmen von „Niemand ist vergessen“ jährlich die Demonstration in Erinnerung an Silvio. Rund um den Todestag finden dieses Jahr zudem mehrere Veranstaltungen statt, denn die Gefahr, die von Rechts ausgeht ist wieder höchst aktuell. Alle Informationen und Hintergründe findet ihr unter berlin.niemandistvergessen.net/. Zu Silvios Tod und den Umständen spiegeln wir im folgenden ein Interview aus dem Antifaschistischen Infoblatt aus dieser Zeit, ein weiteres Interview wollen wir euch nicht vorenthalten, weil darin Ekke, ein Freund und Begleiter von Silvio, nach 10 Jahren auf den Mord und die Arbeit dazu zurückblickt und einige Schlüsse zieht, die auch für uns heute Anregung sein können:

Interview zum Mord an Silvio Meier

aus: AIB 21 – 1.1993 | 17.6.1993  – Zeitung telegraph

Wir veröffentlichen hier Auszüge aus einem Interview, welches Wolfgang Rüddenklau für die Zeitschrift „telegraph“ Anfang Dezember 1992 mit einem der Beteiligten gemacht hat.

telegraph: Wieso habt Ihr nicht anders reagiert? Wart Ihr geschockt, als sie Euch dort mit Messern empfingen?

Jörn F.: Wir haben nicht angenommen, daß die noch oben stehen. Ich habe auf der Treppe irgendwie gehört, daß oben einer fragte »Gehen wir runter?«. Die hatten sich oben formiert. Bei zweien, die an der Wand standen, habe ich gesehen, daß sie ein Messer bereithielten. Der Rest ging sehr schnell. Gesehen habe ich eigenttich nur, was mit Ekke passiert ist. Zwei oder drei haben sich mit ihm gekampelt, während einer von hinten zugestochen hat.

telegraph: Wie Silvio umgekommen ist, hast Du nicht gesehen?

Jörn F.: Nein, das habe ich nicht gesehen, Ekke auch nicht was Christine gesehen hat, weiß ich nicht. Das geschah an einem anderen Platz. Es ging hin und her, es geschah an vielen Punkten, ich selbst wurde an der Stirn verletzt, in die Seite gestochen und danach zusammengetreten, Silvio lag an dar Treppe zum U- Bahnhof.

telegraph: Es gibt unterschiedliche Darstellungen darüber, wann die Polizei eingetroffen ist. Von der Polizei selbst, die angibt zwölf Minuten später erschienen zu sein bis zu Aussagen, daß sie erst eine Stunde später ankam.

Jörn F.; Ich hatte kein Zeitgefühl mehr. Ich hatte einen Schock und bin irgendwie umhergerannt. Es könnren schon zwölf Minuten gewesen sein, eine Stunde erscheint mir zu lang. Die ersten, die gekommen sind, waren meiner Erinnerung nach Wachschutzleute. Die standent zu zweit zehn oder zwanzig Meter entfernt und beschäftigten sich damit, ihren Hund zu beruhigen, statt Erste Hilfe zu leisten. Ich weiß gar nicht, wozu diese Leute da sind, außer zum Verprügeln von wehrlosen Betrunkenen. Dann kamen uniformierte Polizisten die Treppe runter, wahrscheinlich eine normale Wannenbesatzung. Die leisteten aber auch keine Erste Hilfe, jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern. Ich weiß noch, daß sie mit Notizblöcken herumgerannt sind und irgendwelche beknackten Fragen stellten. Ich bin dann ausgerastet, als sie den röchelnden Ekke fragen wollten. Irgendwann später erst kamen Feuerwehr und Ärzte. Erst durch die sind wir medizinisch versorgt worden. Kurz nach den uniformierten Polizisten kamen dann noch zwei Zivilpolizisten mit gezogenen Knarren die Treppe herunter und guckten, ob sie etwas schießen können. Dann zerrten  sie an Christine rum und wollten von ihr Aussagen haben (…)

telegraph: Wollten Euch diese Typen wirklich töten?

Jörn F.: Ich denke, sie wollten uns töten. Ich glaube nicht, daß sie einfach so ausgetickt sind, sondern da stand eine ganze Menge Berechnung dahinter. Die Ärzte haben ausgesagt, daß die Messerstiche ziemtich professionell waren, nicht irgendwelche Affektstiche. Die Leute müssen das schon geübt haben. Sie haben Stechen und Schneiden kombiniert. Ja, ich bin mir sicher, daß sie uns umbringen wollten. Sie standen schon mit gezogenen Messern da, als wir hochkamen. Und außerdem, wenn man jemanden Stiche in den Oberkörper verpaßt, kann man wohl sicher sein, daß der stirbt. Ich hatte den Eindruck, daß die beiden, die mit dem Messer zugestochen haben, uns ziemlich durchdacht abgestochen haben.

telegraph: Welchen Eindruck hattest Du im Krankenhaus vom Vorgehen der Polizei …

Jörn F.: Die ersten Vernehmungen wurde mit mir zwei bis drei Stunden nachdem ich zusammengeflickt worden war gernacht. Ich war immer noch ziemlich fertig. Da wurde mir schon zum ersten Mal mit Beugehaft gedroht. Ich hatte den Eindruck, daß sie von Anfang an parteiisch waren.

telegraph: Es ging ihnen darum, die Politik herauszuhalten?

Jörn F.: Bei der dritten Vernehmung ging es ausschließlich darum. Vor allem wollten sie aus der Welt schaffen, daß es sich um Rechtsradikale handelt. Da haben sie alles drangesetzt bis zu Lügen. Sie haben mir gegenüber behauptet daß Ekke gesagt hätte, daß es keine Rechtsradikalen waren, was natürlich nicht stimmte. Dann haben sie versucht, die Zwischenzeit zwischen der Kampelei und der Messerstecherei aus der Welt zu schaffen, um zu konstruieren, daß die sich verteidigt hätten. Von meinen Aussagen sind keine Protokolle angefertigt worden, die Polizisten haeben sich höchstens mal ein paar Stichpunkte gemacht. Ich habe beispielsweise das Messer genau beschrieben. Das ist einfach nicht zur Kenntnis genommen worden. (…)

telegraph: Was sind für Dich die Konsequenzen aus dem, was geschehen ist? Was kann man gegen derartige Überfälle tun?

Jörn F.: Die Konsequenz für jedeN sollte sein, noch mehr auf Nazis zu achten und sich noch mehr mit ihnen auseinanderzusetzen, jedeR auf seine Weise. Auf jeden Fall sollte sich keineR einschüchtern lassen, weil sie genau das wollen. Treffen kann es jedeN und überall.


»Solidarität macht Mut«

Aus: AIB 57 – 3.2002 | 13.10.2002 

Am 21. November 1992 wurde der damals 27jährige Silvio Meier im Ostberliner U-Bahnhof Samariterstraße von Neonazis ermordet. Zwei von Silvios Freunden wurden schwer verletzt. In der Zeit nach der »Wiedervereinigung« bis Ende 1992 starben über 60 Menschen, weil sie nicht in das faschistische Weltbild ihrer Mörder passten. Eine Nacht nach Silvios Tod starben bei einem rassistischen Brandanschlag in Mölln drei TürkInnen. Zum 10. Jahrestag haben wir Ekke, einen Freund von Silvio, um einen Rückblick gebeten.

AIB: Wie würdest Du die Zeit Anfang der Neunziger beschreiben, als der Mord an Silvio geschah?

Ekke: Ausgangspunkt für die meisten von uns war ja »die Wende«, die als politischer Umschwung für uns damals ziemlich wichtig war. Wir waren jung, sind in der Zeit politisiert worden und haben dann festgestellt, dass mit 1989 auch die Aktivitäten von Nazis und Rassisten zunahmen und haben uns dagegen engagiert. Viele von uns sind durch diese neue Form der Gewalt politisiert worden. Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda sind die Ereignisse, die Art und Weise, wie sich uns die Realität damals dargestellt hat, also extreme Formen von rassistischer Nazigewalt. In der Situation wollten wir uns als Linke verhalten. Das war natürlich nicht besonders spaßig, denn die Überfälle waren auf eine Art gewalttätig, dass man sein Leben riskiert hat, wenn man sich dagegen engagierte.

AIB: Wie würdet Ihr Eure damalige Haltung Nazis gegenüber beschreiben?

Ekke: Wenn ich mich erinnere, wie die frühen Neunziger für mich waren, dann hat es unter uns Diskussionen gegeben, wie man überhaupt auf so eine Form von Gewalt reagiert. Da gab es zwei unterschiedliche Ansichten: Die einen haben gemeint, man würde so wie die Nazis werden, wenn man ihnen militant entgegen tritt. Die andere Seite meinte: Die einzige Möglichkeit, sich die Räume, in denen man überhaupt noch politisch agieren kann, wieder zu erkämpfen, ist, wenn man sie auch militant zurückdrängt. Die Erfahrungen, die ich in den Jahren gemacht habe, haben mich dazu gebracht, eher im Sinne der zweiten Variante zu handeln. Die Haltung, nicht auch militant gegen die Bedrohung vorzugehen, war hilflos und nützte nichts. Im Gegenteil: Sie hat nur dazu geführt, dass man vor allem in Kleinstädten noch stärker isoliert war und am Ende vor der Wahl stand, wegzuziehen oder es hinzunehmen, dass sie einen nach dem anderen zusammenschlagen.

AIB: Dann kam es zu dieser Situation am U-Bahnhof Samariterstrasse in Berlin Friedrichshain, in der Silvio ums Leben kam. Wie wurde darauf reagiert, sowohl von der Antifabewegung als auch von staatlicher Seite?

Ekke: Was ich vom Krankenhaus aus mitbekommen habe an Reaktionen von Antifas und Linken hat mir viel Mut und Kraft gegeben. Aus Solidarität für die Leute, die von der Gewalttat betroffen waren, wurde Geld gesammelt, die Überlebenden des Angriffs bekamen viel Besuch im Krankenhaus und auch danach hat man ihnen geholfen. Es gab nicht nur sehr viele Demonstrationen, an denen sich wirklich viele Leute beteiligten, denen es ein Anliegen war, gegen diese Zustände auf die Strasse zu gehen. Kurz darauf ist auch ein Brandanschlag auf den Nazijugendtreff »Judith Auer Club« verübt worden. Man kann zwar unterschiedlicher Ansicht über den Nutzen des Anschlags sein, aber als Zeichen ist er von allen verstanden worden. Dass nämlich Orte, an denen sich Nazis sammeln, um von dort aus loszuziehen und Leute totzuschlagen, nicht geduldet werden. Das war eine eindeutige Reaktion, und meiner Meinung nach richtig.

Die Polizei tat alles, um den Mord zu entpolitisieren. Die damals gängige These war, dass es verwirrte Einzeltäter seien, die Ausländer, Linke oder Punker totschlagen. Meistens kam noch dazu, dass die Täter ja eigentlich nur provoziert würden, weil der Ausländer eben Ausländer ist und auch so aussieht. Beziehungsweise weil ein Linker den Nazi zum Angriff provoziert. Ähnlich entpolitisierend sind sie in Bezug auf Silvio auch vorgegangen: Polizisten kamen ins Krankenhaus und haben einen Freund, der auch verletzt wurde, und mich dazu gedrängt, derartig entpolitisierende Aussagen zu machen. Als sie die gewünschten Statements nicht bekamen, haben sie die Version der Nazis über den Tathergang als die Richtige verbreitet: Silvio sei selbst Schuld gewesen, er wäre mit seinem eigenen Messer ermordet worden und vorher wären wir auf die Nazis losgegangen. Das war schlimmster Schwachsinn. Geglaubt hat es ihnen aber ohnehin keiner.

AIB: Wie hat Euch das Geschehen geprägt?

Ekke: Geprägt hat es die Leute, die mit Silvio zu tun hatten, alle. Für diejenigen, die mit Silvio zusammengewohnt haben oder mit ihm zu tun hatten, war sein Tod natürlich ein schlimmer Einschnitt, der weit ins Persönliche reingereicht hat. Bei einigen hat es dazu geführt, dass sie sich sehr lange und intensiv mit dem Thema beschäftigt haben. Ich habe ernsthaft mit Leuten angefangen, darüber zu diskutieren, was man tun kann. Dann habe ich auch versucht, mich dementsprechend zu verhalten. Ich habe mich danach politisch organisiert und versucht,  das, was ich kann, zu tun, damit sich die Zustände ändern.

AIB: Würdest Du sagen, dass Du jetzt anders an ähnliche Situationen rangehst?

Ekke: Wir wollten damals in die Disko zum Tanzen und waren zu viert unterwegs – Silvio, noch ein Freund, eine Freundin und ich. Wir sind in den U-Bahnhof reingekommen, als uns ein Pulk von Jungnazis entgegenkam. Einer von denen hatte eben einen Aufnäher, der ihm abgerissen wurde. Danach sind wir in den U-Bahnhof runtergegangen, ohne dass die Nazis weiter ein großes Theater gemacht hätten. Die letzte U-Bahn war leider gerade weggefahren, und wir sind wieder die Ausgangstreppe hochgegangen. Da standen die Nazis schon oben mit einem Messer und haben uns abgestochen. Silvio ist gleich dort gestorben, und wir anderen kamen verletzt ins Krankenhaus. Ich habe mir danach persönlich den Vorwurf gemacht, in so eine Auseinandersetzung reingegangen zu sein und nicht damit zu rechnen, dass die Nazis bewaffnet sind. Das war ein ernsthafter Fehler. Im allgemeinen versuche ich heute, Situationen zu vermeiden, die ich nicht beherrschen kann. Wenn man so Nazis sieht, dann überlegt man sich das zweimal: Habe ich die Situation im Griff oder nicht?

AIB: Gab es danach einen Prozess?

Ekke: Die Ermittlungen gegen uns wurden eingestellt, weil sich die Version der Polizisten, dass wir die Schuldigen seien, überhaupt nicht halten ließ. Circa ein Jahr danach sind die drei so genannten Haupttäter nach Jugendstrafrecht zu Haftstrafen zwischen ein und drei Jahren verurteilt worden. Der ganze Prozess war ziemlich eklig. Für uns war es schwer hinzunehmen, dass wir darin mit unseren Interessen überhaupt keinen Platz fanden. Konsens unter uns war, dass wir nicht möglichst harte Strafen wollten, weil wir darin keinen Nutzen sahen. Uns ging es darum, den Tod von Silvio politisch einzuordnen. Wir wollten den Prozess politisieren. Aber da die Tat nach Jugendstrafrecht verhandelt wurde, konnten wir nicht als Nebenkläger auftreten. Wir wurden auch nicht als Zuschauer zugelassen. Der Prozeß lief unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Uns war aber nicht nur das Geschehen im Gerichtssaal wichtig. Da das Medieninteresse relativ hoch war, konnten wir auch so rüberbringen, was wir sagen wollten.

AIB: Es gibt in diesem Jahr zum zehnten Mal die Silvio-Meier-Demo. Wird die nach zehn Jahren zum Ritual? Oder ist sie weiterhin ein richtiger und wichtiger Weg, um die Erinnerung wach zu halten?

Ekke: Ich glaube, man muss hier die persönliche und die politische Erinnerung trennen. Die persönliche Erinnerung, die findet nicht in Form von Demos statt. Da findet man andere Wege. Politische Erinnerung – und dazu gehört die Demo – finde ich sehr wichtig, weil die Antifa-Bewegung auch Lehren aus den Vorfällen gezogen hat. Dass die Demo zeitweise die größte Antifademo in Berlin war, finde ich gut. Die Leute, die die Demo organisieren, haben auch immer darauf geachtet, keinen Personenkult entstehen zu lassen. Der Mord an Silvio ist zwar der Anlass, aber man hat immer versucht, einen aktuellen Bezug zu finden. Ein besserer Begriff als Ritual wäre vielleicht Tradition. Dann ist es wie bei jeder anderen Tradition: So lange sie noch einen eigenständigen Inhalt hat, ist sie es wert, dass sie auch weiter getragen wird. Ich bin niemand, der daran um jeden Preis festhalten würde. Es kommt darauf an, ob sie den Sinn hat, den sie haben sollte. Meiner Meinung nach ist das noch gegeben.

AIB: Die letzten zehn Jahre sind ja nicht spurlos an der Antifabewegung vorbei gegangen. Welche positiven und negativen Veränderungen siehst Du?

Ekke: Anfang der Neunziger gab es Fragen, ob man überhaupt so etwas wie Pressearbeit mit bürgerlichen Medien macht oder ähnliche heutzutage eher nebensächliche Fragen. Darüber wurde viel diskutiert und viele haben das abgelehnt. Heute hat sich das und vieles andere, über das wir damals diskutierten, durchgesetzt und das finde ich positiv. Als negative Veränderung sehe ich, dass meiner Meinung nach Antifa als Bewegung aufgrund von verschiedenen Ursachen an Zugkraft verloren hat. Demzufolge verändert sich auch die Situation für diejenigen, die sich in dem Bereich engagieren oder organisiert sind. Dass wir es nicht geschafft haben, Formen zu finden, um die Bewegung zu halten, ist eine wirklich einschneidend negative Veränderung, über deren Ursachen diejenigen, die politisch aktiv sind, nachdenken müssen. Ein schwerer Fehler aus den Neunzigern war sicherlich, dass die Diskussion um Organisierung innerhalb der Antifabewegung so polarisiert geführt wurde. Wenn ich mir die Situation gerade angucke, fände ich es jedenfalls falsch, sich jetzt zurückzuziehen und etwas ganz anderes zu machen. Denn die Nazis gibt es noch und die Bedrohung ist nicht geringer geworden.

AIB: Danke für das Gespräch.