Zu Staub zermahlen

Orte des Holocaust: Ein Ausstellungsprojekt erinnert an die »Aktion Reinhardt« aus deutscher und polnischer Perspektive

In den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka, im »Generalgouvernement«, wurden im Rahmen der »Aktion Reinhardt« »mehr als doppelt so viele Juden ermordet wie in Auschwitz-Birkenau«. Das weiß Tomasz Pietrasiewicz, Direktor von »Brama Grodzka – Teatr NN«, einer kommunalen Initiative, die sich seit den 1990er Jahren mit dem Holocaust und der verlorenen jüdischen Kultur in Lublin beschäftigt. Von den Millionen Opfern kennt man rund dreihundert Namen, aus Belzec nur drei.

SS-Wachen im Todeslager Belzec (1942) (Foto: Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz)

Im Garten des Hauses der Wannseekonferenz wurde kürzlich und fast unbemerkt von der Öffentlichkeit eine informative Ausstellung über die »Aktion Reinhardt« eröffnet. Sie entstand in Kooperation mit der polnischen Einrichtung, benannt nach dem Grodzka-Tor in Lublin. Das 1342 erbaute Stadttor, auch bekannt als »Judentor«, bildete den Übergang zwischen der Altstadt und dem jüdischen Viertel, das es heute nicht mehr gibt.

»Aktion Reinhardt«, posthum benannt nach dem Chef des Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich, war der Tarnname für den systematischen, millionenfachen Mord an Juden im von Deutschen besetzten Polen, von Lublin aus durch SS-Führer Odilo Globočnik im Auftrag Heinrich Himmlers organisiert.

»Der Blick nach Osten«, so der Name einer der zwölf Ausstellungstafeln, ist von Polen aus ein anderer als von Deutschland. Hier, aus polnischer Perspektive in der Mitte Europas, ließen sich vertriebene Juden seit Jahrhunderten nieder. Sie lebten in Hunderten von Städten und Dörfern, sprachen Jiddisch, und in ihrem »Jiddisch Land«, wie man diese jüdische Welt seit dem 19. Jahrhundert nannte, entstand eine neue, einzigartige Kultur, die sich »religiös wie säkular manifestierte«.

Die Verfolgung und Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung begann unmittelbar nach dem Einmarsch der Wehrmacht im September 1939, als Züge – bemalt mit der euphemistischen Parole »Wir fahren nach Polen, um Juden zu versohlen« – mit deutschen Soldaten in den Krieg rollten. Im Oktober 1939 befahl Himmler die Deportation der jüdischen Bevölkerung aus dem annektierten Warthegau ins »Generalgouvernement«. Am 15. Oktober 1941 begannen dorthin die Massendeportationen aus Deutschland und anderen europäischen Ländern. Auf der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 wurden alle beteiligten Instanzen von Heydrich auf die »Endlösung der Judenfrage« eingeschworen, am 16. März 1942 begann die Deportation aus den Ghettos Lublin und Lemberg nach Belzec, dem ersten Vernichtungslager. Das »Brama Grodzka – Teatr NN« organisiert deshalb seit 2002 jedes Jahr am 16. März in Lublin einen Gedenkspaziergang.

Die Konzeption für die Lager Belzec, Sobibor und Treblinka erarbeiteten deutsche und österreichische »T4«-Mitarbeiter aufgrund ihrer Erfahrungen beim Mord an rund 70.000 Kranken und Behinderten im Deutschen Reich. Ab November 1941 wurden 92 von ihnen ins »Generalgouvernement« geschickt, um den Massenmord an den Juden zu organisieren und durchzuführen. Daraus lässt sich schließen, dass die Planung der »Aktion Reinhardt« bereits vor dem März 1942 begann. Belzec wurde im Dezember 1942 aufgelöst, weil die Massengräber überfüllt waren, in Sobibor und Treblinka ging das pausenlose Morden bis Sommer bzw. Herbst 1943 weiter. Wenige SS-Männer, unterstützt von Wachmannschaften aus dem Ausbildungslager in Trawniki, reichten aus, um insgesamt über 1,8 Millionen Juden und eine unbekannte Zahl Sinti und Roma in Gaskammern mit Motorabgasen zu ermorden. Vorher wurde den Opfern ihre Habe abgenommen, gesammelt, sortiert, registriert und in Lublin gelagert.

Von der Ankunft in der Bahnstation bis zum Ablegen der Leichen im Massengrab vergingen nur zwei bis drei Stunden. Später wurden die Leichen verbrannt, ihre Knochen zu Staub zermahlen. Nach der Auflösung der Lager wurden die Gelände dem Erdboden gleich gemacht. Es sollten keine Spuren bleiben. Die letzte große Mordaktion mit dem zynischen Namen »Aktion Erntefest« fand am 3. und 4. November 1943 statt: Die Deutschen erschossen mehr als 42.000 Juden im Lubliner Lager Majdanek und in den Arbeitslagern Trawniki und Poniatowa – das deutsch besetzte Polen wurde als »judenfrei« deklariert.

»Die Zerstörung des jüdischen Erbes setzte sich nach dem Krieg fort« (Ausstellungstext). Synagogen, Friedhöfe und andere Zeugnisse jüdischen Lebens verfielen. »Eine gewaltige Leere entstand im Herzen Europas, die bis heute sichtbar und spürbar ist.« In Lublin befindet sich am Ort des jüdische Viertels heute ein riesiger Parkplatz.

Gewidmet ist die Ausstellung Alex Dancyg, Kind polnischer Holocaustüberlebender, 1948 in Warschau geboren und 1957 mit seiner Familie nach Israel ausgewandert. Er arbeitete als Landwirt und Holocausthistoriker, engagierte sich bei Yad Vashem als Vermittler für Jugendliche und stand mit den Mitarbeitern der beiden Projektgruppen in freundschaftlichem Austausch. Am 7. Oktober 2023 wurde er im Kibbuz Nir Oz von der Hamas als Geisel nach Gaza verschleppt und laut israelischen Behörden ermordet.


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