Englands Rassismus

Riots in England – die Spitze des rassistischen Eisbergs

In England wüteten über eine Woche lang Rassist:innen und Faschist:innen auf den Straßen gegen Migrant:innen. Auch in anderen europäischen Ländern wie Deutschland scheinen solche Szenarien immer wahrscheinlicher zu werden. – Ein Kommentar von Mohannad Lamees.

Vor elf Jahren setzte das britische Innenministerium, geführt von der späteren Premierministerin Theresa May, eine ganz besondere Kampagne um: Mehrere Transporter fuhren von Juni bis August 2013 ununterbrochen riesige Werbetafeln durch sechs Londoner Stadtbezirke mit einem größerem Anteil an migrantischer Bevölkerung. Auf den überdimensionierten Tafeln war unübersehbar zu lesen: „Illegal im Vereinigten Königreich? Geh’ nach Hause oder rechne mit einer Verhaftung!” Illustriert war die kurze Botschaft mit einem Paar glänzender Handschellen.

Nun, im Sommer 2024, tobten über eine Woche lang in zahlreichen englischen und nordirischen Kleinstädten rassistische Mobs: sie verprügelten Migrant:innen, zündeten Unterkünfte an, in denen Geflüchtete untergebracht waren, warfen Fensterscheiben migrantischer Familien ein, schändeten muslimische Gebetshäuser und auch Friedhöfe. Viele fragen sich jetzt: Wie konnte das passieren? Und passiert es bald wieder?

Mehr als nur Fehlinformation

Natürlich gehen gerade ganze Geschwader von Politiker:innen und Journalist:innen auf Ursachenforschung. Allgemein bekannt wurde recht schnell, dass der unmittelbare Auslöser für die rassistischen „riots” (deutsch: Aufstände) eine Falschinformation über einen Amoklauf in einer Tanzschule gewesen war. In den sozialen Netzwerken hatte sich nach der schrecklichen Messerattacke in Southport an der britischen Westküste –  drei Mädchen wurden dabei getötet und mehrere weitere Mädchen und zwei Erwachsene verletzt – die Nachricht verbreitet, dass ein muslimischer Geflüchteter für die Tat verantwortlich sei.

Weil bekannte Faschist:innen diese Desinformation aufgriffen und weiter verbreiteten, konnte im ganzen Land eine regelrechte Pogrom-Stimmung gegen Migrant:innen entfacht werden. Deshalb stehen in den Aus- und Bewertungen dieer „riots“ nun vor allem der gezielte Einsatz von Falschinformationen durch Faschist:innen und der Rassismus der sogenannten „far right” (zu deutsch etwa „extreme Rechte”) im Mittelpunkt. Als Lösung wird im Zuge dessen oft zu Recht gefordert, einen bewussteren Umgang mit sozialen Medien zu fördern und zum Beispiel in der Schule zu vermitteln, wie falsche von wahren Meldungen unterschieden werden können. Doch die rassistischen Aufstände sind bei Weitem nicht nur auf fehlende Medienkompetenz zurückzuführen.

Jahrzehntelanger Rassismus

Tatsächlich wetteifern im Vereinigten Königreich – ebenso wie in vielen anderen europäischen Ländern – die bürgerlichen Kräfte seit längerem darum, wer die am stärksten menschenverachtende Migrationspolitik entwerfen und umsetzen kann. Die „Go Home”-Kampagne des Innenministeriums im Sommer 2013 war beispielsweise Teil eines umfassenderen Programms, mit dem die konservative Regierung im Vereinigten Königreich damals ein „hostile environment” – zu deutsch eine feindselige Umgebung für Migrant:innen – schaffen wollte, um ihnen den Aufenthalt in Großbritannien so unangenehm und wenig erstrebenswert wie möglich zu machen.

Ibrahim Avcil, Koordinator des Vereins Göçmen Işçiler Kültür Derneği (GIK-DER) in London, beobachtet jeden Tag die unmittelbaren Folgen solcher Hetze für migrantische Menschen. Jahrzehntelang haben Regierungen und rechte politische Kräfte die Migrant:innen und Geflüchteten für Armut, Existenznöte und immer schlechter werdende Lebensbedingungen verantwortlich gemacht: „Die Angriffe, die wir jetzt gesehen haben, wurden durch die feindselige Rhetorik und gesetzlichen Änderungen der letzten konservativen Regierung provoziert”, ist sich Avcil sicher.

Vor allem der sogenannte „Ruanda-Plan” markierte einen Höhepunkt dieser Feindseligkeiten: Mit ihm wollte die konservative Regierung unter dem mittlerweile abgewählten Rishi Sunak und Innenministerin Suella Braverman dafür sorgen, dass ohne Erlaubnis einreisende Migrant:innen für ihre Asylverfahren – ungeachtet ihrer Herkunft – allesamt direkt nach Ruanda deportiert werden.

Auch wenn der neue, etwas stärker links orientierte Premierminister Keir Starmer den Ruanda-Plan mittlerweile aufgab, hat auch seine Regierung bereits verkündet, die Grenzen des Landes besser gegen illegale Migrant:innen schützen zu wollen. Wenn Faschist:innen und Rassist:innen heute also das „Selbstbewusstseinn haben, zu Zehntausenden auf die Straßen zu strömen und zu fordern, dass „die Boote” (gemeint sind die Boote, mit denen Migrant:innen ins Land kommen) gestoppt werden, dann tun sie das in der Gewissheit, dass die politischen Spitzen im Land ihre Forderungen teilen.

Genau das ist in Deutschland aber auch nicht so viel anders als im Vereinigten Königreich: Auch hier überbieten sich die bürgerlichen Parteien und die faschistische AfD darin, mit ihren verschiedenen Plänen die Migration „neu” zur regeln. Die CSU kopierte sogar die Idee, Migrant:innen nach Ruanda zu verbringen, und brachte diesen Vorschlag im März in den Bundestag ein.

Gleiche Gemengelage in Deutschland

Dass die rassistischen Riots nach einer Woche glücklicherweise vorerst vorbei waren, lag nicht zuletzt an den sich formierenden und deutlichen antifaschistischen Protesten. Eine breite Koalition aus Gewerkschaftler:innen, Antirassist:innen und Migrant:innen eroberte sich die Straße zurück. Tatsächlich spielen Organisationen wie der GIK-DER, in der sich türkische und kurdische Arbeiter:innen zusammen engagieren, eine wichtige Rolle im antifaschistischen Kampf. Koordinator Avcil ist sich sicher: „Der einzige Weg, um gegen den Faschismus anzukommen, ist die organisierte Einheit und der organisierte Kampf von Migrant:innen und Nicht-Migrant:innen”.

Sogar der britische Polizeichef Mark Rowley lobte: Zusammen mit den gezielten Aktionen der Polizei hätten die „Communities” ein starkes Zeichen der Einheit gegen Hass und Hetze gesendet. Auch wenn der britische Polizeichef die Gemeinsamkeit beschwört, so ist sein Lob auf den antifaschistischen Widerstand doch nichts anderes als der gleichzeitige Versuch, den antifaschistischen Kampf auf eine Ablehnung der „far right” und Gruppen wie der English Defence League zu begrenzen.

Auch das wird in Deutschland nicht anders gemacht: Nach dem Bekanntwerden der Remigrationspläne der AfD und den sich daraufhin formierenden Gegen-Protesten Anfang des Jahres positionierten sich bürgerliche Politiker:innen ganz bewusst gegen die AfD. Dabei hatten sie schon längst Gesetze zur Asylpolitik in der Schublade oder verabschiedet, die den Forderungen der AfD in nichts nachstehen. Jahrelange rassistische Regierungspolitik und aufgeladene Rhetorik, an welche die Faschist:innen nur die Zündschnur halten müssen – die Ausgangslage, die in England zu den „riots” führte, ist auch in Deutschland längst gegeben.


Perspektive – Zeitung für Solidarität und Widerstand” will den bürgerlichen Medien, die in ihrer vorgeblich „neutralen“ Berichterstattung immer den Status-Quo normalisieren und damit – mal bewusst und mal versehentlich – die Perspektive der Kapitalist:innen vertreten, eine Zeitung entgegenstellen, welche gezielt die Perspektive „der ArbeiterInnen, Angstellten, Frauen, Jugendlichen, Migranten und RentnerInnen“ und ihrer Widerstandskämpfe hervorhebt.

Die Genoss:innen schreiben immer wieder gut recherchierte Analysen, auch aber nicht nur über die extreme Rechte, also schaut auf jeden Fall mal vorbei!