Materialistischer Antirassismus – zurück zu den Wurzeln

„Die Arbeit in weißer Haut kann sich nicht dort emanzipieren, wo sie in schwarzer Haut gebrandmarkt wird.“ Karl Marx, Das Kapital 1867

Immer wenn verstärkt rassistische Tendenzen offen im liberal-demokratischen Deutschland zutage treten, wird auch vermehrt diskutiert, wie wir Rassismus in seinen konjunkturellen Wandlungen verstehen und wie wir diese Form von Menschenverachtung nachhaltig bekämpfen können. Nach dem „langen Sommer der Migration“ 2015/2016 hat sich die Stimmung gegen Asylsuchende und Muslim*innen wesentlich verschärft. Dies zeigte sich in den wöchentlichen Protesten von PEGIDA in ganz Deutschland, dem Erstarken von rechten und nationalistischen Bewegungen wie den Identitären, sowie dem Einzug der rechten und offen rassistischen Alternative für Deutschland (AfD) als drittstärkste Kraft mit 12,6% in den Bundestag bei den Bundestagswahlen im September 2017.

Die Intensivierung der Krise des europäischen Imperialismus und seines Grenzregimes ab dem Sommer 2015 hat dabei zu spürbaren materiellen Verschlechterungen für Asylsuchende – vollere Zwangsunterkünfte, endlose Verfahren etc. – und zu einer Zunahme von rassistischen Übergriffen in Deutschland generell geführt.1Statistiken sind hier trügerisch, da viele Angriffe von den Betroffenen nicht angezeigt oder anderweitig öffentlich gemacht werden. Die zugänglichen Zahlen – Anzeigen bei der Polizei sowie Chroniken anhand von Rekonstruktionen über Zeitungsartikel und Zeugenaussagen zeigen den explosionsartigen Aufwärtstrend ab 2015 deutlich: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Fl%C3%Bcchtlingsfeindliche_ Angriffe_in_der_Bundesrepublik_Deutschland, https://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/service/ chronik-vorfaelle und https://mediendienst-integration.de/desintegration/rassismus.html. Auch wenn die Verstärkung der aktuellen gesamtgesellschaftlich rassistischen Atmosphäre in Deutschland wesentlich von der medial dominanten Asyldebatte geprägt ist, muss festgestellt werden, dass sich Rassismen nicht nur im Rahmen von Angriffen auf (vermeintliche) Asylsuchende zeigen, sondern im Leben von nichtweißen und migrantischen Menschen in Deutschland in einer brutalen Alltäglichkeit erfahrbar sind. Debatten um Rassismus auf den Themenkomplex Flucht und Asyl zu reduzieren, wie auch viele Linke dies gerne tun, ist unzureichend und führt zu einer Unsichtbarmachung der komplexen rassistischen Realität der Bundesrepublik Deutschland. Wir denken, dass die Diskussionen und politischen Maßnahmen rund um das Thema Flucht und Asyl wichtig und zentral für eine antirassistische Praxis sowie eine damit organisch verbundene Theoriebildung sind, wollen jedoch darüber hinausgehen und fragen: Wie muss eine nachhaltige, marxistische Theoriebildung zu Rassismus und Antirassismus für Deutschland heute aussehen? Vor allem, weil der Begriff, mit dem ein Problem beschrieben wird, direkte Rückschlüsse auf die Methoden zur Lösung dieses Problems bietet.

Wir gehen seit einigen Jahren dieser Frage auf den Grund und sehen, dass es im deutschsprachigen Raum an einer Übersetzung und Rezeption von internationalen Schlüsselautor*innen marxistischer Rassismusanalysen fehlt. Zwar wurden einige Schlüsselwerke ins Deutsche übersetzt, etwa Robert Miles „Rassismus: Einführung in die Geschichte und Theorie eines Begriffs“ (1991, englisches Original: 1989), oder auch Keeanga-Yamahtta Taylors „Von #BlackLivesMatter zu Black Liberation“ (2017), jedoch gibt es einen riesigen Kanon an vor allem englischsprachiger marxistischer Literatur zu ‘Rasse‘2Wir benutzen das Wort ‘Rasse’, um auf den Rassifizierungsprozess hinzuweisen, welcher Menschen ob biologistisch oder kulturalistisch weiterhin in angeblich separate Menschengruppen fasst und reale, materielle sowie psychische Auswirkungen auf alle Gesellschaftsmitglieder hat (vgl. Miles 1989). Durch die Setzung des Konzeptes in einfache Anführungszeichen, soll aufgezeigt werden, dass es sich um eine analytische Kategorie handelt, eine Idee als soziale Konstruktion, dessen Grundprämissen wir als antirassistische Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen bekämpfen (vgl. Cole 2016). Wir denken, dass wir nicht über Rassismus sprechen können, ohne die ihm zugrunde liegende Kategorie der ‘Rasse’ zu benennen. und Rassismus, welche keinen Eingang in die deutschsprachigen Diskussionen gefunden hat. Beispielhafte Autor*innen aus den USA und Großbritannien sind Adolph Reed Jr., Robin D. G. Kelly, Sharon Smith, Mike Cole, Paul Heidemann, Satnam Virdee oder auch David Roediger. Hinzu kommt die im deutschsprachigem Raum sehr periphere Rezeption wichtiger marxistischer Schlüsselwerke zur Diskussion um Eurozentrismus und Postkoloniale Theorie wie Vivek Chibbers „Postkoloniale Theorie und das Gespenst des Kapitals“ (2018) sowie Kevin B. Andersons „Marx at the Margins: On Nationalism, Ethnicity, and Non-Western Societies“ (2016), welches bis jetzt nicht auf Deutsch erschienen ist. Eigene Analysen, die den deutschen Kontext in seinen historisch spezifischen Bedingungen analysieren, gibt es dabei noch weniger. Zu den wenigen marxistischen Analysen aus Deutschland zählen „Wertgesetz und Rassismus“ (1976) von Peter Schmitt-Egner, der Rassismus als notwendige Bewusstseinsform der bürgerlichen Gesellschaft aus dem marxschen Wertgesetz ableitet, und „Rassismus und Ökonomie“ (1989) von Werner Ruf, der im Anschluss an die Analysen von Schmitt-Egner den Rassismus der deutschen Einwanderungsgesellschaft analysiert. Diese beiden Analysen bleiben jedoch auf einer formanalytischen Ebene, die praktisch politische Einordnung von Rassismus, auch als konkretes Herrschaftsinstrument, fehlt dagegen weiterhin.

Auch linke und sich auf den Marxismus berufende Diskussionen um Rassismus und Antirassismus bedienen sich daher liberaler Ansätze, die meist auf einem nicht weiter spezifizierten Intersektionalitätsansatz aufbauen oder sich ohne konkretes Programm auf eine „Neue Klassenpolitik“ berufen (siehe Friedrich/Redaktion Analyse & Kritik 2018), ohne eine gesonderte Analyse der Genese des Rassismus in Deutschland und eine Bilanz als antirassistisch markierter Kämpfe vorzunehmen. So behaupten viele Linke zwar einen abstrakten Zusammenhang von Rassismus und Kapitalismus, dieser kann jedoch selten erklärt werden. Oft münden damit auch diese linken Analysen in der Erarbeitung weiterer Konzepte innerhalb der Vorurteilspädagogik und vernachlässigen den ökonomischen Kampf komplett.

Anschließend an den 2017 im Lower Class Magazine erschienenen Artikel „Zur Lage des Antirassismus“ von Amanda Trelles Aquino, Can Yıldız und Ward Jazani wollen wir aufzeigen, was eine marxistische Begriffsbestimmung von Rassismus heute aufweisen muss, wie eine marxistische Kritik am liberalen Antirassismus aussehen kann und welche programmatischen Perspektiven sich für die Zentralität des Kampfes gegen Rassismus im Klassenkampf in Deutschland ergeben.

1. Begriffsbestimmung: Was ist Rassismus im Kapitalismus?

Um Rassismus im Kapitalismus bestimmen zu können, müssen wir zurück zu den Wurzeln: daher beginnen wir bei Marx. In seinen Ausführungen zur ursprünglichen Akkumulation führt Marx die Rolle von Kolonialismus und Sklaverei für die Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise an. „Der außerhalb Europa direkt durch Plünderung, Versklavung und Raubmord erbeutete Schatz floß ins Mutterland zurück und verwandelte sich hier in Kapital“ (MEW 23, 781). Die kapitalistische Produktionsweise schafft sich damit einen globalen Markt für Rohstoffe und Arbeitskräfte. Die Rolle der Kolonien und der Kolonisierten ist damit die Bereitstellung von Rohstoffen für die Weiterverarbeitung in Europa, sowie von Waren, die in der europäischen Metropole konsumiert werden. Innerhalb der Kolonien wiederum werden in diesem Prozess die politischen und sozialen Verhältnisse zerstört (MEW 23, 475).

„Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingeborenen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation.“ (MEW 23, 779)

Dabei ist nicht nur die Entwicklung des Weltmarktes asymmetrisch, sondern auch die Form der Arbeit von europäischen Arbeiter*innen und Kolonisierten: „Überhaupt bedurfte die verhüllte Sklaverei der Lohnarbeiter in Europa zum Piedestal die Sklaverei sans phrase in der neuen Welt“ (MEW 23, 787). Sklaverei ist damit nicht etwa eine präkapitalistische Form der Arbeit, sondern ein relevanter Bestandteil der Kapitalakkumulation. Diese Differenz zwischen „Ausbeutung und Überausbeutung“ (Balibar 1998, 269) ist die Existenzbedingung für Rassismus, nicht seine Folge. Vor dem Kapitalismus hat es keinen Versuch gegeben, Rassismus wissenschaftlich zu begründen.

Die ersten biologistischen Rassentheorien wurden im 18. Jahrhundert ausformuliert, während der Kolonialismus bereits im 15. Jahrhundert begann. Darüber hinaus schreibt der US-amerikanische Historiker Winthrop Jordan über die ersten Begegnungen zwischen englischen Reisenden und Kaufmännern und Afrikaner*innen, dass die Begegnungen nicht durch rassistische Vorurteile geprägt waren, Rassismus also keine notwendige Reaktion war (Jordan 2000, 33).3Wenn das Zitierte im Literaturverzeichnis auf Englisch angeführt ist, sind alle Übersetzungen unsere eigenen. Rassismus muss demnach einen anderen Ursprung haben. Auch die Klassengesellschaft in England musste mit Gewalt durchgesetzt werden. Aufrecht erhält sie sich in den meisten westlichen Industriestaaten allerdings durch das abstrakte Recht, vor allem die menschenrechtlichen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit, welche über die Verallgemeinerung der Lohnarbeit und das kapitalistische Wertgesetz etabliert werden (MEW 23, 190). In der Kolonie ist das ökonomische Ausbeutungsverhältnis deckungsgleich mit dem politischen Gewaltverhältnis (vgl. Miles 1989, 138). Peter Schmitt-Egner zeigt, wie diese unterschiedlichen Arbeitsbedingungen in der Form auch den Inhalt des Rassismus darstellen. Da die Kolonisierten keinen rechtlichen Anspruch auf den Normalarbeitstag von 8 Stunden, der in der Metropole Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Arbeiterbewegung erkämpft wurde, hatten, mussten sie weit darüber hinaus arbeiten. Der Wert ihrer Arbeitskraft liegt unter dem Wert der Arbeitskraft, der durch den gesellschaftlichen Durchschnitt in der Metropole festgelegt wird. Sie werden damit, so Schmitt-Egner, buchstäblich minderwertig. Indem beim Kolonisierungsprozess außerdem alle sozialen und kulturellen Institutionen zerstört wurden und der Lohn der Kolonisierten in Lebensmitteln ausbezahlt wird, leben sie auf ihre physische Erhaltung hin und damit auf ihre Natur reduziert. In der bürgerlichen Gesellschaft, in der menschliche Subjektivität vor allem über Kultur und in Abgrenzung zur Natur bestimmt wird, gelten die Kolonisierten als kulturlose, quasi tierische Wesen. Da in der Kolonie der Wert der Ware Arbeitskraft so niedrig ist, war der Einsatz oft weit günstiger als der Einsatz von Maschinen, sodass die Kolonisierten auf Handarbeit reduzierte und damit dequalifizierte Arbeiten erledigen mussten, die weit unter dem historisch-technischen Niveau der Zeit lagen.

Sie galten somit als unterentwickelt. „Fest steht für den Rassisten, dass die Billig-Arbeitskräfte, welcher Nation, Kultur oder Rasse sie entstammen mögen, den Schritt zum mitteleuropäischen Kulturmenschen allesamt noch nicht geschafft haben“ (Ruf 1989, 78).

Rassismus ergibt sich damit sowohl formal als auch inhaltlich aus den Bedingungen der kapitalistischen Produktion. Es ist dabei keineswegs bestimmend, dass körperliche Unterschiede als ideologische Marker der Unterscheidung gelten. Sie wurden quasi-zufällig im Nachhinein herangezogen, um die ökonomische Unterscheidung zwischen Ausbeutung und Überausbeutung ideologisch zu verklären, die Differenz geht damit über die Sphäre des rein Ökonomischen hinaus.

„Vor dem Hintergrund der Sklaverei war aus der Hautfarbe ein soziales Zeichen gemacht worden, das natürliche Minderwertigkeit signalisieren sollte und unabhängig von ihrem sozialen Status gegenüber allen geltend gemacht wurde, die sich irgendwie als Neger stigmatisieren ließen.“ (Hund 2007, 31)

Während Afrikaner*in sein bzw. dunkle Haut zu haben, nicht unbedingt bedeuten musste, versklavt zu sein oder unfreie Arbeit zu verrichten, waren aber die Versklavten in den Amerikas, nach der massiven und teilweise gänzlichen Auslöschung der indigenen Bevölkerung, alle Afrikaner*innen und hatten dunkle Haut. Dies erschien als natürliche Differenz (vgl. Chang 1985, 42). Daraus ergibt sich die berühmte Feststellung von Eric Williams, dass Rassismus von Sklaverei kommt und nicht Sklaverei von Rassismus (Williams 1944, 7).

Teil der Schaffung des globalen Marktes ist die größere Mobilität von Arbeitskräften. Dies lässt sich nicht nur am Kolonisierungsprozess oder im Imperialismus nachvollziehen, sondern auch in der Arbeitsmigration, wie sie beispielsweise nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland stattgefunden hat. Der Wiederaufbau des Landes erforderte Arbeitskräfte, und die Nachfrage konnte durch die deutsche Bevölkerung nicht bzw. nicht billig genug gedeckt werden. Die Anstellung von Gastarbeiter*innen in der BRD eignete sich dabei auf besondere Weise, weil laut Dachverband der Deutschen Arbeitgeberverbände Arbeitsmarktanforderungen nach oben und nach unten angeglichen werden konnten (Nikolinakos 1973, 68). Das bedeutet, dass es die Gastarbeiter*innen waren, die man konjunkturbedingt entlassen oder auf die man als Reserve zugreifen konnte.

Das wurde durch die Gesetzgebung und das sogenannte Inländerprimat, welches bis heute gilt, auch institutionalisiert. Die Einbindung ausländischer Arbeitskräfte in die unteren Sektoren des Arbeitsmarkes war Grundlage für eine ethnische Hierarchisierung und Segmentierung in der gesellschaftlichen Produktion. Ähnlich wie im Falle der Kolonien ergibt sich auch hier aus der Unterscheidung von Ausbeutung und Überausbeutung der Rassismus.

2. Rassismus und Konkurrenz

Als politisches Instrument ist Rassismus „Agens einer Zersetzung des ‘Klassenbewusstseins’“ (Balibar 1998a, 27). Stuart Hall beschrieb bereits, wie Arbeitskämpfe in Südafrika zum Beispiel zerschlagen wurden, indem bei weißen Arbeiter*innen durch rassistische Argumente eine Identifikation mit weißen Kapitalist*innen, statt schwarzen Arbeiter*innen, geschaffen wurde (vgl. Hall 1994, 103; ebd. 131f.).

Neben diesem rational-funktionalen Aspekt kommt ein weiteres Moment des Rassismus hinzu:

Indem er dehumanisiert und damit als Legitimation und Rationalisierung von Gewaltverhältnissen dient, kann er genauso in Hass umschlagen (vgl. Hund 2007, 32). In bestimmten Formen kolonialer Gewalt oder im Genozid ist es schwer, ein funktionales oder rationales Moment zu erkennen. Den Rassismus allerdings auf seine extremsten Ausprägungen zu reduzieren, verkennt seine alltäglichen Dimensionen. Aus der Überausbeutung Schwarzer/Brauner/migrantischer Arbeiter*innen, entsteht auch die Konkurrenz zwischen ihnen und den weißen/nicht-migrantischen Arbeiter*innen. Marx stellt dies in Bezug auf das Verhältnis von irischen und englischen Arbeitern dar.

„Alle industriellen und kommerziellen Zentren Englands besitzen jetzt eine Arbeiterklasse, die in zwei feindliche Lager gespalten ist, englische proletarians und irische proletarians. Der gewöhnliche englische Arbeiter haßt den irischen Arbeiter als einen Konkurrenten, welcher den standard of life [Lebensstandard] herabdrückt. Er fühlt sich ihm gegenüber als Glied der herrschenden Nation und macht sich eben deswegen zum Werkzeug seiner Aristokraten und Kapitalisten gegen Irland, befestigt damit deren Herrschaft über sich selbst. Er hegt religiöse, soziale und nationale Vorurteile gegen ihn. Er verhält sich ungefähr zu ihm wie die poor white [armen Weißen] zu den niggers in den ehemaligen Sklavenstaaten der amerikanischen Union. […] Der Irländer […] sieht zugleich in dem englischen Arbeiter den Mitschuldigen und das stupide Werkzeug der englischen Herrschaft in Irland.“ (MEW 32, 668f.)

Die Konkurrenz zwischen den unterschiedlichen Arbeiter*innen ist zwar real, aber die fälschlich angenommene Vorstellung der lohndrückenden Konkurrenten ist ein zu Unrecht verallgemeinerter rechter Mythos (vgl. Nikolinakos 1973, 95). Vielmehr bilden die Überausgebeuteten, ob sie nun Kolonisierte oder Migrant*innen sind, einen Puffer nach unten. Nach Berechnungen des Migrationsforschers Friedrich Heckmann sind ca. 2,3 Millionen Deutsche von Arbeiter- in Angestelltenpositionen gerückt (vgl. Heckmann 1981, zitiert in Karakayalı 2008, 104). Dieser Puffer rettet weiße Arbeiter*innen vor dem Abstieg in die unterste Stufe der sozialen Hierarchie und schafft damit ein Interesse an der Aufrechterhaltung einer rassistischen Unterscheidung. Der deutsche Diskurs um sogenannte Integration lässt sich vor allem in diesem Kontext nachvollziehen.

Erst mit der Niederlassung der Gastarbeitergeneration und der verstärkten Konkurrenz auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, in Schulen und um gesellschaftliche Teilhabe wurden Fragen der „Integration“ relevant:

„Hierzu ist zu bedenken, daß erst in den siebziger Jahren, vor allem seit der zunehmenden Familienzusammenführung nach dem Anwerbestopp von 1973, Türken in großer Zahl von isoliert lebenden exotischen Heimbewohnern zu einem Teil der normalen Wohnbevölkerung wurden, der mit den Deutschen um Wohnungen konkurrierte und in Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen präsent war.“ (Jamin 1999, 160f.)

Dieses Konkurrenzverhältnis bietet die Möglichkeit, in der Krise soziale Probleme wie Wohnungslosigkeit, Kriminalität und soziale Deklassierung rassistisch zu rationalisieren (vgl. Balibar 1998b, 264). Das Paradoxe an der Integrationsforderung ist, dass kulturelle „Fremdheit“ nur oberflächlich das Problem zu sein scheint. Hier lässt sich ein Zusammenhang zwischen Rassifizierung und Klasse feststellen. Genauso, wie es in vielen vermeintlich antirassistischen Argumenten Positivbezüge auf gut qualifizierte und gebildete Migrant*innen gibt, so gibt es auch ein Ressentiment gegen aufsteigende Migrant*innen: „Türkische Putzfrauen lassen sich eben besser verkraften als syrische Hautärztinnen“ (Castro Varela 2015, 92). Der Aufstieg eines Großteils der ehemaligen Gastarbeiter*innen und der nachfolgenden Generationen in qualifiziertere Arbeiter- und Angestelltenpositionen sowie Selbstständigkeit bedeutet ein direktes Konkurrenzverhältnis zu nicht-migrantischen Arbeiter*innen. Die Anwesenheit der Migrant*innen wird also solange nicht problematisiert, solange sie in den ihnen zugewiesenen sozialen Positionen bleiben.

3. Ein marxistischer Rassismusbegriff

Der liberale Antirassismus der westlichen Gesellschaften entwickelte seinen Rassismusbegriff vor dem Hintergrund des biologistisch argumentierenden Rassismus (vgl. Bojadžijev 2008, 22). Der neue Rassismus äußert sich allerdings vor allem durch kulturalistische Argumente (Balibar 1998a).

Für den neuen Rassismus wird diskursiv eher von Fremdenfeindlichkeit, Ausländerfeindlichkeit oder Xenophobie gesprochen. Rassismus ist aber ein soziales Verhältnis zwischen Menschen, die auf unterschiedliche Weise in die Produktion miteinbezogen und ausgebeutet werden. Er ist damit zum einen nicht auf eine bestimmte, hier biologistische, Argumentation angewiesen. Er richtet sich zum anderen nicht gegen „Fremde“, sondern findet vor allem innerhalb von Gesellschaften statt (vgl. Chang 1985, 39). Kulturalismus und Biologismus sind beides Bestandteile des Rassismus, der sich argumentativ zwar zwischen diesen Polen bewegen kann, letztlich aber bestimmten Körpern eine bestimmte Kultur zuweist (vgl. Müller 1992). „Die Unterscheidung zwischen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit [dient dazu] Angriffe auf und Diskriminierung von ‘Schwarzen’ [und Braunen] und [weißen] ‘Migrantinnen und Migranten’ zu unterscheiden“ (ebd. 28). Diese Unterscheidung ist, im Kontext eines marxistischen Rassismusbegriffs nicht schlüssig, denn hier findet eine Art Verkehrung von ‘Rasse’ und Rassismus statt. So werden rassistische Kategorien essenzialisiert. Es wird impliziert, dass es nicht die historisch-spezifischen Bedingungen sind, die die Rassifizierung bestimmter Gruppen möglich gemacht haben und damit eine historische Zufälligkeit darstellen, sondern es eine den Gruppen innewohnende Eigenschaft ist und das Ressentiment sich daraus speist. Der Begriff Fremdenfeindlichkeit versucht darüber hinaus, zwischen ‘Rasse’ als sozial konstruierter Kategorie und ‘Migrant*innen’ als natürlicher Kategorie zu unterscheiden, ohne die Bedingungen zu thematisieren, in denen diese Kategorien hergestellt werden: „Denn solange es die Gruppe der Migrantinnen und Migranten gibt, gibt es sie nur unter Verhältnissen, die sie zu solchen machen“ (Bojadžijev 2008, 15).

4. Kritik des liberalen Antirassismus

Das Pochen auf Kritisches Weißsein (Critical Whiteness) und Workshops zum Empowerment, also Selbstbestärkung von People of Colour als antirassistische Praxis in Räumen der (radikalen) Linken seit dem Ende der 2000er Jahre ist vor allem eine Antwort auf die Marginalisierung migrantischer Kämpfe und Stimmen in mehrheitsdeutschen, linken Kontexten. Selten gelten Kämpfe von Migrant*innen als zentrale Inspirationsquellen für linke Politik in Deutschland; die meisten linken Aktivist*innen und Intellektuellen wissen kaum etwas von diesen Geschichten, die selbstverständlich Teil der Arbeiterbewegung, der feministischen, ökologischen und antirassistischen Bewegung dieses Landes sein sollten. Die kurdische Befreiungsbewegung unter Führung der Arbeiterpartei Kurdistans konnte ab Ende 2013 (diasporische) Kurd*innen zwar prominent als Protagonist*innen eines antifaschistischen Widerstandes sichtbar machen – um die antirassistischen Kämpfe von kurdischen und anderen nicht-weißen bzw. migrantischen Arbeiter*innen in Deutschland geht es dabei jedoch nicht.

„Die alltägliche Erfahrung rassistischer Ausgrenzung in der Schule, an der Clubtür, auf dem Arbeitsmarkt, in der Ausländerbehörde und bei der Wohnungssuche und die häufige Nicht-Anerkennung oder Nicht-Einbeziehung dieser Erfahrungen durch GenossInnen, die diese Erfahrungen nicht machen, macht misstrauisch“ (Ibrahim u.a. 2012).

Kritisches Weißsein als Konzept scheint daher ein attraktives Angebot um genau auf diese Missstände innerhalb politischer, auch linker, Zusammenhänge hinzuweisen. Das Problem mit diesem Konzept, so wie er im deutschsprachigem Raum angewendet wird, fassen Aida Ibrahim, Jule Karakayalı, Serhat Karakayalı und Vassilis S. Tsianos treffend zusammen:

„Einerseits geht es um eine Ausweitung, die alle Weißen zu Priviligierten macht; andererseits wird ein eher entpersonalisierter Fokus auf Institutionen gerichtet. In diesem Konzept sind die ‘weißen’ Institutionen und Diskurse so mächtig, dass sie die Individuen, die darin als ‘Weiße’ konstruiert werden, vollständig entmündigen. Gleich, wie diese sich verhalten, sie sind ‘Profiteure’. Anstatt eine Rassismustheorie in Angriff zu nehmen, deren Fluchtpunkt die ideologische und praktische Abschaffung von Kategorien wie ‘Race’ ist, dreht sich das Whiteness-Konzept von Anfang an im Kreis.“ (Ibrahim u.a. 2012)

Der aktuelle hegemoniale Antirassismus bewegt sich in einem liberalen Diskurs und bedient sich einer ebenso liberalen Praxis, welche durch Bildung und die Produktion von Vorbildern die (post-)migrantischen Anderen zu höherer Leistung für die Integration zu bewegen sucht.

Dies kann offensiv geschehen, wie in der „Raus mit der Sprache. Rein ins Leben“-Kampagne der Deutschlandstiftung Integration, bei der prominente nicht-weiße Deutsche bzw. Deutsche mit Migrationsgeschichte in ihrer Familienbiografie mit ausgestreckter schwarz-rot-golden gefärbter Zunge Migrant*innen „zum Deutschlernen“ anregen sollen (HORIZONT online 2010). Oderauch subtiler, durch eine Reihe von Workshops, die in sogenannten safer spaces, also sichereren Räumen, unter Nicht-Weißen, lediglich an Methoden arbeiten, sich als Einzelperson zu bestärken (self care, Selbstfürsorge), ohne eine Kampfperspektive kollektiver Befreiung für alle Unterdrückten und Ausgebeuteten aufzuzeigen. Wir denken, dass Räume des Austausches und offenen Sprechens über die eigene gelebte Realität unabdingbar sind, sehen jedoch ein Problem darin, wenn das Schaffen dieser Räume – inklusive der Forderungen, das ‘Selbst’ zu dekolonisieren – zu einem Ziel an sich wird – eine Dynamik, die in deutschsprachigen Metropolen wie Berlin, Hamburg, München, Köln, Frankfurt, Wien und Zürich in vielen sogenannten People of Colour-Räumen dominant ist. Was all diese Maßnahmen vereint, ist der Individualismus in der analytischen Herangehensweise und damit verbundenen praktischen Lösungsvorschlägen.

„Der Liberalismus ist die hegemoniale Ideologie der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft: Sie setzt die Freiheit des Individuums an erste Stelle und richtet sich gegen Kollektivismus und den Missbrauch von Macht und Herrschaft. Dass die Freiheit im Kapitalismus für die Arbeiter*innen vor allem die „Freiheit“ von Produktionsmitteln bedeutet und dementsprechend die „Freiheit“ ihre Arbeitskraft zu verkaufen nach sich zieht, wird dabei verschwiegen. Genauso, dass die eigentliche Freiheit, die hier verteidigt wird, den Kapitalist*innen gebührt: die Freiheit des Eigentums ist das Grundelement der bürgerlichen Ordnung, die vom Staat, Rechtssystem und Polizei, geschützt wird. Der Liberalismus verkennt, dass Herrschaft ein unübertroffenes Ausmaß angenommen hat, indem suggeriert wird, dass sie auf ein Minimum reduziert worden sei.“ (Jazani, Trelles Aquino und Yıldız, 2017)

Auch linkere Antworten wie Diskussionsveranstaltungen und Workshops zu Kritischem Weißsein bzw. Empowerment von nicht-weißen und/oder migrantischen Menschen, gründen ihre Arbeit fast ausschließlich auf genau diesen Liberalismus, wenn primär anhand von Identitäten politische Subjektivität gemessen wird. Und hier tritt die hegemoniale Auslegung der Intersektionalitätstheorie und einer intersektionalistischen Praxis zu Tage. Denn Intersektionalität ist als Konzept sehr unterschiedlich auslegbar. Die dominante Interpretation von Intersektionalität ist aktuell eine, die die Verschränktheit (Intersektion) verschiedener Macht- und Herrschaftsverhältnisse wahrnimmt und daraus eine emanzipatorische, inklusive Praxis abzuleiten sucht. Dabei werden Kategorien wie Klasse, Geschlecht und ‘Rasse’ mit den jeweiligen Herrschaftsverhältnissen, Kapitalismus, (Hetero-)Sexismus und Rassismus als Unterdrückungsformen behandelt, welche alle zu bestimmten Subjektformierungen durch eine diskriminierende Lebenserfahrung führen.

In dieser Interpretation wird somit Intersektionalität zu einer Strategie der radikalen Inklusion, in der meist durch besondere Bildungsarbeit an dem Bewusstsein von Individuen und damit auch an gesellschaftlichem Bewusstsein gerückt wird, um diese pathologisch irrationalen Denkmuster und diskriminierenden Handlungen zu überkommen. Hier kommen jedoch zwei grundlegende Probleme auf. Erstens lässt sich Rassismus, wie bereits oben ausgeführt, nicht einfach nur als ein irrationales Vorurteil definieren. Rassismus in Deutschland schafft sehr wohl materielle Vorteile für als weiß und Deutsch rassifizierte Menschen:

„Der bevorzugte Zugang zu Informationen über Stellenangebote, die Behandlung im Wettbewerb um Beschäftigung, Arbeitsplätze mit besseren Löhnen und Bedingungen und Beförderungen sind keine Illusion. Ebenso wenig sind es eine bevorzugte Behandlung durch Vermieter, Dienstleister, Geschäftsinhaber und die Polizei“ (Cramfield 2016, zitiert in Georgi 2019, 108).

Zweitens lässt sich diese real überlegene Position in einer rassistisch strukturierten, kapitalistischen Gesellschaft nicht ohne eine Kontextualisierung dieser rassistischen Vorteile, also die gesamte ökonomische und soziale Ordnung verstehen (ebd.). Eine marxistische Rassismusanalyse muss also die Kategorie Klasse als Ausbeutungsverhältnis anders behandeln als dialektisch verbundene Unterdrückungskategorien wie Geschlecht oder ‘Rasse’, welche sich im deutschsprachigem Raum nach 1945 über tatsächlichen oder zugeschriebenen Migrationshintergrund oder durch die Kategorie Kultur, und weniger über ein offenes Sprechen über ‘Rasse’ ausdrückt.

Die analytische Unterscheidung zwischen Ausbeutung und Unterdrückung fasst Terry Eagletongut zusammen:

„Niemand hat eine bestimmte Hautpigmentierung, weil andere eine andere haben, und niemand hat ein bestimmtes Geschlecht, weil andere ein anderes haben. Aber Millionen von Menschen befinden sich in der ‘Position’ des Lohnarbeiters, weil es auf der Welt ein paar Familien gibt, die in ihren Händen die Produktionsmittel konzentrieren. Beide Kategorien (bürgerlich/proletarisch oder Ausbeuter/Ausgebeuteter) stehen auf eine Weise im Verhältnis zueinander, das – im Unterschied zu anderenIdentitäten – nur durch Abschaffung dieses spezifischen Verhältnisses (Kapital/Arbeit) auch dieuntergeordneten ‘Identitäten’ abgeschafft werden können.“ (Eagleton 1997, 78)

Identität wird in diesen intersektionalistischen Kreisen meist nicht als ein nicht-essentialistisches, sich immer in Bewegung befindendes Konzept verhandelt, sondern als eine quasi statische Zuschreibung von Sein. Vishwas Satgar beschreibt treffend, wie in heutigen sozialen Kämpfen gegen Rassismus Identitätspolitik eine wichtige Rolle einnimmt. Jedoch neige diese „in ihren Extremen […] dazu, Unterschiede auf problematische Weise zu rassifizieren“ (Satgar 2019a, 11). Partikulare Erfahrung ist wichtig und darf nicht runtergespielt werden. Das Pochen hierauf und die Festschreibung ohne Klassenperspektive birgt jedoch die Gefahr, leicht in Chauvinismen abzurutschen, bei denen Zusammenarbeit und Solidarität nicht mehr politisch konstruiert wird, sondern auf essentialistischen Zuschreibungen bzw. Selbstidentifizierung – Schwarzsein, Ausländer*insein etc. – basiert (ebd.). Emanzipatorische Perspektiven, um die aus Unterdrückung resultierenden Partikularitäten (Schwarz, Braun usw.) tatsächlich zu überwinden, haben in diesen Diskussionen kaum Platz.

Der Umgang von Marxist*innen mit Intersektionalität als Kategorie ist dabei vielfältig. Einige Marxist*innen lehnen Intersektionalität als postmoderne Spielart ab, da „[…] sie die Verbindung zu ihren materiellen Grundlagen, dem Kapitalismus, nicht herstellt und daher auf einer diskursiven Ebene agiert und eine Vielzahl von sozialen Identitäten und sozialen Spaltungen strategisch fördert“ (Satgar 2019a, 14 – siehe hierzu auch Aguilar 2015). Basierend auf Delia D. Aguilar argumentiert Satgar, dass

„[…] intersektionale Ansätze […] die von ihnen beschriebene Unterdrückung nicht erklären [können], da es an strukturellen Grundlagen mangelt. Stattdessen wird [von Aguilar] eine historische materialistische Optik vorgeschlagen, um über Klasse, Geschlecht und Rasse nachzudenken. Ein solcher Ansatz kritisiert flache postmoderne Ansätze der Intersektionalität, die sich lediglich auf ein liberales Individuum konzentrieren, das in unterschiedliche, sich überschneidende Beziehungen (Rasse, Klasse, Geschlecht, Region usw.) eingetaucht ist, und wie daraus eine individuelle Identität entsteht. Stattdessen untersucht ein historisch materialistischer Ansatz, wie überschneidende Beziehungen Unterdrückung und Ausbeutung reproduzieren. Dies dient als Grundlage, um kollektive Unterdrückung und die Notwendigkeit von Solidaritäten zu verstehen.“ (Satgar 2019a, 14)

Andere Marxist*innen verteidigen Intersektionalität als Konzept zum besseren Verstehen von sozialer Realität und den unterschiedlichen Niveaus an Überausbeutung von Arbeiter*innen. Robin D.G. Kelly ruft zum Beispiel zu einer radikalen Kontextualisierung des Projekts der Aufklärung auf, bei dem die Dehumanisierung rassistisch markierter ‘Anderer’ kein zu vernachlässigendes Nebenprodukt ist, sondern im Zentrum genau dieses eigentlich emanzipatorischen Vorhabens stand (Kelly 1997). Marxist*innen dürften keine unkritische Verteidigung des Aufklärungsprojekts betreiben und müssten ihr eigenes Fingerzeigen auf sogenannte Identitätspolitik hinterfragen: „[…]die neue Aufklärungs-Linke kann sich Bewegungen nicht vorstellen, die von Afroamerikanern, Frauen, Latinos, Schwulen und Lesben angeführt werden, die für das Ganze sprechen oder sogar radikalen Humanismus annehmen. […] die einzigen Menschen, die die Sprache des Universalismus sprechen können, sind weiße Männer“ (ebd.). Für Kelly ist das Bestehen von Marxist*innen auf der Zentralität der Interessen der Arbeiterklasse berechtigt, „[a]ber ohne eine Analyse, die Rassismus, Sexismus und Homophobie ernst nimmt und tiefe historische Unterschiede berücksichtigt, werden wir nicht wissen, was ‘Interessen’ bedeuten“ (ebd.). Daher ist Intersektionalität als Kategorie, nicht als Strategie, unabdingbar, um einen Marxismus aufzubauen, der keinen rassistischen, männlichen, oder heterosexistischen Chauvinismus mit de facto Nebenwiderspruchsargumenten fördert (ebd.). Die Wichtigkeit von Identitätspolitiken in der Arbeiterbewegung sieht auch Sharon Smith. Smith erklärt, wie die Schwarze, feministische Tradition in den USA als sozialistisches Projekt zur Abschaffung von Ausbeutung und aller Unterdrückung entstand – und nicht wie in der hegemonialen postmodernen Geschichtsschreibung in Abgrenzung zu marxistischer Politik (Smith 2017). Auch Smith versteht Intersektionalität als ein Werkzeug zum Erreichen der gesamten Klasse – als Strategie biete diese jedoch kein Programm zur Zerschlagung des ökonomischen Grundlage, der kapitalistische Produktionsweise, sowie zur Aufhebung von damit verbundenen Unterdrückungsformen (ebd.).

Wenn „[…] ein essentieller Bestandteil emanzipatorischer Politik ist, sich durch gesellschaftliche Machtverhältnisse nicht festlegen zu lassen, sondern diese zu hinterfragen und zu bekämpfen“

(Ibrahim u.a. 2012), dann generiert eine solche essentialisierende Identitätspolitik, die stark im aktuellen liberalen Antirassismus verankert ist, keine programmatischen Antworten auf eine gemeinsame Überwindung von Ausbeutung und Unterdrückung. Die Antworten, die wir dann vorfinden, sind Safer-Spaces-Politiken, also Politiken, die sicherere Räume für von Rassismus Betroffene schaffen wollen, um darin zu einer verstärkten Selbstermächtigung zu gelangen, selten jedoch in eine universalistische Befreiungsperspektive, also einer Zusammenarbeit in breiteren Gruppen münden, sondern allzu oft in längerfristig separatistisch angelegten Gruppierungen.

„Ohne Subjektivität gibt es keine Politik. Subjektive Erfahrungen und politische Positionen sind aber nicht das Gleiche. Weder folgt aus bestimmten Erfahrungen zwingend eine bestimmte politische Haltung noch ist die Einnahme einer politischen Haltung durch die eigene Erfahrung limitiert. […] Eine politische Position ist nicht die logische Folge spezifischer persönlicher Erfahrungen, sondern entwickelt sich durch die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Verhältnissen. […] Zu behaupten, dass eine politische Haltung unveränderbar an die ‘Position’ innerhalb der Gesellschaft gebunden ist, bedeutet, einen statischen Begriff von Gesellschaft zu vertreten, der die Möglichkeit politischer Veränderung letztlich ausschließt.“ (Ibrahim u.a. 2012)

5. Ausblick: Antirassismus und Klassenkampf

Was in der aktuellen Debatte um Rassismus fehlt, ist eine Analyse des Rassismus im neoliberalen Kapitalismus, der Rassismus, der sich erst richtig mit dem Ende des Kalten Krieges und dem (vermeintlichen) Sieg des liberalen Kapitalismus seit den 1990er Jahren entwickelt hat. Eine Rassismusanalyse, die die globale Krise und die neuen Fluchtursachen, den aktuellen Imperialismus durch Abwanderung industrieller Produktion in den Globalen Süden und den Abbau des Sozialstaates, sowie das Widererstarken des Nationalismus angesichts einer fortschreitenden Globalisierung fassen kann.

Wir schließen uns Vishwas Satgar an, wenn er feststellt, dass der

„[…] Marxismus im zwanzigsten Jahrhundert […] trotz starker antirassistischer politischer Verpflichtungen in den meisten Fällen keine effektive antirassistische Verankerung in der theoretischen Orientierung und Praxis [bot]. Das ist unsere Herausforderung im 21. Jahrhundert, indem wir einen nicht-eurozentrischen Marxismus in Kämpfen entwickeln und die rassistischen Annahmen der euroamerikanischen Moderne in Frage stellen.“ (Satgar 2019a, 11)

Wir können mit unserer Kritik hier kein ausführliches Programm für eine erfolgreiche politische Praxis bieten. Unsere Analyse macht jedoch zwei Punkte besonders deutlich: Rassismus ist ein Bestandteil kapitalistischer Produktionsweise. Das Kapital setzt notwendig gewaltvoll die Überausbeutung bestimmter Teile der Arbeiterklasse durch und muss dies ideologisch erklären. Eine Überwindung von Rassismus innerhalb des Kapitalismus ist damit ausgeschlossen. Zum anderen ist Antirassismus eine notwendige Voraussetzung für einen erfolgreichen Klassenkampf, weil erst klare antirassistische Forderungen sowie eine entsprechende Praxis eine gemeinsame Grundlage für einen Kampf schaffen, in dem alle Teile der Arbeiterklasse Protagonist*innen ihrer Befreiung sind. Während weiße Arbeiter*innen durch Rassismus einige relative Privilegien erhalten, besteht ihr allgemeines Interesse als Arbeiter*innen eigentlich in der strikten Zurückweisung dieser Unterscheidung und einem gemeinsamen Kampf:

„Arbeiter_innen werden sich nie zusammenschließen, um für die Staatsmacht zu kämpfen, wenn sie sich nicht zusammenschließen können, um heute für die Anforderungen am Arbeitsplatz zu kämpfen. Wenn weiße Arbeiter_innen heute nicht für die Bekämpfung von Rassismus gewonnen werden, werden sie sich nie mit Schwarzen Arbeiter_innen für eine Revolution morgen vereinen. Wenn die Schwarzen Arbeiter_innen nicht dafür gewonnen werden, heute gegen den Anti-Immigranten-Rassismus zu sein, werden sie sich morgen nie mit den Latino-Arbeiter_innen für eine Revolution zusammenschließen.“ (Taylor 2011)

Denn ohne alle Teile der Klasse – und dieses globale Proletariat ist mehrheitlich nicht-weiß – wird es zu keiner nachhaltigen proletarischen Revolution kommen. Taylor führt weiter aus: „Deshalb sagte Lenin, dass eine revolutionäre, auf dem Marxismus basierende Partei ein ‘Tribun der Unterdrückten’ sein muss, der bereit ist, gegen die Unterdrückung einer beliebigen Gruppe von Menschen zu kämpfen, unabhängig von der Klasse der Betroffenen“ (ebd.). Die Relevanz dessen, erkannte schon Marx, als er über das Scheitern der US-amerikanischen Arbeiterbewegung schrieb: „Die Arbeit in weißer Haut kann sich nicht dort emanzipieren, wo sie in schwarzer Haut gebrandmarkt wird“ (MEW 23, 318).

Dies wurde bereits durch die Tradition eines aktiv antirassistischen Marxismus, insbesondere etwa durch W.E.B. Du Bois und C.L.R. James, mit der Verpflichtung „zur Arbeiterklasse-Solidarität über die Farblinie hinweg für die menschliche Emanzipation“ formuliert (Satgar 2019a, 12). Wir dürfen daher den antirassistischen Kampf nicht als eine partikularistische Bestrebung um Sonderinteressen verstehen, wie es etwa die liberale Antidiskriminierungspolitik versucht (siehe hierzu auch Roldán Mendívil und Sarbo 2019), sondern als Teil eines universalistischen Kampfes für die Emanzipation aller.

„Für Marx ist dieser Kampf gegen den Kapitalismus zum Wohle des Menschen ein universalistischer Kampf. Der Punkt dieser Universalien ist, dass sie von zentraler Bedeutung sind, um die Welt des Kapitalismus zu verstehen und sie zu überwinden. Darüber hinaus negieren sie als Universalien die Besonderheit als Teil eines dialektischen Ganzen nicht“ (Satgar 2019a, 6)

Den antirassistischen Kampf daher auf eine Angelegenheit derjenigen zu reduzieren, die von Rassismus betroffen sind, ist verkürzt und wird dem Antirassismus als allgemein-emanzipatorischem Projekt nicht gerecht. Wir schließen uns daher Ibrahim u.a. an, die konstatieren:

„Wir wollen dagegen einen Umgang mit Fragen von Rassismus, der es ermöglicht politische Subjekte nicht nach ihrer Herkunft oder Hautfarbe einzuteilen – wie es auch der Rassismus tut – sondern danach fragt, wie antirassistische Kämpfe das Leben von uns allen verbessern können“ (Ibrahim u.a. 2012).

„[D]er Widerstand gegen Rassismus ist notwendig, möglich und geschieht“ (Satgar 2019b, 241). Die Frage ist nur, welche Rolle der revolutionäre Marxismus in aktuellen und zukünftigen antirassistischen Kämpfen, auch in Deutschland, einnehmen wird.

 

Literatur

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Anderson, Kevin B. (2016): Marx at the Margins: On Nationalism, Ethnicity, and Non-Western Societies, Chicago.

Balibar, Etienne (1998a): Gibt es einen „Neo-Rassismus“? In: ders./Immanuel Wallerstein (Hg.), Rasse, Klasse, Nation, Hamburg, 23-38. – (1998b): Rassismus und Krise, in: ders./Immanuel Wallerstein (Hg.), Rasse, Klasse, Nation, Hamburg, 261-271.

Bojadžijev, Manuela (2008): Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration, Münster.

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Castro Varela, María do Mar (2015): Willkommenskultur: Migration und Ökonomie. María Virginia González Romero im Gespräch mit María do Mar Castro Varela, in: Zülfukar Çetin/Savaş Taş (Hg.), Gespräche über Rassismus. Perspektiven & Widerstände, Berlin, 87-96.

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Jamin, Mathilde (1999): Fremde Heimat. Zur Geschichte der Arbeitsmigration aus der Türkei, in: Jan Motte u.a. (Hg.), 50 Jahre Bundesrepublik – 50 Jahre Einwanderung. Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte, Frankfurt a.M./New York, 145-164.

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Marx, Karl (1962): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, MEW 23, Berlin. – (1975 [1870]): Brief an Sigfrid Meyer und August Vogt, 9.4.1870, in: MEW 32, 665-670.

Miles, Robert (1989): Racism, London.

Müller, Jost (1992): Rassismus und die Fallstricke des gewöhnlichen Antirassismus, in: redaktion diskurs (Hg.), Die freundliche Zivilgesellschaft. Rassismus und Nationalismus in Deutschland, Berlin/Amsterdam, 25-44.

  • 1
    Statistiken sind hier trügerisch, da viele Angriffe von den Betroffenen nicht angezeigt oder anderweitig öffentlich gemacht werden. Die zugänglichen Zahlen – Anzeigen bei der Polizei sowie Chroniken anhand von Rekonstruktionen über Zeitungsartikel und Zeugenaussagen zeigen den explosionsartigen Aufwärtstrend ab 2015 deutlich: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Fl%C3%Bcchtlingsfeindliche_ Angriffe_in_der_Bundesrepublik_Deutschland, https://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/service/ chronik-vorfaelle und https://mediendienst-integration.de/desintegration/rassismus.html.
  • 2
    Wir benutzen das Wort ‘Rasse’, um auf den Rassifizierungsprozess hinzuweisen, welcher Menschen ob biologistisch oder kulturalistisch weiterhin in angeblich separate Menschengruppen fasst und reale, materielle sowie psychische Auswirkungen auf alle Gesellschaftsmitglieder hat (vgl. Miles 1989). Durch die Setzung des Konzeptes in einfache Anführungszeichen, soll aufgezeigt werden, dass es sich um eine analytische Kategorie handelt, eine Idee als soziale Konstruktion, dessen Grundprämissen wir als antirassistische Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen bekämpfen (vgl. Cole 2016). Wir denken, dass wir nicht über Rassismus sprechen können, ohne die ihm zugrunde liegende Kategorie der ‘Rasse’ zu benennen.
  • 3
    Wenn das Zitierte im Literaturverzeichnis auf Englisch angeführt ist, sind alle Übersetzungen unsere eigenen.

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