Von der Vertreibung zum Genozid

Zu den Ursachen, Triebkräften und Bedingungen der antijüdischen Politik des faschistischen deutschen Imperialismus

In der bürgerlichen Geschichtsliteratur ist die Behauptung in Mode gekommen, die materialistische Geschichtstheorie versage vor dem Phänomen des Faschismus. Die allgemeine Aussage quasi belegend, wird ihr eine andere, ebenso unbewiesene hinzugefügt: Marxistisches Denken sei insbesondere gegenüber dem Versuch der faschistischen Machthaber, die jüdische und jüdischherkünftige Bevölkerung1Zur Terminologie Kurt Pätzold, Faschismus, Rassenwahn, Judenverfolgung. Eine Studie zur politischen Strategie und Taktik des faschistischen deutschen Imperialismus (1933-1935), Berlin 1975, S. 84 ff. Europas restlos auszurotten, ganz und gar hilflos. »Marxisten sind nicht in der Lage«, so schreibt der amerikanische Religionshistoriker Erich Goldhagen, »auf derartige Fragen befriedigende Antworten im Rahmen ihrer Theorie zu geben.«2Erich Goldhagen, Weltanschauung und Endlösung, in: VfZ, 4/1976, S. 394. Die unmittelbare Absicht, die mit derartigen Auslassungen verfolgt wird, liegt wohl darin, die eigenen idealistischen und apologieinteressierten Deutungen des Genozids als allein wahr anzubieten und eine prinzipiell andere Fragestellung von vornherein als abwegig und falsch zu kennzeichnen.

Innerhalb der bürgerlichen Historiographie setzt sich jene Betrachtungsweise immer mehr durch, die Rassismus und Antisemitismus zum Ausgangs und Endpunkt jeglicher Faschismusforschung erklärt. Die gesamte faschistische Politik und der zweite Weltkrieg sollen einzig aus der vermeintlich zentralen und höchsten Zielsetzung des Hitlerfaschismus begriffen werden, die »Juden« zu vernichten; alle Entscheidungen und Maßnahmen des Regimes seien dem zu und untergeordnet gewesen. Rassismus und Antisemitismus werden schlechthin als Wesen und Hauptcharakteristikum des deutschen Faschismus ausgegeben. So meint Andreas Hillgruber, die »Hitlerschen (!) Kriegsziele« hätten eine »rassenideologische Komponente« besessen, die »den Verlauf und den Charakter des Krieges« entscheidend prägten und »in der systematischen Ausrottung des europäischen Judentums ihren Ausdruck« fanden. Diese Version, die von den komplexen, letztlich im sozialen System des Imperialismus wurzelnden Ursachen und Zielen des zweiten Weltkrieges weglenkt, gilt Hillgruber als »quellengesättigt«, und er glaubt, die »westlichen Historiker« besäßen mit ihr eine den Marxismus »aus den Angeln hebende Argumentation«.3Siehe die Besprechung Andreas Hillgrubers zu Deutschland im zweiten Weltkrieg, hg. von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Wolfgang Schumann, Bd. 1: Vorbereitung, Entfesselung und Verlauf des Krieges bis zum 22. Juni 1941, Leitung Gerhart Hass, Berlin 1974; Bd. 2: Vom Überfall auf die Sowjetunion bis zur sowjetischen Gegenoffensive bei Stalingrad (Juni 1941 bis November 1942), Leitung Karl Drechsler unter Mitarbeit von Llaus Drobisch u. Wolfgang Schumann, Berlin 1975, in: Historische Zeitschrift, Bd. 223, H. 2, S. 366.

In einer nur wenig abgeschwächten Form vertrat unlängst Martin Broszat die gleiche These. Der Krieg sei »gerade deswegen auch gewollt« worden, weil er neue »Möglichkeiten des gewaltsamen Vorgehens« gegen die jüdischen Menschen schuf. Die Absicht der »Judenvernichtung« wäre »selbst ein Stück Kriegsmotivation« gewesen. Imperiale Zwecke der Aggression werden demgegenüber von Broszat nur nebenher erwähnt und nicht näher bezeichnet.4Martin Broszat, Hitler und die Genesis der «Endlösung«. Aus Anlaß der Thesen von David Irving, in: VfZ, 4/1977, S. 770 f. Auch er will es dabei belassen, daß der Rassismus und insbesondere der Antisemitismus die alleinige oder dominierende Triebkraft bei allen wesentlichen Schritten des Regimes und die hauptsächliche Kriegsursache gebildet hätten. Historiker der BRD meinen offenkundig von den Zusammenhängen zwischen Kapitalismus und Faschismus, Bourgeoisie und NSDAP dadurch weglenken zu können, daß sie Rassenwahn und Judenhaß der faschistischen Führungsclique zum gedanklichen Ansatz jedweder Beschäftigung mit der Geschichte des deutschen Faschismus erklären.

Hitler, Rosenberg, Göring, Goebbels, Streicher, Himmler, Hans Frank, Reinhard Heydrich und viele weitere Faschistenführer dachten über die jüdischen Menschen im allgemeinen und die Deutschen jüdischer Herkunft im besonderen nicht nur abfällig und verächtlich, sondern auch sadistisch und mörderisch. Das ist unbestritten. In ihren Reden, Artikeln und Büchern bezeichneten sie die »Juden« lange vor 1933 immer wieder als »Parasiten« und »Schmarotzer«. Diese von den Nazis nicht erfundene, aber massenhaft verbreitete und durch zahllose Verdrehungen der Geschichte der Völker glaubhaft gemachte Diffamierung bereitete ideologisch auf lange Sicht Verfolgungen der jüdischen Deutschen vor, die durch keinen Anflug eines humanen Gedankens oder menschlichen Gefühls gehemmt waren.

Schon im Parteiprogramm der NSDAP von 1920 wurde, ungeachtet seiner Verschwommenheit in anderen innen und insbesondere wirtschaftspolitischen Passagen, die klare Absicht ausgedrückt, den deutschen Staatsbürgern jüdischer Herkunft im faschistischen Staat die Lebensgrundlage zu entziehen und sie über die Grenzen zu treiben. Aus dem Programm konnten bereits Schritte, Methoden und selbst Vorwände der Judenverfolgung, wenn auch noch unvollständig, abgelesen werden. Beispielsweise ging aus seinem Text hervor, daß der Faschismus an der Macht unter den Juden zuerst die Geistes und Kulturschaffenden verfolgen und ihnen die Arbeitsmöglichkeiten entziehen wollte. Allein dieses Detail wirft ein Licht auf die politische Funktionalität der nationalsozialistischen Judenfeindschaft, ging es im Kern dieser Forderung doch nicht da gehörigen der jüdischen Intelligenz »undeutsch« dachten und schrieben, sondern um die Tatsache, daß sie als Demokraten, Republikaner, Liberale, auch als Sozialisten und Kommunisten in Wort und Schrift, mit den Mitteln der Wissenschaft und Kunst gegen jedwede, insbesondere aber gegen die faschistische Reaktion wirkten.

Zweierlei war also bereits vor 1933 vorhanden: die mörderische rassistisch motivierte judenfeindliche Ideologie nationalsozialistischer Prägung und eine politische Programmatik, die zwar nicht alle denkbaren Ableitungen enthielt, nichtsdestoweniger aber erkennen ließ, daß die jüdischen Deutschen im »Dritten Reich« der Willkür der Machthaber recht und schutzlos ausgesetzt werden sollten.

Der Judenhaß der faschistischen Ideologen und Politiker hätte indessen geschichtlich niemals seine grausigen Folgen hervorbringen können, wäre ihnen nicht 1933 die Macht übertragen worden. Hier ist auf eine noch wenig analysierte Tatsache zu verweisen. Weder die extrem antijüdische Ideologie noch die vergleichsweise begrenzte, aber auch in dieser Begrenzung verbrecherische Parteiprogrammatik der NSDAP hinderten die am meisten chauvinistischen und imperialistischen Kreise des deutschen Finanzkapitals daran, die Nazipartei zu fördern und ihre Führer schließlich als diejenige Kraft zu favorisieren, welche die offene terroristische Diktatur aufrichten sollte. Wie ist das zu erklären, zumal da es doch nicht das kleinste Zeichen dafür gab, daß die Hitlerfaschisten Rassismus, Antisemitismus und Judenfeindschaft lediglich — was abscheulich und abstoßend genug gewesen wäre — als zeitweiliges Mittel zur Gewinnung eines vorwiegend kleinbürgerlichen Massenanhangs zu benutzen gedachten? Wie ist die von allen einschlägigen Quellen erteilte Auskunft zu begreifen, daß Hitler während seiner vielen Treffen, die er vor 1933 mit Angehörigen der Kapitalistenklasse hatte, zwar gezwungen war, immer wieder die Besorgnis seines Publikums über die sozialdemagogische Propaganda und insbesondere über die antikapitalistische Demagogie der NSDAP zu zerstreuen, sich aber nie genötigt fühlte, intern auch nur die schärfsten antisemitischen Drohungen abzumildern?

Die Feststellung, daß in der deutschen Bourgeoisie der Antisemitismus weit verbreitet und tief verwurzelt war, genügt zur Erklärung offenkundig nicht. Erst wenn bedacht wird, daß die herrschende Klasse in Deutschland Krieg, Novemberrevolution und revolutionäre Nachkriegskrise hinter sich hatte, Jahre, in denen sie kalt über Millionen Tote hinwegschritt und nicht nur den Massenmord an den Kriegstoten verantwortete, sondern auch die Massaker an Spartakisten, Kommunisten und anderen revolutionären Kämpfern, die Morde an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, an Leo Jogiches, Kurt Eisner, Eugen Levin& an Walther Rathenau und Mathias Erzberger, schließlich auch den Terror der Fememörder — erst wenn also das ganze Ausmaß der Verrohung der Politik der Bourgeoisie, namentlich seit dem Eintritt in das imperialistische Stadium und seit dem ersten Weltkrieg, in Betracht gezogen wird, kann verstanden werden, warum die Kirdorf, Thyssen, Flick, Schacht, die IG Farben Chefs und viele andere ihresgleichen sich von einer Partei angezogen fühlten, die tagtäglich Morddrohungen gegen deutsche Marxisten und gegen Deutsche jüdischer Abkunft ausstieß. Um von diesen Zusammenhängen abzulenken, ist nach 1945 oft gesagt worden, was der Machtübergabe folgte, hätte sich nicht absehen lassen. Indessen hat nicht ein einziger stichhaltiger Beweis dafür beigebracht werden können, worauf sich denn vor 1933 die Erwartung hätte stützen lassen, daß der mörderischen Ideologie nicht eine adäquate verbrecherische Praxis folgen werde.

Das Vorhandensein einer Ideologie, die den Massenmord an »Rassenfeinden« rechtfertigte und vorbereitete, besagt freilich nichts über die Existenz eines generellen unwandelbaren Mordplans der hitlerfaschistischen Führer. Für den faschistischen Antisemitismus und die Judenverfolgung gilt, was schon in der Anklageschrift des Internationalen Militärgerichtshofs von 1945, über das Regime als Ganzes geschrieben wurde: »Die Ziele und Zwecke der Naziverschwörer waren nicht ein für allemal festgelegt, sondern entwickelten und erweiterten sich im gleichen Maßstabe, wie ihre Macht sich erweiterte und wie sie imstande waren, wirksamer mit Gewalt und Angriffskrieg zu drohen.«5IMG, Bd. 1, Nürnberg 19, S. 32.

Im Gegensatz zu dieser Auffassung, die Ziele, Bedingungen und Politik des deutschen Faschismus an der Macht in ein dialektisches Verhältnis setzt, hat sich die Meinung, »die Judenvernichtung sei die unvermeidliche Folge der von den Nazis seit ihrer Machtübernahme konzipierten Rassenpolitik gewesen«, auch unter bürgerlichen Historikern jener Staaten weit verbreitet, deren kompetente Vertreter 1945 an der Herstellung der Nürnberger Anklageschrift maßgeblich beteiligt waren. Rita Thalmann, französische Germanistin und Historikerin, die diese Feststellung trifft, bemerkt über die Funktion jener haltlosen Hypothese, daß sich mit ihr »ein bequemes Alibi« für die Vorkriegspolitiker »der großen westlichen Nationen« liefern ließe, »deren schwächliche, wenn nicht gar völlig ausgebliebene Reaktionen« auf die faschistische Politik eine Bedingung dafür schufen, daß sich »die Gewalt . . . bis zur Ausrottung von Millionen von Juden, Slawen oder Zigeunern« eskalieren konnte.6Rita Thalmann, Das Protokoll der Wannseekonferenz: Vom Antisemitismus zur Endlösung der Judenfrage«, in: Wie war es möglich? Die Wirklichkeit des Nationalsozialismus. Neun Studien, hrsg. von Alfred Grosser. Aus dem Französischen von Felix Mager, München 1977, S. 149.

Auch Martin Broszat polemisiert dagegen, »die Judenvernichtung als eine Art metahistorisches Ereignis« aufzufassen und einzig »als konsequente Erfüllung eines Programms« zu begreifen, »lange vorgeformt in den ursprünglichen Denkansätzen, methodisch und >logisch< Stufe um Stufe ins Werk gesetzt«.7Broszat, S. 770, S. 746. Er faßt indessen Entwicklung und Radikalisierung der faschistischen Judenverfolgung lediglich als Folge von Veränderungen in den Plänen und Entscheidungen Hitlers auf. Damit aber wird die Geschichte der Judenverfolgungen nicht in die Totalität des geschichtlichen Prozesses hineingestellt, sondern einem seiner Faktoren zugeordnet. Und in der Tat bettet Broszat die Erkenntnis, daß die antisemitische Politik der Faschisten sich bis zu ihrer abschließenden Stufe, dem Genozid, entwickelte, fest in die von ihm verfochtene extrem personalistische Interpretation des Faschismus ein, die auf alle Fragen nach Ursachen und Triebkräften des Regimes letztlich stereotyp mit der Formel »Hitler« antwortet und auf diese Weise dem deutschen Monopolkapital das umfassendste Alibi ausstellt.8Ebenda, bes. S. 770.

Das strategische Ziel der Judenverfolgung im faschistischen Staat bestand seit seiner Etablierung bis zum Kriegsbeginn darin, die jüdischen Deutschen außer Landes zu treiben. Die politischen, ökonomischen und juristischen Regierungsmaßnahmen, die sich auf dieses strategische Ziel richteten, setzten 1933 ein, als vorwiegend jüdische Angehörige der deutschen Intelligenz gezwungen wurden, ihr Vaterland zu verlassen. Die Politik der Vertreibung gipfelte vor und nach dem Pogrom des 9./10. November 1938 darin, den jüdischen Bourgeois die Profitchancen und der kleinbürgerlichen Schicht die ohnehin zusammengeronnenen Verdienstmöglichkeiten restlos zu entziehen.

Ökonomischer und sozialer Druck, politische Drohung und terroristische Gewalttat verstärkten sich nun unausgesetzt und gewannen eine neue Qualität. Sie sollten gemeinsam mit der absichtsvoll erzeugten Furcht vor sich steigernden Pogromen bewirken, daß die Deutschen jüdischer Herkunft ihrer Heimat den Rücken kehrten, selbst wenn sie die ungewisseste Zukunft auf sich zu nehmen hatten. Das erklärte Vorhaben der Faschisten war es nun, das Deutsche Reich »judenrein« zu machen. In einem an alle diplomatischen und berufskonsularischen Auslandsvertretungen gerichteten Schreiben des Auswärtigen Amtes vom 25. Januar 1939 heißt es unumwunden: »Das letzte Ziel der deutschen Judenpolitik ist die Auswanderung aller im Reichsgebiet lebenden Juden.« Das »Schicksalsjahr 1938« habe »die Judenfrage ihrer Lösung nahegebracht«.9Arch. GKBZHP, NTN 332; Rundschreiben des AA an alle diplomatischen und berufskonsularischen Vertretungen im Ausland vom 25. 1. 1939, betr. »Die Judenfrage als Faktor der Außenpolitik im Jahre 1938«.

In der ausnahmslosen Vertreibung aller Deutschen jüdischer Herkunft erblickten die faschistischen Machthaber 1938/39 also die »Endlösung der Judenfrage« — ein Begriff, der seit 1933 im Sprachgebrauch der Staatsbürokratie bereits angetroffen wird und anfänglich vor allem die Vorläufigkeit der ersten antijüdischen Maßnahmen des Regimes hervorheben sollte.10Pätzold, S. 138 f.

Zu dem staatspolitischen Organ, das die Strategie der Vertreibung plante, leitete und organisierte, entwickelte sich 1935/36 der Sicherheitsdienst (SD) des Reichsführers SS. An seiner Spitze stand Reinhard Heydrich. Er leitete das 1935 geschaffene Sicherheits-Hauptamt und auch die im Juni 1936 entstandene erweiterte Institution; das Hauptamt Sicherheitspolizei. Heydrichs Verbindungslinien zu den mächtigsten Politikern im faschistischen Herrschaftsapparat liefen direkt zu seinem unmittelbaren Vorgesetzten, dem Reichsführer SS und (seit 1936) de facto Polizeiminister Heinrich Himmler, zu Hermann Göring, der am Vorabend des Krieges unumstritten der zweite Mann im Staate war und als der einzige Generalfeldmarschall im Reiche Entscheidungsbefugnisse und Einflußmöglichkeiten weit über seinen eigentlichen und ohnehin riesigen ökonomischen, politischen und militärischen Kompetenzbereich hinaus besaß, und schließlich zu Hitler selbst.

Während sich die Mitarbeiter Heydrichs zunächst darauf konzentrierten, die »Judenfrage« zu studieren, antisemitische Pamphlete für den Gebrauch im SD und in der SS auszuarbeiten und anderen Institutionen des faschistischen Herrschaftsapparates Vorschläge für die Verfolgung und Vertreibung der Deutschen jüdischer Herkunft zu unterbreiten, setzten sie sich ab 1937 zum Ziel, jegliche »Entscheidungen über die weitere Lösung der Judenfrage« maßgeblich mitzubestimmen und, vor allem durch Zusammenarbeit mit dem Innenministerium und dem Auswärtigen Amt, »direkten Einfluß auf die praktische Durchführung der Auswanderung zu bekommen«. Intern wurde die Absicht offen ausgesprochen, das Hauptamt Sicherheitspolizei zur zentralen und allgewaltigen Reichsstelle für die Judenverfolgung zu entwickeln: »Das Endziel. . . ist die Zentralisierung der gesamten Bearbeitung der Judenfrage in Deutschland bei SD und Gestapo.«11BA Koblenz, R 58/991, BI. 89; Schreiben von 11/112 an 11/1 vom 7. 12. 1937.

Diesem Ziel kamen Heydrich und seine Mitarbeiter rasch näher. Sie stellten stabile Beziehungen zu den wichtigsten Ministerien her, deren Entschlüsse und Aktivitäten sich auf die Art und Weise und das Tempo der Vertreibung auswirkten. Durch ihre besonders enge Zusammenarbeit mit dem Innenministerium, dem Auswärtigen Amt, dem Reichswirtschafts- und dem Reichskriegsministerium bzw. der Wehrmachtführung lernten die SD Mitarbeiter die verschiedenen Aspekte kennen, die in die Vertreibungspolitik hineinspielten. Sie fanden sich in den Komplikationen zurecht, die für die Außenpolitik aus unbedachten Schritten entstehen konnten, und erhielten Einblick in die vielschichtigen wirtschaftspolitischen Rücksichten, welche im Interesse des Fortgangs der Aufrüstung bei der Judenverfolgung noch zu nehmen waren.

Während dieser praktischen Tätigkeit festigte sich in der SD-Führung die Auffassung, daß die energische, nichtsdestoweniger Zeit erfordernde Vertreibung der einzig gangbare Weg wäre, die jüdischen Deutschen zu beseitigen. Heydrichs Dienststelle versuchte folgerichtig, auch die gesamte antijüdische Hetze so auszurichten, daß sie den Strom über die Grenzen beleben und unterhalten half. Dem dienten Verbindungen zu den zahlreichen pseudowissenschaftlichen Instituten, die sich mit der »Lösung der Judenfrage« beschäftigten, u. a. zur »Judenabteilung« des »Reichsinstituts für die Geschichte des neuen Deutschland«. Mitarbeiter des Hauptamtes sprachen vor Besuchern von SS-, SD-, SA- und BDM-Schulen, vor Kursanten der Kriegsakademie und vor Offizieren des Marineoberkommandos; dabei erhielt ihr Publikum die Gelegenheit, die Berliner Zentrale zu besichtigen und sich an Ort und Stelle über die Funktionsweise des Apparates der Judenvertreibung zu unterrichten.

Die SD-Führer nahmen, wie Heydrich sich rückblickend ausdrückte, »angesichts des Fehlens anderer Lösungsmöglichkeiten« jene Nachteile bewußt in Kauf, die aus ihrer Praxis erwuchsen.12Die Frage nach den langfristigen außenpolitischen Folgen der Judenvertreibung wurde von den Mitarbeitern des SD gesehen, aber geradezu verdrängt, um das Konzept nicht zu gefährden. Auf eine Aufforderung des Rasse und Siedlungshauptamtes der SS vom 8. Juli 1937 hatten die Spezialisten der Judenverfolgung im SD sich auch zu der Frage zu äußern, was aus Palästina durch die gesteigerte Einwanderung von jüdischen Menschen werden würde. In der Vorlage für ein SS-Leitheft wurde darauf geantwortet: »Wir können der Entwicklung dieses jüdischen Gemeinwesens nicht gleichgültig gegenüberstehen.« Eines Tages würden seine Vertreter im Völkerbund sitzen. Die zitierte Passage wurde nach Beratungen in der Zentrale des SD gestrichen (BA Koblenz, R 58/989, 131. 9 ff., 131. 29). Durch diese Praxis wurde ein Prozeß gefördert, den die Faschisten selbst als »Aufjudung« (analog zu der Zielstellung faschistischer Rassenpolitik, das deutsche Volk »aufzunorden«) bezeichneten. Sie sahen, daß der geistige Einfluß des Zionismus wuchs und die praktische Rolle der in Deutschland bis 1933 nahezu bedeutungslosen zionistischen Organisationen zunahm. Sie hielten diese unerwünschten Auswirkungen der Judenverfolgungen aber für unabänderlich und machten sie sich sogar zunutze, indem sie die zionistischen Führer bei der Verwirklichung der »SD-Linie« als Helfer heranzogen.

Nichtsdestoweniger existierten noch Anfang 1938 unter den Mitarbeitern des Hauptamtes Sicherheitspolizei, die sich mit der Lösung der »Judenfrage« befaßten, Zweifel darüber, wie weit man es mit der bisherigen Praxis der Verdrängung der jüdischen Deutschen ins Ausland bringen werde. über die zwischen 1933 und 1937 erreichten Ergebnisse der Judenverfolgung herrschte Unzufriedenheit. Es tauchte die Idee auf, statt der sukzessiven Vertreibung einzelner Personen und Familien eine außenpolitische Generallösung zu suchen, die den massenhaften Abtransport in andere Staaten ermöglichte. Bereits in diesem Zusammenhang wurde in Heydrichs Amt das sogenannte Madagaskar-Projekt erwähnt. Die vagen Vorstellungen über eine andere Methodik der Vertreibung, die rascher zum Endziel führen könnte, galten indessen schon bald als überholt. Würde die Tendenz, das Deutsche Reich zu verlassen, unter den Verfolgten gleichbleiben, so errechneten die Nazispezialisten, dann dürfte es »in mindestens 10 Jahren« innerhalb der deutschen Grenzen nur noch 60 000 meist alte jüdische Menschen geben.13BA Koblenz, R 58/979, unpag.; Schreiben von 11/112 an 11/1123, o.D. (etwa März 1938).

Ein Anschwellen des Flüchtlingsstroms aber wurde von einer Radikalisierung und Vereinheitlichung aller antijüdischen Maßnahmen erwartet.

Die umfassendste Gelegenheit dazu entstand, als die faschistischen deutschen Imperialisten im März 1938 den ersten souveränen europäischen Staat liquidierten.

Das eroberte Osterreich bot nicht nur Gelegenheit, die bisherigen Praktiken und darüber hinausgehende Pläne der Judenvertreibung in großem Stil anzuwenden, sondern stellte auch eine Herausforderung an die Okkupanten dar, sie weiter zu entwickeln und zu effektiveren. Hinzu kam, daß sich mit dem »Anschluß« Osterreichs die Zahl der jüdischen Bewohner Deutschlands mit einem Schlage vergrößerte und alle Ergebnisse der Judenvertreibung quantitativ zunichte gemacht waren. In »Großdeutschland« lebten nun mehr jüdische Menschen, als 1933 im »Altreich«.

Es wäre indessen verfehlt, das Vorgehen der faschistischen Eindringlinge gegenüber den österreichischen Juden in erster Linie aus dem freilich vorhandenen Vorsatz erklären zu wollen, diesen quantitativen Rückschlag rasch wettzumachen. Dieses Vorgehen war vielmehr grundlegend dadurch bestimmt, daß in der faschistischen Politik 1938 ganz allgemein die langfristigen außenpolitischen und Expansionsziele und der Krieg als das Instrument zu ihrer Erreichung immer mehr in den Vordergrund traten. Für Antisemitismus und Judenverfolgung bedeutete dies ebenfalls, daß deren strategische Funktionen das Übergewicht gewannen. Daraus erklärt es sich, daß die antijüdischen Verfolgungen auf dem Territorium Osterreichs nicht an jenem Punkte begannen, an dem sie 1933 in Deutschland eingesetzt hatten. Die einleitenden Schritte stellten nicht einmal eine verkürzte Rekapitulation der judenfeindlichen Politik dar, die in den fünf Jahren seit der Machtübergabe so viel Qualen für die jüdischen Deutschen gebracht hatte. Sie richteten sich, die ersten Stufen gewissermaßen überspringend, direkt auf das Ziel der Vertreibung.

Sicherheitsdienst, Gestapo und die anderen Organe des faschistischen Repressivapparates waren auf den Einfall in Osterreich sorgfältig vorbereitet. In Wien etablierte sich sogleich ein Sonderkommando des SD unser der Leitung von Adolf Eichmann. Es ging unverzüglich daran, die unter den jüdischen Österreichern entstandene Panik auszunutzen und durch Terror, u. a. durch die Verschleppung von führenden jüdischen Persönlichkeiten in Konzentrationslager, zu verstärken, um einen breiten Flüchtlingsstrom aus Angehörigen aller sozialen Klassen und Schichten, vor allem aber der weniger bemittelten und armen Juden, in Gang zu bringen und in Gang zu halten. Gnadenlos wurden die österreichischen Juden aus den neugeschaffenen österreichischen Gauen nach Wien verdrängt. Dort vegetierten sie in elenden Quartieren unter ghettoähnlichen Bedingungen. In einem noch vor Kriegsbeginn vom Verband der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen in Wien an Hitler gerichteten Notschrei heißt es, daß die jüdischen Angehörigen der K.u.K.Armee, die einst an der Seite der Heere des kaiserlichen Deutschlands gekämpft hatten, »in engen Räumen zusammengedrängt« hausten, »in denen für Kranke ein Leben undenkbar ist«.14Ebenda, R 4211/599 b, Bl. 142 f.; Schreiben des Verbandes der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden u. Waisen in Wien an Hitler vom 7. 7. 1939.

Im okkupierten Österreich offenbarte sich zuerst die grausige Konsequenz der faschistischen These, daß »jüdisches Leben« angeblich »unwertes Leben« sei. Sie trat aber zunächst als eine Art Nebenerscheinung der Vertreibungspolitik hervor. Noch erreichten Tausende jüdischer Menschen die Grenzen. Noch lebten in Österreichs einstiger Hauptstadt die Verfolgten. Erstmalig aber begannen die Organisatoren der Judenverfolgungen, ihre Opfer unter objektive Bedingungen zu zwingen, denen nicht mehr jeder gewachsen war. Physische Liquidierung war noch nicht das Ziel, störte aber die Faschisten nicht, trug der Tod einiger jüdischer Menschen doch dazu bei, die Vertreibung vieler zu beschleunigen.

Die Einzelheiten der Praxis des Kommandos Eichmann sind bekannt und zusammenfassend im Eichmann-Prozeß festgestellt worden. Für das hier zu untersuchende Problem ist zweierlei wichtig: Erstens betrachtete die Berliner SD-Zentrale Österreich als das Exerzierfeld für eine radikalisierte antijüdische Politik, die bald auch im »Altreich« angewendet werden sollte. Zweitens galten die von Eichmann und dessen Mitarbeitern gemeinsam mit der Gestapo erreichten Erfolge als der unwiderlegliche Beweis dafür, daß die »SD-mäßige« Behandlung der »Judenfrage« die einzige Methode sei, die zu einer »Endlösung« führen würde. Zu dieser Auffassung konnten die Spezialisten der Judenvertreibung im SD freilich nur gelangen, weil sie 1938 noch nicht in Betracht zu ziehen hatten, daß ein europäischer Krieg die Wirksamkeit ihrer Methode entscheidend beeinträchtigen könnte. Tatsächlich war die Entscheidung darüber, wann der große Krieg, der den militärischen Zusammenprall mit England und Frankreich, vor allem aber mit der Sowjetunion bedeutete, riskiert werden sollte, selbst im engsten Kreis der faschistischen Machthaber noch nicht gefallen. Nur so konnte sich im leitenden und organisierenden Zentrum der Judenvertreibung die Auffassung bilden, der Verfahrensweg für die »Endlösung« sei gefunden worden.

In Wien wurde seit Frühjahr 1938 die Judenvertreibung in einer Weise gehandhabt, die eine neue Stufe der Verfolgungen darstellte. Ihr Wesen wird allerdings nicht erfaßt, wenn sich der Blick nur auf das bürokratische Zentrum der Tätigkeit des Kommandos Eichmann im Palais Rothschild richtet, das jüdische Menschen nach vielen Zeugnissen überlebender als Antragsteller reich oder doch begütert betreten konnten, das sie aber pauperisiert wieder verließen, wenn ihnen schließlich die Papiere zur legalen Flucht ausgehändigt wurden. Daß die Zentrale der Vertreibung funktionierte und sich sogar noch den Anschein eines geregelten, von den »Juden« selbst gebilligten und unterstützten Wirkens geben konnte, war eben hauptsächlich das Resultat der brutalen Verfolgungen, denen die jüdischen Menschen durch Gestapo, nazistische Organisationen und alle Institutionen des faschistischen Staates tagtäglich ausgesetzt blieben. Dies allein sollte es verbieten, Legenden um die Tätigkeit des SD in Wien zu bilden.

Dennoch wird in bürgerlichen Geschichtsdarstellungen das sich in Wien 1938 ereignende Verbrechen an jüdischen Menschen beschönigt und als eine »milde Praxis« des Antisemitismus dargestellt. Es wird darauf verwiesen, daß, wer vertrieben worden sei, doch nicht hätte deportiert und ermordet werden können. Den SD-Mitarbeitern wird für eine Zeit ihrer Tätigkeit nachträglich das objektive Verdienst zugeschrieben, ihre Opfer immerhin vor der Vernichtung bewahrt zu haben — ein Verdienst, das auch Eichmann im Jerusalemer Prozeß für sich beanspruchte. Indem das überleben einer Minderheit gegen den Mord an der Mehrheit aufgerechnet wird, erscheinen Vertreibung und Vernichtung als zwei völlig entgegengesetzte Praktiken und außerhalb ihres engen historischen Zusammenhanges.

Das allgemeine, fortwirkende Resultat der in Wien geübten Praxis bestand aber objektiv in einer Annäherung an die Vernichtungspraxis, gingen doch die Vertreibung und das Bestreben, die Zahl der Fliehenden zu erhöhen, mit der Radikalisierung aller antijüdischen Maßnahmen einher, insbesondere mit einem wachsenden ökonomischen Druck, der sich bis zur faktischen Enteignung steigerte, die Betroffenen wirtschaftlich für das Regime wertlos machte und sie sozial von Stufe zu Stufe hinabstieß, bis sie schließlich, nachdem die letzten eigenen Mittel aufgebraucht waren, nur noch durch Almosen dahinvegetieren konnten. Die verlogene faschistische These von dem »unwerten« jüdischen Leben verwirklichte sich gewissermaßen im faschistischen Staat in der Unwertigkeit der arbeits- und funktionslos gemachten jüdischen Menschen — einer Unwertigkeit wohlgemerkt, die sich nach den Verwertungskriterien der Tauglichkeit für Kriegsvorbereitungen und Krieg bemaß. Der Flüchtlingsstrom und das organisierte Elend, die radikale Zerschlagung aller wirtschaftlichen, sozialen und sonstigen Bindungen der jüdischen Deutschen zur Mehrheit des deutschen Volkes und zum Leben dieses Volkes bildeten zwei Seiten einer Sache, der »SD-mäßigen« Behandlung und Lösung der »Judenfrage«. Wer zurückblieb, der konnte sich ausrechnen, wann er unweigerlich auf die Stufe des Paupers gesunken sein würde. Die Frage, wie diese jeder finanziellen Mittel beraubten und weitgehend um ihre physischen und psychischen Kräfte gebrachten Menschen über die Grenze abzuschieben sein würden, beschäftigte die SD-Spezialisten früh.15Eine Lösung schien mit der Ausraubung der reichen und begüterten jüdischen Menschen in Österreich gefunden. Siehe Schreiben Eichmanns an 11/112 vom 14. 9. 1938, in dem die Absicht geäußert wird, einen reichen »Juden« zu zwingen, neun ärmere mit sich zu nehmen (ebenda, R 58/1353, unpag.). Um die tatsächliche Verwendung der geraubten Geldbeträge entbrannte zwischen SD, Gestapo und anderen faschistischen Stellen des Staates und der Partei eine Auseinandersetzung. Siehe ebenda; Schreiben Eichmanns an Herbert Hagen vom 10. 5. u. 16. 6. 1939.

Die Politik der Vertreibung, richtiger wäre zu sagen: der forcierten Vertreibung, im besetzten Osterreich erprobt und alsbald auf das »Altreich« übertragen, besaß also ein doppeltes Resultat. Sie führte zur Flucht des kleineren Teils der Deutschen und Österreicher (nach der Okkupation der Tschechoslowakei auch der im »Protektorat Böhmen und Mähren« lebenden Tschechen) jüdischer Herkunft, und sie versetzte bis Kriegsbeginn den größeren Teil, der im faschistischen Machtbereich verblieb, zwangsweise in einen fluchtwilligen Zustand. Als dieses Teilziel der faschistischen Führung erreicht war und die Bereitschaft, außer Landes zu gehen, als Folge des Pogroms vom 9./10. November 1938 auf dem Höhepunkt, die Hoffnung, in Deutschland selbst noch einmal bessere Zeiten zu erleben, auf dem Tiefpunkt angekommen waren, da ließen Krieg und Kriegsereignisse den Flüchtlingsstrom rasch versiegen. Nur wer dieses zweifache Ergebnis ignoriert, kann einen Satz niederschreiben wie den, daß die »Auswanderungspolitik Heydrichs . . . sich aus der Rückschau . . . als eine Art großangelegter Rettungs-Aktion für Hunderttausende von Juden entpuppte«.16Günther Deschner, Reinhard Heydrich. Statthalter der totalen Macht, Biographie, Esslingen 1977, S. 174. Wenn von den objektiven Wirkungen dieser Politik die Rede ist, muß vor allem betont werden, daß sie einen Zustand herbeiführte, der die faschistische »Lösung der Judenfrage« in immer radikalere Bahnen drängte.

Der Blick auf das doppelte Resultat der Vertreibungspolitik macht auch deutlich, daß die Unterscheidung innerhalb der führenden faschistischen Politiker zwischen einer »Partei der Extremisten« des Antisemitismus und der Judenverfolgung, die vor allem von Hitler, Streicher und Goebbels gebildet worden sein soll, und deren Widersachern mit Heydrich als personellem und dem SD als institutionellem Mittelpunkt, konstruiert und unhaltbar ist17Beispielsweise ebenda, S. 166 Ideologisch und programmatisch können Unterschiede, die eine solche Differenzierung rechtfertigen, ohnehin nicht nachgewiesen werden. Praktisch wirkten die faschistischen Führer 1938/39 bei der forcierten Verdrängung der jüdischen Menschen, ungeachtet abweichender Auffassung über Methode und Tempo des Vorgehens, einträchtig zusammen. Praktisch bildete die hemmungslose antijüdische Hetze Streichers und der »Stürmer«Redaktion, die bereits die Aufputschung zum Mord einschloß, eine Art Motor der Vertreibungspolitik. Heydrichs und des SD verbrecherische Erfolge können so mit Recht die Erfolge von Streicher und Goebbels genannt werden.

Die Praxis der forcierten Vertreibung widerlegt alle Behauptungen, wonach die faschistischen Machthaber vor dem Kriege bereits einen generellen Mordplan besessen hätten, dem sich alle anderen und namentlich die Kriegspläne des deutschen Imperialismus untergeordnet hätten. Die Judenverfolgung zur Kriegsursache zu erklären, heißt die geschichtlichen Zusammenhänge geradezu auf den Kopf zu stellen. Im Zentrum der faschistischen Politik stand als das nächste strategische Ziel unverrückbar, das Deutsche Reich materiell und geistig zum frühestmöglichen Termin in Kriegsbereitschaft zu versetzen. Dieser Strategie dienten Antisemitismus und Judenverfolgung. Die Hauptfunktion der antijüdischen Ideologie und Praxis der Vorkriegsjahre bestand aber darin, die »nationalsozialistische Volksgemeinschaft« aggressiv zu formieren und sie sukzessive auf ihre Rolle als Kriegsgemeinschaft vorzubereiten. Für die den Deutschen zugedachte Bestimmung, Instrumente imperialistischer Eroberungspolitik zu sein, sollten sie hassen, verachten, knechten, quälen, foltern, töten und morden lernen. Sich verbrecherisch gegenüber Angehörigen anderer Völker und Rassen zu benehmen, sollte ihnen geradezu als das natürliche Vorrecht ihrer »Rasse« erscheinen. Judenfeindschaft und verfolgung drillten vielen Deutschen jene unmenschliche Weise des Denkens und Fühlens ein, die, als sie sich seit 1939 austobte, Millionen Menschen in der Welt vor Entsetzen erstarren ließ.

In der geistigen und moralischen Kriegsvorbereitung der Deutschen erschöpften sich Antisemitismus und Judenschinderei aber nicht. Sie dienten dem Regime vor und auch noch im Kriege dazu, sich als revolutionär auszugeben. Die »Arisierungen«, das Verschwinden der jüdischen Banken und industriellen Firmen, der jüdischen Warenhäuser, Geschäfte und Läden sollte darüber hinwegtäuschen, daß diese vorgebliche »nationalsozialistische Revolution« in Wirklichkeit an den Eigentumsverhältnissen der kapitalistischen Gesellschaft nicht einmal gerüttelt hatte. In seiner Anwendungsform als Revolutionsersatz hatte sich der Antisemitismus 1938 nicht erschöpft. Waren die »jüdischen Plutokraten« auch im faschistischen Staat schließlich liquidiert, so existierten sie doch in London, Paris und anderswo fort und leiteten angeblich von da aus den Kampf gegen das »neue Deutschland«. Die antijüdische Aufstachelung gegen »den Juden« als den angeblichen inneren Feind ging bruchlos in die Legende vom »Weltfeind Judentum« über. Die Aufrufe, die dem deutschen Volk Anfang September 1939 begründeten, warum es nun Krieg zu führen hätte, zeugen davon, wie die faschistische Führung die Volksmassen von einer »blutsmäßigen« Erkenntnis zur folgenden, d. h. von einer antisemitischen Lüge zur nächsten, noch ungeheuerlicheren drängte.18Siehe die faschistischen Appelle an das Volk und die Mitgliedschaft der NSDAP nach den Kriegserklärungen Frankreichs und Englands, Völkischer Beobachter, vom 4. 9. 1939.

In seiner Anwendung für den Krieg, auf den das Regime vom Tage seiner Errichtung an zugestrebt hatte, konnte sich der faschistische Antisemitismus praktisch niemals vernutzen, solange auf dem Erdball noch irgendwo »Juden« lebten, wirkliche oder deklarierte. Nach der pragmatischen, auf die Bedürfnisse des deutschen Imperialismus zugeschnittenen Struktur des faschistischen Antisemitismus war es unmöglich, daß die »Juden« den Hitler und Goebbels, den Himmler und Heydrich ausgehen konnten, bevor dieser Imperialismus an seinem Endziel, der Beherrschung der Welt, anlangte. Waren die jüdischen Menschen aus Berlin, Wien und Prag, aus Warschau, Amsterdam, Brüssel und Paris viehisch umgebracht, so wirkte der »Weltfeind« in seiner angeblich zwiefachen Gestalt doch in Moskau und New York weiter als der »jüdische Bolschewismus« und das »jüdische Plutokratentum«.

Die Anstrengungen, die der Vertreibung der jüdischen Menschen aus dem faschistischen Machtbereich galten, lassen sich in ein Geschichtsbild nicht einpassen, das einen vorgefaßten faschistischen Stufenplan der Judenverfolgung bis zum Massenmord zeichnet. Deportation und Vernichtung waren nicht, wie Karl-Dietrich Bracher schreibt, »nur eine Frage der Zeit und Gelegenheit«.19Karl-Dietrich Bracher, Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Köln 1969, S. 397. Sie bildeten 1939 noch keine von der faschistischen Führung für irgendeine künftige Situation beschlossene Politik. Daher stellte die Vertreibung der jüdischen Einwohner bis zum Kriegsbeginn eine reale Alternative zu jener Vernichtungsstrategie dar, die in einem späteren Stadium geplant und verwirklicht wurde. Diese zeitweilige Alternative konnte hunderttausendfache Lebensrettung aber nur unter der Bedingung bringen, daß die faschistischen Machthaber durch Abschreckung zum Frieden gezwungen wurden. Dieser Fall trat nicht ein. Als die Faschisten zur Politik der forcierten Vertreibung übergingen, erreichte die Münchner Politik ihren Höhepunkt, jene Politik, aus der für die Faschisten die stärkste Ermutigung zu immer abenteuerlicheren kriegerischen Schritten erwuchs.

 

Eine Darstellung der faschistischen Judenverfolgung, die sich von dem wissenschaftlich nicht haltbaren Schema »Am Anfang war der Mordplan, am Ende der Massenmord» löst und von ihrer Geschichte selbst handelt, wird den Schritt von der Strategie der Vertreibung zur Strategie des Genozids dann und dort verfolgen müssen, wo er sich vollzog: während des Krieges und auf dem Territorium Polens. Eine derartige Untersuchung hat aber nur Erfolgsaussichten, wenn sie den imperialistischen Krieg der Hitlerfaschisten als eine soziale Totalität auffaßt und ihn nicht lediglich als eine Folge von Ereignissen ansieht. Von der Frage nach dem Charakter des Krieges und den Zielen, die der deutsche Imperialismus durch ihn zu erreichen suchte, kann dabei nicht abgesehen werden. Der zweite Weltkrieg begann als europäischer Krieg und militärische Auseinandersetzung imperialistischer Mächte. Er wird schon durch seinen Namen in Beziehung zum Krieg der Jahre 1914 bis 1918 gesetzt. Beide Kriege entstanden aus dem Bestreben imperialistischer Mächtegruppen, die zwischen ihnen existierenden und aufs äußerste zugespitzten Widersprüche mit militärischer Gewalt, durch Expansion und Okkupation zu lösen. In beiden Fällen war es der deutsche Imperialismus, der — vor allen anderen an einer Neuaufteilung der Territorien, ihrer wirtschaftlichen Ressourcen und Einflußsphären interessiert — auf den Krieg drängte und ihn auslöste.

Imperialistisch wie die Kriegsziele und ihnen angemessen war auch die Ideologie, durch deren Verbreitung die herrschenden Kreise in Deutschland die Massen auf die Politik der militärischen Eroberungen geistig und psychisch eingestellt hatten. Maß und grenzenlos wie jene war diese eine extreme Aufgipfelung geistiger Aggressivität gegen andere Völker und Nationen. Die Absicht der deutschen Imperialisten, in einer Kette von aufeinanderfolgenden Kriegen die Vorherrschaft auf dem Erdball zu erlangen und sie dauernd zu behaupten, besaß ihre ideologische Entsprechung in einer Weltanschauung, derzufolge die Deutschen ein von der Vorsehung auserwähltes Volk waren, dazu berufen, über andere »verjudete« und »vernegerte« Nationen zu herrschen. Die Deutschen sollten glauben, daß sie einem geheimen, von ihren faschistischen Führern erkannten Weltplan folgten, wenn sie über andere Völker herfielen, um sie sich — in Wirklichkeit jedoch den realen ökonomischen und politischen Interessen des deutschen Finanzkapitals — untertan zu machen.

Die hier schon gekennzeichnete Rolle, die insbesondere der Antisemitismus in der faschistischen Kriegsideologie und bei der Beantwortung der Fragen spielte, warum der Krieg entstand und wer an ihm interessiert sei, ließ von vornherein Schlimmes für die jüdischen Menschen befürchten, die sich bis zum 1. September 1939 noch nicht zur Flucht entschlossen hatten oder deren Pläne der Kriegsausbruch durchkreuzte.

Mit dem Kriegsbeginn trat eine objektive Lageveränderung ein. Dieser Wandel berechtigt dazu, ungeachtet der anfänglich noch ausbleibenden schärferen antijüdischen Maßnahmen und Verfolgungen, den Kriegsbeginn als den Ausgangspunkt einer neuen Etappe des antisemitischen Rassismus der Faschisten zu bewerten. So sah übrigens auch der SSOffizier Dieter Wisliceny rückblickend die Sache an, als er im Herbst 1946, kurz vor seiner Hinrichtung, im Gefängnis von Bratislava schrieb: »Der Ausbruch des Krieges, die schnelle Besetzung Polens und Hitlers Entschluß, die polnischen Gebiete zu annektieren, schufen eine völlig neue Situation und brachten neue Konsequenzen.«20ZStA Potsdam, Filmsammlung Nr. 5436, Dok. 773. Wodurch war die neue Situation im einzelnen charakterisiert?

Erstens erschwerte der Kriegsbeginn die organisatorischen, ökonomischen, finanziellen und technischen Maßnahmen zur Vertreibung der »Juden« aus dem Reichsgebiet. Die Tätigkeit der »Auswanderungszentralen«, mit so weitgesteckten Hoffnungen begonnen, stieß auf immer größere Hindernisse.

Zweitens waren gelegentlich erwogene Generallösungen, die so oder so darauf hinausgelaufen wären, die jüdischen Menschen gegen eine möglichst hohe Devisensumme an das Ausland zu verkaufen—Devisen, die wiederum der Kriegsvorbereitung dienen sollten —, durch die Ereignisse überholt. Nun sollte der Krieg den Krieg ernähren, die Eroberung eines Landes die materiellen Ressourcen für den Angriff auf das nächste schaffen.

Drittens vermehrte sich mit jedem Kilometer, den die faschistische Militärmaschine nach Osten vorrückte, die Zahl der jüdischen Menschen im deutschen Machtbereich. Sie vergrößerte sich wegen des relativ hohen Anteils der jüdischen Bevölkerung Polens ungleich rascher, als die Zahl der Deutschen, Österreicher und Tschechen jüdischer Herkunft durch die versiegende Emigration abnahm.

Viertens ließ sich von vornherein erkennen, daß die Organisierung der Auswanderung dieser auf polnischem Territorium lebenden Menschen eine unlösbare Aufgabe sein würde. Unter ihnen befanden sich, gemessen an den Verhältnissen im Deutschen Reich und den okkupierten Gebieten Osterreichs und der Tschechoslowakei, eine ungleich höhere Anzahl sehr armer Juden. Die Emigration der jüdischen Armut bereitete aber, wie es namentlich die österreichischen Erfahrungen gezeigt hatten, den Faschisten besondere Schwierigkeiten.

Fünftens stellte sich schon in den ersten Kriegswochen heraus, daß die faschistischen Eroberer mit den jüdischen Menschen, die ihnen in Polen während eines Feldzuges in die Hände fielen und nicht nur als »Juden«, sondern obendrein als »Juden in einem Feindvolk« galten, augenblicklich rabiater, brutaler und — im wahrsten Wortsinn — sogleich auch mörderisch verfuhren. In Polen begann die faschistische Judenverfolgung im September 1939 auf einer anderen Stufe als in dem im Frieden okkupierten Gebieten des ehemaligen österreichischen und tschechoslowakischen Staates. Zusammentreibung, Ghettoisierung, erste Deportationen und Massaker gaben ihr von Anbeginn an das Gepräge. Diese auf dem Territorium Polens geübte Praxis konnte auf die Dauer nicht ohne Rückwirkungen auf die Mißhandlung der jüdischen Menschen in allen anderen Teilen des faschistischen Machtbereiches bleiben.

Sechstens ließ der Krieg das Bedürfnis der imperialistischen Machthaber nach rassistischer und antisemitischer Ideologie unausgesetzt weiter steigen, zumal da der innere Zwang des Regimes fortexistierte, dem eigenen Volke immer wieder einzuschärfen, warum es Krieg zu führen habe. Das galt auch für das Interesse, die deutschen Besatzungssoldaten in Polen mit einer Rechtfertigungsideologie für die allen internationalen Rechtsnormen widersprechenden Gewalttätigkeiten und Grausamkeiten auszustatten, die buchstäblich Tag für Tag begangen wurden.

Aus dieser hier im thesenhaften Aufriß gegebenen Situation konnte über kurz oder lang für alle jüdischen Menschen im faschistischen Herrschaftsbereich nur Unheil erwachsen. Es war nur abzuwenden, wenn sich der Kriegsverlauf grundlegend und rasch zuungunsten der deutschen Imperialisten veränderte. Daran aber war im Herbst 1939 nach dem für sie so erfolgreichen Feldzug gegen Polen angesichts der Untätigkeit der imperialistischen Westmächte nicht zu denken.

Noch während der letzten militärischen Kämpfe gegen die Reste der polnischen Armee befaßten sich die faschistischen Spezialisten mit den veränderten Umständen für die »Lösung der Judenfrage«. Heydrich, der wenige Tage später an die Spitze des neugeschaffenen Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) gestellt wurde, rief am 21. September 1939 die Chefs der sogenannten Einsatzgruppen der SS, die in Polen auch nur jeden Gedanken an Widerstand durch abschreckendsten Blutterror zu ersticken suchten, zu einer Besprechung nach Berlin, die der »Judenfrage im besetzten Gebiet« galt. Ihr Ergebnis wurde am gleichen Tage in einem Erlaß21Ebenda, Dok. 775. zusammengefaßt. Er enthielt, noch bevor über die Organisation des Okkupationsregimes insgesamt entschieden war, den Generalplan für die Judenverfolgungen in Polen.

Heydrichs Erlaß unterschied zwischen einem Endziel, dessen Erreichung eine längere Frist erfordere, und »den Abschnitten der Erfüllung dieses Endziels«, die kurzfristig zurückzulegen wären. Es ging allerdings nicht hervor, was im Rahmen dieses ersten antijüdischen Generalplans für die eroberten polnischen Gebiete unter den Begriffen »Endziel« oder—dieser Ausdruck wurde synonym gebraucht— »geplante Gesamtmaßnahmen« verstanden wurde. Jedenfalls wurde ausdrücklich bestimmt, daß dieses »Endziel« streng geheim zu halten wäre. Indessen .wiesen die einzuleitenden Schritte bereits in eine eindeutige Richtung. »Als erste Vorausnahme« (das dürfte ein Schreibfehler sein und dem faschistischen Sprachgebrauch entsprechend >Vorausmaßnahme< heißen) sei, so hieß es, »die Konzentrierung der Juden vom Lande in die größeren Städte« vorzunehmen. Da weiter bestimmt wurde, es solle sich in allen Fällen um Eisenbahnknotenpunkte, wenigstens aber um Orte mit Eisenbahnstationen handeln, war nicht daran zu zweifeln, daß es sich um vorläufige Konzentrierungsräume handelte, aus denen die jüdischen Menschen zu gegebener Zeit in fernere Gebiete deportiert werden sollten.

Bereits dieser ersten Entscheidung der faschistischen Machthaber vom September 1939 lag die — allerdings, wie sich bald zeigte, in ihren Folgen für die faschistischen Eroberungs- und Kriegsinteressen auch nicht annähernd durchdachte — Überlegung zugrunde, daß sie nun selbstherrlich über ein Territorium verfügen konnten, in das sich Polen und »Juden« vertreiben ließen, ohne daß mit irgendeiner ausländischen Regierung verhandelt, Einwanderungsquoten und -bedingungen beachtet werden müßten. Auch andere Rücksichten, insbesondere wegen unerwünschter propagandistischer Wirkungen im Ausland, schienen nun ganz überflüssig zu sein. Unter diesen Umständen gewann die Politik der Vertreibung eine neue Qualität, und auch ihre Methoden wurden von Anbeginn brutaler. Vor allem unterschied sich das Ergebnis der Vertreibung grundlegend von jenem, das bis zum 1. September 1939 erreicht wurde. Jetzt blieben die Vertriebenen im faschistischen Bereich und damit der Entscheidung und dem Zugriff ihrer Peiniger ausgesetzt.

Diente Heydrichs Erlaß vom 21. September 1939 der Vorbereitung der Deportationen, so bestimmte eine von Himmler am 30. Oktober 1939 in seiner neuen Eigenschaft als Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums gegebene Anordnung Beginn, Umfang und Fristen der Vertreibung.22Arch. G KBZHP, NTN 332, Bl. 10; Anordnung 1/11 des Reichsführers SS als Reichskommissar zur Festigung deutschen Volkstums vom 30. 10. 1939. Binnen vier Monaten, zwischen November 1939 und Februar 1940, sollten aus den ehemals west und nordpolnischen, »jetzt reichsdeutschen Provinzen und Gebieten« alle Juden, alle in Danzig-Westpreußen ansässigen »Kongreßpolen« und eine noch nicht näher bezeichnete Gruppe »besonders feindlicher polnischer Bevölkerung« ins Generalgouvernement transportiert werden. Die höheren SS und Polizeiführer (HSSPF) und die Inspekteure bzw. Befehlshaber der Sicherheitspolizei wurden beauftragt, den »Umsiedlungsplan« gemeinsam festzulegen.

Bereits am 31. Oktober 1939 informierte der Chef der Sicherheitspolizei im Generalgouvernement, SSBrigadeführer Bruno Streckenbach, seinen Vorgesetzten Hans Frank in Lödi, wo dessen Zentralbehörde vor ihrer Etablierung in Krakau arbeitete, über den bevorstehenden Auftrag, Hunderttausende vertriebener Polen und »Juden« in geschlossenen Transporten aufzunehmen und zu verteilen. Frank beauftragte seinerseits den HSSPF im Generalgouvernement, Wilhelm Krüger, die »Flüchtlingstransporte« zu organisieren.23Ebenda, Hans Franks Tagebuch (im folgenden: Frank Tgb.); Empfang des SS-Obergruppenführers Krüger durch Frank am 31. 10. 1939; siehe auch Stanislaw Piotrowski, Hans Franks Tagebuch, Warschau 1963, S. 279. Praktisch fühlte sich die Sicherheitspolizei nur dafür zuständig, die Opfer der Deportation zusammenzutreiben, zu verladen, die Eisenbahnzüge während der Fahrt zu bewachen, damit niemand entkam, und für den raschen Rücktransport der Waggons zu sorgen, damit der Vertriebenenstrom nicht unterbrochen wurde. An den Bestimmungsorten waren die polnischen Behörden und die nach Heydrichs Erlaß geschaffenen Judenräte24ZStA Potsdam, Filmsammlung Nr. 5436, Dok. 775. für die Unterbringung der Deportierten verantwortlich.

Berücksichtigt man, daß sich als Folge der Aggression in weiten Gebieten Polens eine furchtbare soziale Katastrophe anbahnte, dann wird die verzweifelte Lage derjenigen vorstellbar, die, enteignet und vertrieben, mit Handgepäck und einer ihnen zugestandenen winzigen Barschaft in fremder Umgebung und widrigsten Umständen einer ungewissen Zukunft ausgesetzt wurden. Hinzu kam, daß die Organisation der Vertreibung hastig und zum Teil improvisiert war und die Witterungsverhältnisse sich täglich verschlechterten.

Am 12. November 1939 erließ der HSSPF Posen die für den Reichsgau Wartheland gültigen Durchführungsbestimmungen zu Himmlers Anordnung, die als Maßnahmen zur »Durchführung der vom Führer gestellten großen historischen Aufgabe« charakterisiert wurden.25Arch. GKBZHT, NTN 332; Rundschreiben des HSSPF Posen vom 12. 11. 1939, betr. Abschiebung von Juden u. Polen aus dem Reichsgau »Warteh-Land«. Ihr Text machte die besatzungspolitischen Zwecke der Deportation besonders deutlich, wurde als Ziel doch »die Säuberung und Sicherung der neuen deutschen Gebiete« und »die Schaffung von Wohnungen und Erwerbsmöglichkeiten für die einwandernden Volksdeutschen« bezeichnet. Mit den Juden zusammen sollten »die geistig führende Schicht, die gesamte Intelligenz« sowie alle politisch tätigen Polen, insbesondere maßgebliche Mitglieder von Parteien und Verbänden, enga gierte Katholiken, Priester wie Laien, gewaltsam abtransportiert werden. Insgesamt waren während der »Erstaktion« 200 000 Polen und 100 000 »Juden« aus dem Warthegau ostwärts zu treiben.

Polen und »Juden« wurden allerdings seit Beginn der »Germanisierung« nach ungleichen Grundsätzen behandelt. Für jene existierten, wenn auch nur grob umrissene politische Maßstäbe, nach denen die Deportierten auszuwählen waren, für diese galt prinzipiell keine Ausnahme. Diese Verfahrensweise entsprang vor allem dem unterschiedlichen Urteil der Faschisten über die Tauglichkeit von Polen und »Juden« als Arbeitssklaven. Die jüdischen Einwohner, zumeist Händler, Handwerker und auch Angehörige der Intelligenz, schienen für die Ausbeutung in industriellen und landwirtschaftlichen Betrieben weniger geeignet und nicht notwendig zu sein und galten deshalb als durchweg deportationsfähig. Die generelle Vertreibung der Polen hätte hingegen Arbeitskräfte betroffen, die — so hieß es auch in den Bestimmungen des HSSPF Posen — »nicht zu entbehren sind«.26Ebenda. Hinzu kam, daß der Wert der polnischen Arbeitskräfte namentlich den ostelbischen Großgrundbesitzern seit langem bekannt war. Diese beuteten seit Jahrzehnten Saison und andere Arbeiter aus Polen schamlos aus, ließen sie vom Morgengrauen bis zur Finsternis auf ihren Gütern schuften, in kasernenähnlichen, menschenunwürdigen Unterkünften vegetieren und gestanden ihnen keinerlei politische, gewerkschaftliche oder allgemeine Menschenrechte zu. Dieses Pariadasein der polnischen Saisonarbeiter gab für die faschistische Kolonialpolitik in Ostpreußen eine Art Leitbild ab. Gleichzeitig galt die nichtjüdische Bevölkerung Polens als Arbeitskräftereservoir für die gesamte Landwirtschaft des »Altreichs«, die als Folge der Einberufung von Bauern und Landarbeitern zur Wehrmacht dringend Arbeitskräfte benötigte.

Die faschistische Deportationspraxis wurde also von realen strategischen und taktischen Überlegungen bestimmt, von denen die materiellen letztlich ausschlaggebend waren. Gleichzeitig sind in ihr auch die direkten Einflüsse der Rassenideologie auf die Handelnden nachweisbar, denen die »Juden« einzig als parasitäre Subjekte galten, nicht produzierend, aber konsumierend, als »Schmarotzer« also, die angeblich überall von den Arbeitsfrüchten anderer zehrten und den Körper ihrer »Wirtsvölker« aussaugten und schwächten. Aus diesem Gesichtspunkt mußten die »Juden« in Polen den Eroberern geradezu als lästige Konkurrenz erscheinen, wollten sich doch nun die deutschen Imperialisten an den Polen, ihrer Arbeitskraft und ihrem Eigentum schadlos halten.

Auf der faschistischen Skala der Wertigkeit der Völker standen die »Juden« am untersten Ende, sozusagen unterhalb des Nullwertes und damit jenseits der Marke, die zwischen Brauchbarkeit und Unbrauchbarkeit entschied. Selbst als »Händlervolk«, als das die Nazipropaganda die »Juden« diffamiert hatte, waren sie in Polen nur zeitweilig und bedingt vonnöten, wollten die Okkupanten doch nicht handeln, sondern requirieren, nicht kaufen, sondern rauben. So sicher wie das faschistische Zerrbild vom »Judentum« selbst zur Quelle antijüdischer Pläne und Verfolgungen wurde, so sicher widerspiegelte dieses Bild — im weitesten und vollständigsten Sinne — materielle Interessen des Imperialismus und diente ihnen. Mehr noch: Das verlogene Bild vom unwerten »Juden« wurde selbst von den fanatischsten Rassisten dann aufgegeben, wenn reale Macht und Ausbeutungsinteressen es geboten erschienen ließen. Dann konnten sich die angeblich unproduktiven und unschöpferischen Opfer der Verfolgungen augenblicklich in brauchbare, unter Umständen sogar gesuchte Arbeitssklaven verwandeln. Darüber gibt vor allem die Geschichte der Judenverfolgungen im Generalgouvernement Aufschluß.

Der Entschluß zur Deportation löste im Rahmen des faschistischen Eroberungsprogramms unweigerlich den Zwang zu weiteren Entscheidungen aus. Sie lauteten: Ghettoisierung und Arbeitslagerhaft. Auf einer weiteren Beratung Heydrichs mit leitenden Mitarbeitern am 30. Januar 1940 wurde davon ausgegangen, daß in den annektierten Gebieten auf Grund der Deportationen eine »Judenfrage« bald nicht mehr existieren werde. Im Generalgouvernement aber sollte sie dadurch gelöst werden, daß Frauen, Kinder und andere nicht arbeitsfähige Personen in Ghettos und die arbeitsfähigen Männer — Heydrich sprach von mehreren Hunderttausend Juden — in Zwangsarbeitslagern zusammengepfercht wurden. Dabei war daran gedacht, die jüdischen Arbeitssklaven beim »Bau des Walles (gemeint waren militärische Anlagen an der Grenze zur UdSSR— K. P.) und sonstigen Vorhaben im Osten« einzusetzen.27ZStA Potsdam, Filmsammlung Nr. 5436, Dok. 468; Besprechung Heydrichs mit Seyss-lnquart, HSSPF aus den besetzten Gebieten Polens u. a. SS-Führern vom 30. 1. 1940.

Diese Besprechung bildet das früheste Zeugnis dafür, daß die faschistischen Machthaber die Tötung tausender jüdischer Menschen als Ergebnis ihrer judenfeindlichen Politik zumindeit einkalkulierten. Der Weg in die Zwangsarbeitslager, den die jüdischen Männer zu gehen hatten, würde ebenso wie die Ghettoisierung aller anderen Personen ihre physische und psychische Zermürbung, schließlich ihre Dezimierung durch Arbeit, Hunger, Seuchen, Schikanen jeder Art, klimatische und Wetterunbilden bedeuten. Die mörderische antisemitische Idee, bisher in einer allgemeinen abstrakten Form existierend, begann die Gestalt eines konkreten Vorhabens anzunehmen. Zu diesem Zeitpunkt war der Entschluß zur Ermordung von Millionen noch nicht gefallen, aber gedanklich wie praktisch war ein Schritt auf ihn hin getan.

Dennoch hing das weitere Schicksal der jüdischen Menschen im Machtbereich des deutschen Imperialismus nicht nur von den Entschlüssen der faschistischen Machthaber ab. Die innere Logik ihres antijüdischen Denkens mußte nicht notwendig zur Logik der Geschichte werden. Konnten die Deportationsmaßnahmen in Polen überhaupt nur unter den Bedingungen des »Komischen Krieges« vorangetrieben werden, so vermochte der Krieg in Westeuropa, einmal entbrannt, die Pläne und Möglichkeiten der Judenverfolgung unter Umständen nachhaltig zu verändern.

Der Plan, die jüdische Bevölkerung massenhaft als die billigsten Zwangsarbeiter einzusetzen, beherrschte die Spezialisten der Judenverfolgung, seit sich mit Kriegsbeginn die Arbeitskräftesituation des deutschen Imperialismus drastisch verschlechtert hatte. Es lag auf dieser Linie, daß eines der ersten antijüdischen Gesetze im Generalgouvernement am 26. Oktober 1939 den Arbeitszwang für alle »Juden« und deren Einsatz in geschlossenen Zwangsarbeitertrupps bestimmte.28Albert Weh (d. i. der Leiter der Abteilung Gesetzgebung im Amt des Generalgouverneurs), Das Recht des Generalgouvernements, Krakau 1940, Dok. 250. Die vom HSSPF erlassenen Durchführungsbestimmungen zu dieser Verordnung siehe ebenda, Dok. 251, Dok. 252. Wichtiger noch war die gleichzeitige Ermächtigung des HSSPF im Generalgouvernement, die Durchführungsvorschriften zu erlassen. Damit sollte das gesamte Leben der »Juden« einschließlich ihrer Arbeitstätigkeit direkt der Polizei, d. h. den Inspekteuren und Befehlshabern der Sicherheitspolizei und deren Apparaten, unterstellt werden. Der im SD ursprünglich gefaßte Vorsatz, führenden Einfluß auf alle Fragen der Judenverfolgung zu erlangen, hatte sich nun dahin ausgeweitet, dem RSHA das uneingeschränkte Verfügungsmonopol über alle jüdischen Menschen zu übertragen.

Indessen stellte sich bald heraus, daß Heydrichs weitgesteckte Pläne tur Errichtung von Zwangsarbeiterlagern sich nicht verwirklichen ließen. Zwar wollten die Faschisten die jüdischen Menschen schamlos ausbeuten, gleichzeitig aber scheuten sie die Kosten, die bereits die Errichtung der vier ersten Konzentrationslager für jüdische Zwangsarbeiter verursachen würden.29Arch. GKBZHP, Frank Tgb. 1940/1/111, Bl. 25 f.; Vortrag von Finanzpräsident Spindler beim Generalgouverneur über Etatslage vom 15. 1. 1940. Im Gespräch wandte sich Frank gegen die hohen, auf 90 Mill. Z1. bezifferten Kosten für die Organisation der Zwangsarbeit. Auch die Schwierigkeit, das Minimum an Baumaterial für diese Lager herbeizuschaffen, waren angesichts der Anforderungen, welche die Zentralbehörden des Reiches u. a. an Holzlieferungen aus dem Generalgouvernement stellten, zunächst unüberwindbar.

So reduzierte sich die Absicht, hunderttausende »Juden« in Zwangsarbeiterlager zu sperren, auf die nicht weniger brutale Praxis, die jüdischen Einwohner der Generalgouvernements einschließlich der arbeitsfähigen Männer in Ghettos zu treiben, die in Städten errichtet wurden. Das verursachte nicht jene finanziellen und technischen Probleme, die mit dem Aufbau von besonderen Lagern verbunden waren; denn die Ghettoisierten wurden einfach in Wohnviertel gezwungen, in denen entweder bereits jüdische Menschen wohnten oder aus denen Polen gewaltsam verdrängt wurden. Und die Insassen der Ghettos waren stets abrufbereit, besonders für ihre Kommandierung zu beliebigen Arbeitseinsätzen. Die Idee der Ghettoisierung und der Zwangsarbeit wurde derart auf die für die Faschisten billigste, für die Opfer folgenschwerste Weise kombiniert.

Ghettos entstanden, da der Abtransport aus den Reichsgauen in das Generalgouvernement nicht in dem geplanten Tempo erfolgte und schließlich im Zusammenhang mit Schwierigkeiten im Generalgouvernement sowie wegen des Feldzugs gegen Frankreich weitgehend zum Erliegen kam, auch in den annektierten Gebieten. Eines der berüchtigtsten befand sich seit Dezember 1939 in Lödi, das die Eroberer Litzmannstadt nannten. In diese Stadt, deren Zugehörigkeit zum Reichsgau Wartheland oder zum Generalgouvernement zunächst ungeklärt blieb, ließ Gauleiter Greiser die jüdischen Einwohner in der Erwartung treiben, daß sie von dort — so oder so — in den Verantwortungsbereich Franks geraten würden.

An der Geschichte jener Hölle in Lödi läßt sich am deutlichsten erkennen, welche Konsequenzen die rigorose Deportations- und Ghettoisierungspraxis mit sich brachte und daß sie wiederum auf das Denken und die Entscheidungen der faschistischen Führer zurückwirkte. Als Greiser im Sommer 1940 Krakau besuchte, wollte er vom Generalgouverneur u. a. die Zustimmung erhalten, die 250 000 Insassen des Lödier Ghettos in das Generalgouvernement »abzuschieben«. Dieses Ansinnen begründete Greiser damit, daß sich die Situation im Ghetto so zugespitzt habe, daß man weder ernährungspolitisch noch seuchenpolizeilich über den nächsten Winter kommen werde. Der HSSPF des Warthegaues sprach von einer sich von Tag zu Tag verschlimmernden Lage. Aber Greisers Absicht scheiterte an der bestimmten Ablehnung Franks: Das Generalgouvernement sei nicht in der Lage, die Viertelmillion Juden »auch nur interimistisch aufzunehmen«. Der zu Greisers Begleitung gehörende zuständige Regierungspräsident Mehlhorn erklärte dennoch, »die Judenfrage« müsse »auf irgendeine Weise gelöst werden«30Ebenda, 1940/2/IV, Bl. 741 ff.; Besprechung Franks mit Greiser u. Angehörigen seiner Begleitung am 31. 7. 1940.

Wie die geheimen Verhandlungen in Krakau zeigten, hatten die faschistischen Judenverfolgungen den kritischen Punkt erreicht, da sich die Frage nach der künftigen Politik auf die Entscheidung über Leben und Tod zuspitzte. Die bisherigen Mißhandlungen der »Juden« hatten die Arbeits- und Lebenskräfte vieler Menschen bereits weitgehend ausgezehrt. Tagtäglich wurden mehr Opfer in den Zustand des NichtlebenundnichtsterbenKönnens versetzt. Was im September und Oktober 1939 als »historische Lösung« ins Werk gesetzt worden war, entpuppte sich im Frühjahr und Frühsommer 1940, als der Feldzug in Westeuropa die Aufmerksamkeit der Welt bannte, als Organisierung sich ausweitender katastrophaler und chaotischer Zustände. Im Sinne der Heydrichschen Forderung, an Ort und Stelle »praktische Überlegungen« anzustellen, gingen die faschistischen Potentaten in Polen —wie das Gespräch Frank—Greiser enthüllt — daran, selbst Auswege aus einer Lage zu suchen, deren Entwicklung ihren Verursachern zu entgleiten drohte.

Zunächst aber existierte in der Führung des faschistischen Reiches, nachdem die erste Deportationswelle verebbt war und »wilde Transporte« ins Generalgouvernement ausdrücklich verboten wurden‘31Nach einer Mitteilung Franks hatte Göring am 12. 2. 1940 in Anwesenheit Himmlers entschieden, keine Deportation ohne Genehmigung durch den Generalgouvemeur vorzunehmen (ebenda, 1940/2/1X, 131. 176; Rede Franks auf einer Dienstversammlung der Kreis- u. Stadthauptleute des Distrikts Lublin am 4. 3. 1940)., nichts, was ein verbindliches Gesamtkonzept zur »Lösung der Judenfrage« genannt werden könnte. Über Denkrichtungen, Kontroversen und fernere Pläne geben Reden Franke einen gewissen Aufschluß, die zwischen März und Mai 1940 gehalten wurden. Demnach hatte sich bei den deutschen Zentralstellen die Meinung gebildet, das Generalgouvernement »östlich der Weichsel immer mehr als eine Art Judenreservat in Aussicht« zu nehmen, in das die jüdische Bevölkerung aus den neu annektierten wie aus den alten Gebieten des faschistischen Staates vollständig deportiert werden sollte. Frank sprach von »einer nach Belieben festzusetzenden Zahl von Juden«, die aus dem Reich herbeigeschafft werden würde.32Ebenda, Bl. 176 f.

Meinungsverschiedenheiten gab es innerhalb der faschistischen Fiihrung in jener Zeit darüber, so geht aus einer Rede Franks vor Kreis und Stadthauptleuten des Distrikts Lublin am 4. März 1940 hervor, in welchem Tempo die »Juden« herantransportiert werden sollten. Erst nachdem »der schwierigste Kampf« geführt worden sei, habe sich der Standpunkt durchgesetzt, daß das Reich nicht schon während des Krieges »judenrein« gemacht werden könne.33Ebenda, Bl. 177.

Im Verlauf des ersten Halbjahres 1940 entstand jedoch zumindest in den Köpfen einzelner faschistischer Machthaber die Idee, das Generalgouvernement werde nicht die letzte Station der Judendeportationen sein. Sie entsprach auch den persönlichen Wünschen Franks am meisten, der es offenbar für nicht sehr ehrenvoll hielt, Machthaber eines »Judenreservats« zu sein. Zwar wußte er nicht, »was noch alles an Generalgouvernements und Protektoraten entstehen wird«34Ebenda, 1940/4/11, 81.402; Rede Franks auf der Reichsarbeitstagung des Hauptamtes für Kommunale Politik in Kattowitz am 15. 3. 1940., aber in einer vagen Form beschäftigte ihn der Gedanke immer häufiger, die »Juden« eines Tages weiter ostwärts treiben zu können. Schon Anfang März 1940 sagte Frank, daß Veränderungen an der Ostgrenze des Generalgouvernements darin bestehen könnten, daß diese Ereignisse weiter nach Osten getrieben wird«35Ebenda, 1940/1/IX, Bl. 65; Rede Franks vor dem Reichsverteidigungsausschuß des Generalgouvemernents in Warschau am 2. 3. 1940. Als die faschistischen Truppen auf Paris marschierten, führte er am 30. Mai 1940 vor leitenden Mitarbeitern der Polizei aus: »Vielleicht ist die Ostgrenze, die wir heute haben, nicht die letzte Entwicklung.« Das Generalgouvernement sei »eines der wichtigsten Gebiete des kommenden Weltreiches der Deutschen« und ein Teil »der großen Brücke nach dem Osten, deren Ende wir noch nicht sehen«.36Ebenda, 1940/3/1X, Bl. 340, 131. 370; Rede u. Schlußwort Franks auf der Polizeisitng am 30. 5. 1940.

Zur zentral nicht beschlossenen, nichtsdestoweniger im Generalgouvernement aber als Provisorium betriebenen Politik der Judenverfolgungen trat also die adäquate Auslegung hinzu. Alles was geschah, wurde zur Zwischenlösung erklärt, das Generalgouvernement nur als ein zeitweiliges »Aufnahmebecken« für Polen, Zigeuner und »Juden«37Ebenda, BI. 335 f. betrachtet, als Gebiet, in dem die »polnische arbeitende Unterschicht auf weite Sicht« germanisiert werden sollte, für die nicht germanisierungswürdigen »Juden« also auf die Dauer Platz nicht sein könne. In neuen Kriegen und mit neuen Siegen werde sich alles lösen .. .

In der Tat veränderten die faschistischen Eroberungen in Nord und Westeuropa während des Frühjahrs und Sommers 1940 die Situation. Nachdem große Teile der jüdisch-herkünftigen Bevölkerung in sechs weiteren europäischen Staaten in die Hände der Faschisten gefallen waren, erhielt die »Lösung der Judenfrage« auch praktisch jene Dimension, die sie im Denken der extremen antisemitischen Rassisten schon vordem besessen hatte. Offen wurde nun über »eine künftig vom Deutschen Reich ausgehende gesamteuropäische Regelung der Judenfrage« geschrieben.38P. H. Seraphim, Der Rassencharakter der Ostjuden, in: Das Vorfeld, 1. Jg. 1940, 3. Folge (November 1940), S. 11. In den Beratungen innerhalb der Reichszentrale des faschistischen Regimes und zwischen den Machthabern im besetzten Polen tauchte eine neue Formel auf: Deportation der europäischen »Juden« nach Übersee. Darauf setzten auch Frank und Greiser ihre zunächst noch unbestimmten Hoffnungen.39Arch. GKBZHP, Frank Tgb., 1940/2/1V, 81.741; Besprechung Franks mit Greiser u. Angehörigen seiner Begleitung am 31. 7. 1940.

Der Umstand, daß die Planungen der faschistischen Rassisten bei Kriegsbeginn in ein neues Stadium getreten waren, hatte nicht sofort eine generelle Änderung der Judenpolitik im gesamten Machtbereich des deutschen Imperialismus bewirkt. Vorerst bestand ein erheblicher Unterschied zwischen den judenfeindlichen Maßnahmen in Polen und innerhalb der Grenzen des Reichsgebietes, wie es bis zum 31. August 1939 bestanden hatte. Hier wurde nach wie vor die Strategie der Vertreibung ins Ausland befolgt. Auch unter Kriegsbedingungen galt der Erlaß weiter, den Hermann Göring in seiner Eigenschaft als Beauftragter für den Vierjahresplan am 24. Januar 1939 gegeben hatte und dessen einleitender Satz besagte: »Die Auswanderung der Juden aus Deutschland ist mit allen Mitteln zu fördern.«40Rolf Vogel, Ein Stempel hat gefehlt. Dokumente zur Emigration deutscher Juden, München 1977, S. 291; Schreiben Görings an den Reichsminister des Innern vom 24. 1. 1939. In einer Mitteilung der RSHA an die Stapostellen und deren nachgeordnete Einrichtungen hieß es noch am 20. Mai 1941: »Gemäß einer Mitteilung des Reichsmarschalls des Großdeutschen Reiches (Göring — K. P.) ist die Judenauswanderung aus dem Reichsgebiet einschließlich Protektorat Böhmen und Mähren auch während des Krieges verstärkt im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten unter Beachtung der aufgestellten Richtlinien für die Judenauswanderung durchzuführen.«41ZStA Potsdam, Filmsammlung Nr. 5436, Dok. 441.

Zu diesem Zeitpunkt umfaßte das faschistische Okkupationsgebiet außer Polen bereits Dänemark, Norwegen, Belgien, die Niederlande, Luxemburg, große Teile Frankreichs, Jugoslawien und Griechenland. Faktisch bestimmten die deutschen Machthaber auch die Innenpolitik einer Reihe weiterer europäischer Staaten, so beispielsweise die des klerikalfaschistischen Satellitenregimes in der Slowakei. In allen diesen Staaten und Territorien lebten jüdische Menschen, die ihren Peinigern zu entfliehen trachteten. Daher legte der Mai-Erlaß des RSHA — übrigens nicht zum erstenmal — den absoluten Vorrang der Vertreibung aus dem Reichsgebiet fest, die vor allem über die Route Spanien und Portugal betrieben werden sollte. Weitere Erfolge dieser Politik ließen sich nach Meinung des RSHA nur erreichen, wenn die Emigration namentlich aus dem besetzten Frankreich und aus Belgien verhindert würde, da nach Lage der Dinge ein Auswanderungsstrom aus diesen Ländern nur zu Lasten der »Lösung der Judenfrage« im »Großdeutschen Reich« gehen könne. Lediglich einzelnen Personen in den eroberten Territorien sollte erlaubt werden, ins unbesetzte Frankreich überzusiedeln. Das Hauptamt behielt es sich jedoch vor, darüber in jedem Fall selbst und gesondert zu entscheiden.

Zweimal erwähnte Heydrich im Erlaß vom 20. Mai 1941 ausdrücklich »die zweifellos kommende Endlösung der Judenfrage«. Dieser Hinweis enthielt nicht nur eine Absichtserklärung. An »Endlösungsprojekten« war im RSHA, dem Auswärtigen Amt und in anderen Dienststellen des faschistischen Staates und der NSDAP seit dem Sommer 1940 intensiv gearbeitet worden. Das geschah, nachdem die französisch-belgischen Streitkräfte auf dem Territorium Frankreichs geschlagen worden waren, in der größenwahnsinnigen Annahme, die Herren Europas zu sein und zu bleiben. Die faschistischen Projektanten der europäischen Nachkriegsordnung wähnten, den Besiegten in einem Friedensvertrag alles und jedes zudiktieren zu können, den Krieg also mit einem »über-Versailles« zu beenden und dann nach Belieben zu entscheiden, wann sie den nächsten, über den Kontinent hinausgreifenden Krieg vom Zaune brechen wollten.

Da den sich im Frühsommer 1940 herausbildenden Plan, binnen kurzem und womöglich vor der Kapitulation Großbritanniens die UdSSR anzugreifen und zu vernichten, nur wenige führende Faschisten in Hitlers Umgebung kannten, wurde er noch nicht in die Überlegungen jener Stellen einbezogen, welche neue Pläne für die »Endlösung« ausarbeiteten. Diese Stellen gingen von der Vorstellung eines nahen Friedensschlusses aus. In der Ausarbeitung »Die Judenfrage im Friedensvertrage«, die der Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes Franz Rademacher am 3. Juli 1940 anfertigte, wurde einleitend festgestellt: »Der bevorstehende Sieg gibt Deutschland die Möglichkeit und meines Erachtens auch die Pflicht, die Judenfrage in Europa zu lösen.«42Arch. GKBZHP, NTN 332, unpag. (= Nürnberger Dok. NG2586). England wurde demnach bereits für besiegt, weil für unfähig gehalten, sich auf die Dauer allein gegenüber dem Deutschen Reich und dessen Verbündeten zu behaupten.

In diesem vermeintlichen Endstadium des Krieges bemühte sich das RSHA, an allen Debatten, Ausarbeitungen und Entscheidungen beteiligt zu werden, die im Hinblick auf den Friedensschluß erfolgten. Unter seiner Federführung sollte auch die »Endlösung der Judenfrage« bindend projektiert werden. Dieses Interesse des RSHA war von der Vorstellung mitdiktiert, daß die bisherige Politik der Vertreibung nicht zum Ziele führen werde. In einem Schreiben Heydrichs an Ribbentrop vom 24. Juni 1940 wurde zwar der Erfolg der Vertreibungspolitik noch einmal herausgestellt und darauf verwiesen, daß es seit dem 1. Januar 1939 gelungen sei, etwa 200 000 jüdische Menschen aus dem Reichsgebiet zu drängen, und daß der Flüchtlingsstrom »selbst auch während des Krieges« nicht ganz versiegt sei. Dann aber konstatierte Heydrich: »Das Gesamtproblem — es handelt sich bereits um rund 3 1/3 Millionen Juden in den heute deutscher Hoheitsgewalt unterstehenden Gebieten — kann aber durch Auswanderung nicht mehr gelöst werden. Eine territoriale Endlösung wird daher notwendig.«43ZStA Potsdam, Filmsammlung Nr. 5436, Dok. 464.

Im faschistischen Machtapparat suchte man also im Frühsommer 1940 nach einer neuen Gesamtstrategie zur »Lösung der Judenfrage«, die die im Verlauf der faschistischen Okkupation entstandenen, unterschiedlichen »Judenprobleme« als Ganzes und einheitlich behandeln sollte. In der neuen Strategie, die sich zu dieser Zeit herauszubilden begann, gab man die Linie der Vertreibung der jüdischen Menschen aus dem Machtbereich des deutschen Imperialismus auf, die faktisch mit der von den Faschisten unkontrollierten Dispersion der Vertriebenen in weite Teile der Erde verbunden war, und strebte die Konzentrierung der »Juden« in einem Gebiet an, in das sie zwangsweise deportiert und in dem sie gewaltsam festgehalten werden sollten. Konkreter konnte

sich Heydrich Ende Juni gegenüber dem Leiter des Auswärtigen Amtes, dem bei der Vorbereitung eines Friedensdiktats eine federführende Rolle zukam, noch nicht auslassen. Er bat Ribbentrop lediglich darum, »bei bevorstehenden Besprechungen, die sich mit der Endlösung der Judenfrage befassen, falls solche von dort aus vorgesehen sein sollten (!), durch das RSHA beteiligt zu sein.44Ebenda.

In den folgenden knapp zwei Monaten wurde das »Madagaskar-Projekt« als Vorschlag für die »territoriale Endlösung« ausgearbeitet. Seine Leitidee lautete: »Alle Juden heraus aus Europa.«45Arch. GKBZHP, NTN 332, unpag.; Die Judenfrage im Friedensvertrage. Ausarbeitung Rademachers vom 3. 7. 1940 (= Nürnberger Dok. NG2586). Die Urheberschaft dieses Planes, der ältere antisemitische Vorhaben aufnahm und sie im Sinne deutscher imperialistischer Weltherrschaftspolitik umprägte, schrieb Rademacher sich und dem von ihm geleiteten »Judenreferat« im Auswärtigen Amt zu. Nachdem der Reichsaußenminister »den Vorarbeiten zur Abschiebung der Juden aus Europa zugestimmt« habe, sei das Projekt in einer frühen Ausarbeitungsstufe »vom Reichssicherheitshauptamt begeistert aufgenommen« und in »einen bis ins einzelne gehenden Plan für die Evakuierung der Juden nach Madagaskar« konkretisiert worden. Himmler habe den Plan gebilligt46Ebenda; Aufzeichnung Luthers vom 21. 8. 1942 (= Nürnberger Dok. NG2586)., so daß er am 15. August 1940 an die beteiligten faschistischen Zentralstellen, darunter das Auswärtige Amt, versandt wurde.47Ebenda; Schreiben des SS-Obersturmführers Dannecker, Reichssicherheitshauptamt, Rademacher, AA, vom 15. 8. 1940 (= Nürnberger Dok. NG2586).

Die gedankliche Prämisse, die dem mehrseitigen Dokument vorangestellt war, lautete: »Die bisherige Praxis zeigte, daß schon die Lösung des jüdischen Problems im Reichsgebiet einschließlich Protektorat Böhmen und Mähren im Wege der Auswanderung . . . in absehbarer Zeit schwer zu Ende geführt werden kann. Nach dem Hinzukommen der Massen des Ostens ist eine Bereinigung des Judenproblems durch Auswanderung unmöglich geworden.«48ZStA Potsdam, Filmsammlung Nr. 5435, Dok. 172. Daraus folgerten die Spezialisten der Judenverfolgung im RSHA, es müsse ein anderer Weg beschritten werden, um vier Millionen »Juden« — so hoch wurde die Gesamtzahl im faschistischen Einflußbereich beziffert — endgültig loszuwerden.

Das Madagaskar-Projekt gehörte außenpolitisch zu jenen vielschichtigen Planungen, die sich sämtlich auf die Errichtung einer Nachkriegswelt unter deutscher Vorherrschaft richteten. Insofern ist es ein Zeugnis für die absolute Maßlosigkeit, welche das Denken und Trachten der faschistischen Machthaber sowie ihrer willfährigen Staatsbürokraten charakterisierte. Lag doch der infamen Gesamtidee die Erwartung zugrunde, die deutschen Imperialisten würden als Ergebnis des Krieges so viel Macht gewinnen, daß sie die besiegten Staaten in einem Friedensdiktat verpflichten könnten, ihre Bürger jüdischer Herkunft den Hitlerfaschisten auf Gedeih und Verderb auszuliefern. Selbst die neutralen Staaten sollten gezwungen werden, ihre jüdischen Bürger den Organisatoren der »territorialen Endlösung« in die Arme zu treiben.49Arch GKBZHP, NTN 332, unpag.; Aufzeichnung Rademachers vom 12. 8. 1940 »Gedanken über die Gründung einer intereuropäischen Bank für die Verwertung des Judenvermögens in Europa« (= Nürnberger Dok. NG2586). Darin wurden Staatsverträge vorgeschlagen, »die mit den einzelnen europäischen Ländern über die Regelung der Judenfrage abzuschließen wären«. Solche Pläne konnte nur für realisierbar halten, wer davon ausging, daß sich in allen besiegten und neutralen Staaten dauerhaft Regierungen und Machtapparate etablieren ließen, die durchweg faschistisch oder parafaschistisch beschaffen waren. So setzte der Madgaskar-Plan gewissermaßen stillschweigend die Konsolidierung eines vom deutschen Imperialismus beherrschten Europas voraus.

Im einzelnen sah der MadagaskarPlan50Nicht alle im faschistischen Staatsapparat zum »Madagaskar-Plan« angefertigten Ausarbeitungen enthalten die im folgenden zusammengefaßten Charakteristika des Projekts. die Abtretung der französischen Kolonialinsel im Indischen Ozean an das Deutsche Reich und die Aussiedlung der dort ansässigen Franzosen vor. Dann sollte die Insel einem zweifachen Zweck dienen: Die deutschen Imperialisten gedachten sie in einen militärischen Stützpunkt für Luft und Seestreitkräfte und gleichzeitig in ein riesiges Konzentrationslager für die jüdischen Menschen Europas zu verwandeln. Die Deportation dieser Menschen nach Madagaskar war binnen vier Jahren vorgesehen, da sich nach den Schätzungen der Urheber dieses Projektes jährlich nicht mehr als eine Million Menschen über See abtransportieren ließ. Auf der Insel, an deren Spitze ein faschistischer »Polizeigouverneur«, also ein SS-General, stehen sollte, war den Deportierten die schwerste Arbeit bestimmt, an der sich die faschistischen Machthaber ebenso zu bereichern gedachten wie bereits vorher an der Enteignung der zum Abtransport bestimmten Menschen. Tatsächlich beabsichtigten die Projektanten des Madagaskar-Plans, die Regierungen aller europäischen Staaten dazu zu zwingen, nicht nur die jüdischen Einwohner auszuliefern, nicht nur Schiffsraum für den Abtransport bereitzustellen, sondern auch das Eigentum der Opfer einer »intereuropäische Bank für die Verwertung des Judenvermögens in Europa«, die selbstredend als Institution des deutschen Faschismus gedacht war, zu übertragen.51Arch. GKBZHP, NTN 332, unpag.; Aufzeichnung Rademachers vom 12. 8. 1940.

So stellte der Madagaskar-Plan auch eine Art Zusammenfassung jener niederträchtigen Ideen und Praktiken dar, welche die faschistischen Judenverfolgungen seit Jahren prägten. In ihm konzentrierten sich die Vorhaben der Beraubung und Enteignung, der gewaltsamen Wegschaffung, der Einpferchung in Arbeitslager, der Herauspressung der Arbeitskraft bei Strafe des Hungertodes und der Leitung und Lenkung aller dieser infamen Maßnahmen durch die Sicherheitspolizei Heydrichs. Zugleich sollten die Millionen jüdischer Einwohner Madagaskars ein gigantisches Faustpfand in den Händen der Faschisten bilden, das sie gegen jene vorwiegend in den USA lebenden »Juden« zu gebrauchen beabsichtigten. Millionen von Geiseln — auch das sollten die Deportierten sein.

Den Projektanten im RSHA und Auswärtigen Amt galt weder das Schicksal der Einwohner der auserwählten Insel etwas noch das Leben der zur Deportation bestimmten Opfer. Was verhüllend »Judenwohnstätte« genannt wurde und überhaupt erst durch ein polizeiliches Vorkommando in Augenschein genommen werden sollte, erschien den Faschisten als Verbannungsstätte und Konzentrationslager doch deshalb geeignet, weil dort die Bedingungen erwartet wurden, die eine »natürliche« Dezimierung der verschleppten Opfer herbeiführen müßten. Die »Überseelösung insularen Charakters«, die nach Ansicht des RSHA »jeder anderen vorzuziehen« sei‘52Ebenda; Madagaskar-Projekt in der Fassung des Reichssicherheitshauptamtes, wie sie n 15. 8. 1940 versandt wurde., war darauf angelegt, die Vertriebenen widrigen klimatischen und Witterungsbedingungen, verheerenden Seuchen und auszehrender Arbeitsqual, ständigem Mangel an Nahrungsmitteln und anderen Lebensquellen, geistiger Dumpfheit und dem allgegenwärtigen SS-Terror auszusetzen — Bedingungen also, denen viele der Opfer nicht oder nur kurze Zeit würden standhalten können. Der Madagaskar-Plan bedeutete folglich mehr als nur eine »territoriale Endlösung«.

Für eine kurze Zeit wurden auch die antijüdischen Maßnahmen im Dberten Polen durch die Ausarbeitung dieses Projektes beeinflußt. Zwei Tage nach einem Gespräch mit Hitler, das Frank am 8. Juli 1940 geführt hatte, unterrichtete der Generalgouverneur seinen HSSPF Krüger von der Neuregelung, derzufolge Judenaussiedlungen aus dem Reichsgebiet nicht mehr stattfinden würden. Alle »Juden«, die des Generalgouvernements eingeschlossen, würden »nach den Kolonien Afrikas überführt . . ., die die französische Regierung zu diesem Zweck an das Deutsche Reich ausliefern muß«.53Ebenda, Frank Tgb., 1940/2/1V, Bl. 646; Besprechung Franks mit dem HSSPF Krüger n 10. 7. 1940. Am 25. Juli 1940 kündigte Frank Beamten und Angestellten der faschistischen Distriktverwaltung in Lublin an, das Generalgouvernement werde »aufgrund eines besonderen Programms« in absehbarer Zeit »judenfrei« sein. Lublin könne dann »eine anständige, dienstliche und berufliche und auch menschliche Stadt für deutsche Volksgenossinnen und Volksgenossen werden« .54Piotrowski, S. 331.

Sorgen bereitete den faschistischen Machthabern im besetzten Polen im Juli 1940 allerdings die Frage, in welchen Fristen sich diese »Endlösung« verwirklichen lasse. Während der Verhandlungen zwischen Frank und Greiser am 31. Juli wies der HSSPF Krüger zwar darauf hin, daß zur Sache bereits Denkschriften existierten, der Chef der Sicherheitspolizei im Generalgouvernement, Streckenbach, dämpfte aber übertriebene Erwartungen mit der Bemerkung, daß das Wann und Wie eine »Frage des Friedensschlusses« sei und dann überhaupt erst endgültig bestimmt werde, ob die »Juden« tatsächlich nach Madagaskar kommen sollten.55Arch. GKBZHP, Frank Tgb., 1940/2/1V, BI. 743; Besprechung Franks mit Greiser u. essen Begleitung am 31. 7. 1940.

Insgesamt bestätigen die Aufzeichnungen in Franks Tagebuch, daß die faschistischen Machthaber im Juli 1940 die Konzentrierung von mehreren Millionen »Juden« im Osten Polens nicht mehr als eine Lösung ansahen, die den immer weitergesteckten Germanisierungsplänen in Osteuropa angemessen war.

Obgleich der Madagaskar-Plan ein Stück Papier blieb, prägte sich während seiner Ausarbeitung doch die mörderische Denkwelt weiter aus, in der sich die Projektanten der »Endlösung« bewegten. Während die Mehrzahl der faschistischen Politiker, Militärs und Wirtschaftsspezialisten die militärische Eroberung der UdSSR plante, vorbereitete und organisierte, entwarfen Dienststellen des gleichen Machtapparates in engstem Kontakt mit Hitler, Himmler und Heydrich die abscheulichsten, streng geheim gehaltenen Vorhaben, die sich immer klarer auf das Ziel richteten, die Menschen jüdischer Herkunft massenweise zu töten. In dem Maße, wie sich neue Vorstellungen über die Dauer des Krieges herausbildeten, rückten die Erfahrungen und Probleme der faschistischen Judenverfolgungen in Polen, besonders im Generalgouvernement, »in dem die Judenfrage am drängendsten ist«, wieder in das Zentrum der Planungen.56Seraphim. Öffentlich wurde geschrieben, die räumliche, soziale und wirtschaftliche Enge der Ghettos fordere »eine Druckentlastung und eine Lösung«57Heinrich Gottong, Die Juden im Generalgouvernement, in: Das Vorfeld, Jg. , 1940, . Folge (November 1940), S. 20.

Während der Winter 1940/41 jüdische Menschen innerhalb und außerhalb von Ghettos und Zwangsarbeitslagern auszehrte und das Leben vieler auslöschte, wurden die Arbeiten an einem anderen verbrecherischen Plan gegen die »Juden« beendet. Am 28. März 1941 teilte der Oberdienstleiter in der Parteikanzlei Viktor Brack Himmler den Abschluß von Untersuchungen mit, welche die massenhafte Sterilisation von »Juden« zum Ziele hatten. Die lebende Generation jüdischer Menschen sollte demnach noch am Leben bleiben, ihre Fortpflanzung aber verhindert werden. Zu diesem Zweck wäre die Konstruktion von etwa 20 Anlagen notwendig, mit deren Hilfe man täglich etwa 3000 bis 4000 Menschen sterilisieren könne, ohne daß die Betroffenen sogleich bemerkten, welche Untat an ihnen verübt wurde.58ZStA Potsdam, Filmsammlung Nr. 5436, Dok. 556. Auch dieser teuflische Plan setzte gedanklich voraus, daß die »abzufertigenden Personen« territorial konzentriert und streng isoliert wurden.

Die Monate nach der Kapitulation Frankreichs, in denen die faschistischen Machthaber auf den Höhepunkt ihres Einflusses in Europa gelangten und sich in naher Zukunft als die unumschränkten Herren des Kontinents wähnten, waren also auch dadurch gekennzeichnet, daß sich die Inspiratoren und Organisatoren des rassistischen Terrors und namentlich der Judenverfolgungen gedanklich schrittweise jenem Plan näherten, bereits die lebende Generation jüdischer Menschen physisch vernichten. Die Formel von der »Endlösung der Judenfrage«, die schon bald nach der Übergabe der Macht an die Hitlerfaschisten im Sprachgebrauch der Staatsbürokratie anzutreffen war, erhielt jetzt ihren berüchtigten, grausig-verbrecherischen Inhalt.59Siehe Pätzold, S. 138 ff. Der Prozeß des Übergangs von der Strategie der Vertreibung in das Ausland, die ohnehin nur ich als ein Überbleibsel aus der Vorkriegszeit existierte, zur Strategie r Massenvernichtung trat in sein abschließendes Stadium.

Wie die faschistischen Dokumente und die Judenverfolgungen beweisen, entstand der schließlich verwirklichte Mordplan im Verlauf der ersten beiden Kriegsjahre über mehrere gedankliche und praktische Stufen. Auf der ersten Konstruktionsstufe des Projekts sollte noch nicht der millionenfache direkte Mord die Vernichtung der »Juden« bewirken, sondern es war beabsichtigt, die Opfer solchen Bedingungen auszusetzen, unter denen ihr Leben früher oder später, nur in Abhängigkeit von ihrer unterschiedlichen Widerstandskraft, zwangsläufig erlöschen mußte. Auf einer zweiten Konstruktionsstufe befand sich jenes Vorhaben, das die Nichtfortpflanzung der lebenden Generation jüdischer Menschen durch Sterilisation versah, die de facto bereits einen direkten tätlichen und tödlichen Angriff auf das existierende Leben und nicht nur Auslöschung potentiellen menschlichen Daseins bedeutete. Von diesem Punkt aus war es für die Faschisten nur noch ein kleiner Schritt zum Massenmord: denn wenn es eine kommende Generation jüdischer Herkunft nicht geben sollte, warum eigentlich dann mit der lebenden so viele Umstände machen? Diese Frage mußte sich in der Gedankenwelt der Planer — man möchte sagen: mit Notwendigkeit — einstellen und sich in neuen »Endlösungs«entwürfen niederschlagen, zumal da ihnen die selbstverursachten katastrophalen und infernalischen Zustände auf dem Territorium Polens auch nur während einer längeren Kriegsdauer als nicht haltbar schienen.

Für die verbrecherischen und schließlich mörderischen Dokumente, die seit Kriegsbeginn in den faschistischen Zentralen angefertigt wurden, ist es charakteristisch, daß ihr Inhalt nahezu ausschließlich durch die Frage bestimmt wird, wie die Menschen jüdischer Herkunft erfaßt, konzentriert, weggeschafft und ausgebeutet werden könnten. Allgemeine Begründungen für die Judenverfolgung spielten in den internen Ausarbeitungen kaum noch eine Rolle. Minderwertigkeit und Nichtswürdigkeit der »Juden« galten den fanatischen Faschisten als Axiom. Jetzt wurde nur noch praktiziert, was aus der These folgte, wonach die »Juden« — wie Himmler es schon 1935 öffentlich ausgesprochen hatte —das Volk wären, »das aus den Abfallprodukten sämtlicher Völker und Nationen dieses Erdballs zusammengesetzt« sei.60Heinrich Himmler, Die Schutzstaffel als antibolschewistische Kampforganisation, Tünchen 1936. Auf dem Höhepunkt ihrer Macht, den sie selbst freilich erst als einen Anfang und nicht als einen Kulminationspunkt begriffen, befaßten sich die faschistischen Rassisten wie selbstverständlich damit, diesen »Abfall« aus der Geschichte zu beseitigen. Soweit sie sich seit Kriegsbeginn überhaupt noch der Mühe unterzogen, Rechtfertigungen für die Verfolgung der »Juden« für die Öffentlichkeit zu ersinnen, machten sie unter sich bereits keinen Hehl daraus, daß es sich nur um Zweckbehauptungen handelte.

Die entscheidende Phase im Übergang zur Strategie des Genozids fiel in das zweite Halbjahr 1941. Am 31. Juli 1941— die faschistischen Imperialisten waren in die UdSSR eingefallen, und ihre Armeen marschierten in Richtung Moskau, Leningrad und Kiew — erteilte Göring Heydrich die neue Weisung, »alle erforderlichen Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht zu treffen für eine Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflußgebiet in Europa«. Heydrich hatte dafür »in Bälde einen Gesamtentwurf« vorzulegen, der die »Vorausmaßnahmen« für die »Endlösung« enthalten sollte.61ZStA Potsdam, Filmsammlung Nr. 5436, Dok. 461. Der Madagaskar-Plan war, wie es rückblickend in einer Aufzeichnung des Unterstaatssekretärs im Auswärtigen Amt, Luther, heißt, »durch die politische Entwicklung überholt«62Arch. GKBZHP, NTN 332, unpag.; Aufzeichnung Unterstaatssekretär Luthers vorn 1. 8. 1942 (= Nürnberger Dok. NG2586).

In Görings Weisung an Heydrich vom 31. Juli 1941 wurde einleitend noch einmal auf die voraufgegangene vom 24. Januar 1939 Bezug genommen, die angeblich den Auftrag enthalten hätte, »die Judenfrage in Form der Auswanderung und der Evakuierung einer den Zeitverhältnissen entsprechend möglichst günstigen Lösung zuzuführen«. In Wirklichkeit war von »Evakuierung« nach dem Pogrom der »Reichskristallnacht« nicht die Rede gewesen. Diese Korrektur sollte lediglich die These ermöglichen, der neue Erlaß ergänze den alten. In Wirklichkeit aber wurde die bisherige Strategie der Judenverfolgungen aufgegeben. Jetzt ging man daran, die teuflischen Planungen für das Genozid zu systematisieren und in einer abschließenden, praktisch durchführbaren Fassung vorzulegen. Eine solche Fassung wurde ein halbes Jahr später den Teilnehmern der sogenannten Wannsee-Konferenz bekanntgemacht.

Die Vorbereitung und der Beginn des Überfalls auf die UdSSR markieren damit auch den tiefsten Einschnitt in der Geschichte der faschistischen Judenverfolgungen. Daß der 22. Juni 1941 einen »Wendepunkt in der Leidensgeschichte« zumal des polnischen Judentums bezeichnet, wurde in Forschungen polnischer Historiker nach Kriegsende hervorgehoben. Von da an seien die faschistischen Eroberer »von vereinzelten Pogromen, Exekutionen und vor allem Einzelermordungen«, wie sie an der jüdischen Bevölkerung Polens vom ersten Augenblick des Einfalls an begangen worden waren, zum Massenmord übergegangen. Auf die »Vorhölle«, wie die Zeit zwischen September 1939 und Juni 1941 auch bezeichnet wurde, sei die wahre Hölle gefolgt.63Dokumenty i Materialy do Dziejöw Okupaciji Niemieckiej w Polsce, Bd. II. Akcje i 7ysiedlenia, CzcSe I, bearb. von J. Kermisz, Warschau o. J., S. IV, S. Xl.

Nicht grundsätzlich anders sahen diejenigen die Entwicklung, die das blutige Handwerk betrieben. Wisliceny schrieb 1946: »Vom Zeitpunkt des Ausbruchs des Krieges mit Rußland und dem Kriegseintritt der USA begann sich eine grundlegende Wandlung in der Behandlung des jüdischen Problems zu vollziehen. Diese Wandlung erfolgte nicht von heut auf morgen, sondern stufenweise.«64ZStA Potsdam, Filmsammlung Nr. 5436, Dok. 773. Anfang 1942 beurteilte Rademacher die Bedeutung der Aggression gegen die UdSSR für die Genesis der »Endlösungs«pläne ganz ähnlich: »Der Krieg gegen die Sowjetunion hat inzwischen die Möglichkeit gegeben, andere Territorien für die Endlösung der Judenfrage (als Madagaskar— K. P.) zur Verfügung zu stellen. Demgemäß hat der Führer entschieden, daß die Juden nicht nach Madagaskar, sondern nach dem Osten abgeschoben werden sollen.«65Ebenda, Dok. 762; Schreiben Rademachers an Bielfeld vom 10. 2. 1942.

Während der ersten Monate des Feldzuges gegen die UdSSR scheiterte zwar bereits die Blitzkriegskonzeption der faschistischen Machthaber; doch sie eroberten zunächst weite Gebiete des Landes. An diese Anfangserfolge knüpfte sich die Hoffnung, im Jahre 1942 das schon für 1941 gesteckte Ziel zu erreichen und die UdSSR niederzuwerfen. Dementsprechend euphorisch beschäftigte man sich noch einmal mit Nachkriegsplanungen, namentlich für Osteuropa. Das Generalgouvernement erhielt im Denken der faschistischen Projektanten eine neue politischgeographische Bewertung. Auf lange Sicht sollte es vollständig germanisiert werden, um jene Funktion im »Vorfeld« zu erfüllen, an die Frank bereits seit längerem dachte.

Im Rahmen dieser alles bisher Dagewesene übertreffenden Planungen muß auch das Problem analyisert werden, das in der physischen Vernichtung von Millionen Menschen liegt, die kapitalistischen Grundsätzen der Ausbeutung von Arbeitskraft und der Profitmacherei so vollkommen zu widersprechen scheint. An dieses Problem knüpfen bürgerliche Autoren immer wieder die Frage, ob ein Regime, das so handelt, überhaupt noch als kapitalistisch bezeichnet werden kann und nicht vielmehr antikapitalistisch genannt werden muß.

Der Überfall auf die UdSSR und die damit verbundene Notwendigkeit, die annektierten polnischen Gebiete und das Generalgouvernement zu einer funktionstüchtigen Nachschubbasis zu machen, ließ den Wert der Arbeitskraft auch der jüdischen Menschen in diesem Gebiet bis zu einem gewissen Grade und für eine beschränkte Frist steigen. Greiser erklärte auf einer Tagung der Reichstreuhänder der Arbeit der Ostgebiete am 9. Oktober 1941, er sei froh darüber, »daß er 200 000-300 000 Juden im Gau habe. Die könnten viele Arbeiten verrichten, die sonst nicht zu leisten wären.« Diese Wertbestimmung wurde sogleich durch den Zusatz näher charakterisiert, daß »Juden« und Polen als »eine Arbeitskraft« zu betrachten wären, »der wir ohne Gefühl gegenüberzutreten hätten«. Die »Volkstumsfrage« bleibe immer das »oberste Prinzip«.66Arch. GKBZHP, Prozeß Greiser, Bd. 37/IV, Bl. 627; Bericht über die Tagung der Reichstreuhänder der Arbeit der Ostgebiete in Posen am 9. 10. 1941.

Wichtiger als solche kurzfristig angelegten pragmatischen Erörterungen ist die Tatsache, daß die faschistischen Eroberer — wie es sich insbesondere in den Ausarbeitungen zum »Generalplan Ost« zeigte — aus dem Bewußtsein heraus planten, in den eroberten Gebieten bereits einen Überfluß an Menschen zu besitzen. In einer Stellungnahme, die von der Verschleppung, Verdrängung und Vernichtung von Millionen Menschen — Russen, Polen, »Juden« — handelte, spiegelte sich diese Denkweise in dem lakonischen Satz wider: »Wir haben das ungeheure Menschenreservoir des Ostens vor uns.«67Stellungnahme und Gedanken zum Generalplan Ost des Reichsführers SS (von Dr. :rhard Wetzet), zit. in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Heft 3, 1958, S. 311 f. Probleme der dauernden Unterwerfung dieser Menschen, die mit den Angehörigen anderer in faschistische Gewalt geratenen Völker die Zahl der Reichs und »Volksdeutschen« bereits weit übertrafen, beherrschten 1941/42 die Projektanten der Neuordnung des europäischen Ostens bis zum Ural, und nicht Sorgen um einen Mangel an Arbeitskräften.

Die Frage, wie der Entschluß zur massenweisen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung im Machtapparat eines kapitalistischen Regimes zustandekam, wird unhistorisch gestellt, wenn man sie aus den konkreten historischen Umständen herauslöst, auf die sie sich bezieht, und sie in die spätere Situation der Wende des Krieges und der sich abzeichnenden Krise des Regimes transponiert. Zu diesem späteren Zeitpunkt sahen die faschistischen Führer viele Fragen anders an. Der mörderische Apparat zur »Endlösung der Judenfrage« war da aber bereits in vollen Gang gebracht.

Der Krieg — das war zum Zeitpunkt, da die unvorstellbar barbarischen Entschlüsse fielen, in erster Linie der Krieg gegen die UdSSR. Er wurde im Sommer 1942 durch eine Offensive der faschistischen Wehrmacht geprägt, die wiederum riesigen Landgewinn eintrug und bis zum Kaukasus und nach Stalingrad führte. Dieser Erfolg ließ noch einmal die größenwahnsinnigsten und verbrecherischsten Ideen und Pläne grassieren. Jetzt, da sich Deutschland mit allen Großmächten, ausgenommen Japan, im Krieg befand, fielen angesichts des unabweisbaren Entweier-Oder, das im totalen Sieg oder in der totalen Niederlage des deutschen Imperialismus bestand, auch die letzten politischen und ideologischen Barrieren, die der grausamsten, vollständigen und kurzfristigen «Endlösung der Judenfrage« im Wege gestanden hatten.

Es war letztlich der Grundgedanke, die Weltgeschichte ganz unter den Stiefel des faschistischen deutschen Imperialismus treten zu können, der die auf der Wannsee-Konferenz vorgetragenen Entscheidungen zeitigte und ihre Verwirklichung leitete. Die jüdischen Menschen Europas wurden das Opfer einer Strategie, die einem umfassenderen imperialistischen Konzept zugehörte: dem Plan des deutschen Imperialismus, die Welt zu beherrschen, in ihr für alle Zeiten faschistisches »Recht« zu setzen und über Leben und Tod von Dutzenden von Völkern zu entscheiden.

Das Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung Europas entsprang also nicht einfach einer mörderischen Ideologie, die in den Köpfen einiger weniger Naziführer hauste. Es war letztlich durch die maßlosen Ziele des deutschen Imperialismus hervorgerufen, dessen Grund und Gesamtinteresse jene faschistischen Führer verfochten. Zu einem Zeitpunkt, da ein stabiler sozialistischer Großstaat existierte und viele Völker ihre Wege zu nationaler und sozialer Befreiung suchten und beschritten, ein faschistisches Weltreich von Dauer errichten zu wollen, war anachronistisch, war historisch objektiv aussichtslos. Aber schon der Versuch mußte seine spezifischen barbarischen Mittel und Methoden zeitigen.

  • 1
    Zur Terminologie Kurt Pätzold, Faschismus, Rassenwahn, Judenverfolgung. Eine Studie zur politischen Strategie und Taktik des faschistischen deutschen Imperialismus (1933-1935), Berlin 1975, S. 84 ff.
  • 2
    Erich Goldhagen, Weltanschauung und Endlösung, in: VfZ, 4/1976, S. 394.
  • 3
    Siehe die Besprechung Andreas Hillgrubers zu Deutschland im zweiten Weltkrieg, hg. von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Wolfgang Schumann, Bd. 1: Vorbereitung, Entfesselung und Verlauf des Krieges bis zum 22. Juni 1941, Leitung Gerhart Hass, Berlin 1974; Bd. 2: Vom Überfall auf die Sowjetunion bis zur sowjetischen Gegenoffensive bei Stalingrad (Juni 1941 bis November 1942), Leitung Karl Drechsler unter Mitarbeit von Llaus Drobisch u. Wolfgang Schumann, Berlin 1975, in: Historische Zeitschrift, Bd. 223, H. 2, S. 366.
  • 4
    Martin Broszat, Hitler und die Genesis der «Endlösung«. Aus Anlaß der Thesen von David Irving, in: VfZ, 4/1977, S. 770 f.
  • 5
    IMG, Bd. 1, Nürnberg 19, S. 32.
  • 6
    Rita Thalmann, Das Protokoll der Wannseekonferenz: Vom Antisemitismus zur Endlösung der Judenfrage«, in: Wie war es möglich? Die Wirklichkeit des Nationalsozialismus. Neun Studien, hrsg. von Alfred Grosser. Aus dem Französischen von Felix Mager, München 1977, S. 149.
  • 7
    Broszat, S. 770, S. 746.
  • 8
    Ebenda, bes. S. 770.
  • 9
    Arch. GKBZHP, NTN 332; Rundschreiben des AA an alle diplomatischen und berufskonsularischen Vertretungen im Ausland vom 25. 1. 1939, betr. »Die Judenfrage als Faktor der Außenpolitik im Jahre 1938«.
  • 10
    Pätzold, S. 138 f.
  • 11
    BA Koblenz, R 58/991, BI. 89; Schreiben von 11/112 an 11/1 vom 7. 12. 1937.
  • 12
    Die Frage nach den langfristigen außenpolitischen Folgen der Judenvertreibung wurde von den Mitarbeitern des SD gesehen, aber geradezu verdrängt, um das Konzept nicht zu gefährden. Auf eine Aufforderung des Rasse und Siedlungshauptamtes der SS vom 8. Juli 1937 hatten die Spezialisten der Judenverfolgung im SD sich auch zu der Frage zu äußern, was aus Palästina durch die gesteigerte Einwanderung von jüdischen Menschen werden würde. In der Vorlage für ein SS-Leitheft wurde darauf geantwortet: »Wir können der Entwicklung dieses jüdischen Gemeinwesens nicht gleichgültig gegenüberstehen.« Eines Tages würden seine Vertreter im Völkerbund sitzen. Die zitierte Passage wurde nach Beratungen in der Zentrale des SD gestrichen (BA Koblenz, R 58/989, 131. 9 ff., 131. 29).
  • 13
    BA Koblenz, R 58/979, unpag.; Schreiben von 11/112 an 11/1123, o.D. (etwa März 1938).
  • 14
    Ebenda, R 4211/599 b, Bl. 142 f.; Schreiben des Verbandes der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden u. Waisen in Wien an Hitler vom 7. 7. 1939.
  • 15
    Eine Lösung schien mit der Ausraubung der reichen und begüterten jüdischen Menschen in Österreich gefunden. Siehe Schreiben Eichmanns an 11/112 vom 14. 9. 1938, in dem die Absicht geäußert wird, einen reichen »Juden« zu zwingen, neun ärmere mit sich zu nehmen (ebenda, R 58/1353, unpag.). Um die tatsächliche Verwendung der geraubten Geldbeträge entbrannte zwischen SD, Gestapo und anderen faschistischen Stellen des Staates und der Partei eine Auseinandersetzung. Siehe ebenda; Schreiben Eichmanns an Herbert Hagen vom 10. 5. u. 16. 6. 1939.
  • 16
    Günther Deschner, Reinhard Heydrich. Statthalter der totalen Macht, Biographie, Esslingen 1977, S. 174.
  • 17
    Beispielsweise ebenda, S. 166
  • 18
    Siehe die faschistischen Appelle an das Volk und die Mitgliedschaft der NSDAP nach den Kriegserklärungen Frankreichs und Englands, Völkischer Beobachter, vom 4. 9. 1939.
  • 19
    Karl-Dietrich Bracher, Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Köln 1969, S. 397.
  • 20
    ZStA Potsdam, Filmsammlung Nr. 5436, Dok. 773.
  • 21
    Ebenda, Dok. 775.
  • 22
    Arch. G KBZHP, NTN 332, Bl. 10; Anordnung 1/11 des Reichsführers SS als Reichskommissar zur Festigung deutschen Volkstums vom 30. 10. 1939.
  • 23
    Ebenda, Hans Franks Tagebuch (im folgenden: Frank Tgb.); Empfang des SS-Obergruppenführers Krüger durch Frank am 31. 10. 1939; siehe auch Stanislaw Piotrowski, Hans Franks Tagebuch, Warschau 1963, S. 279.
  • 24
    ZStA Potsdam, Filmsammlung Nr. 5436, Dok. 775.
  • 25
    Arch. GKBZHT, NTN 332; Rundschreiben des HSSPF Posen vom 12. 11. 1939, betr. Abschiebung von Juden u. Polen aus dem Reichsgau »Warteh-Land«.
  • 26
    Ebenda.
  • 27
    ZStA Potsdam, Filmsammlung Nr. 5436, Dok. 468; Besprechung Heydrichs mit Seyss-lnquart, HSSPF aus den besetzten Gebieten Polens u. a. SS-Führern vom 30. 1. 1940.
  • 28
    Albert Weh (d. i. der Leiter der Abteilung Gesetzgebung im Amt des Generalgouverneurs), Das Recht des Generalgouvernements, Krakau 1940, Dok. 250. Die vom HSSPF erlassenen Durchführungsbestimmungen zu dieser Verordnung siehe ebenda, Dok. 251, Dok. 252.
  • 29
    Arch. GKBZHP, Frank Tgb. 1940/1/111, Bl. 25 f.; Vortrag von Finanzpräsident Spindler beim Generalgouverneur über Etatslage vom 15. 1. 1940. Im Gespräch wandte sich Frank gegen die hohen, auf 90 Mill. Z1. bezifferten Kosten für die Organisation der Zwangsarbeit.
  • 30
    Ebenda, 1940/2/IV, Bl. 741 ff.; Besprechung Franks mit Greiser u. Angehörigen seiner Begleitung am 31. 7. 1940.
  • 31
    Nach einer Mitteilung Franks hatte Göring am 12. 2. 1940 in Anwesenheit Himmlers entschieden, keine Deportation ohne Genehmigung durch den Generalgouvemeur vorzunehmen (ebenda, 1940/2/1X, 131. 176; Rede Franks auf einer Dienstversammlung der Kreis- u. Stadthauptleute des Distrikts Lublin am 4. 3. 1940).
  • 32
    Ebenda, Bl. 176 f.
  • 33
    Ebenda, Bl. 177.
  • 34
    Ebenda, 1940/4/11, 81.402; Rede Franks auf der Reichsarbeitstagung des Hauptamtes für Kommunale Politik in Kattowitz am 15. 3. 1940.
  • 35
    Ebenda, 1940/1/IX, Bl. 65; Rede Franks vor dem Reichsverteidigungsausschuß des Generalgouvemernents in Warschau am 2. 3. 1940.
  • 36
    Ebenda, 1940/3/1X, Bl. 340, 131. 370; Rede u. Schlußwort Franks auf der Polizeisitng am 30. 5. 1940.
  • 37
    Ebenda, BI. 335 f.
  • 38
    P. H. Seraphim, Der Rassencharakter der Ostjuden, in: Das Vorfeld, 1. Jg. 1940, 3. Folge (November 1940), S. 11.
  • 39
    Arch. GKBZHP, Frank Tgb., 1940/2/1V, 81.741; Besprechung Franks mit Greiser u. Angehörigen seiner Begleitung am 31. 7. 1940.
  • 40
    Rolf Vogel, Ein Stempel hat gefehlt. Dokumente zur Emigration deutscher Juden, München 1977, S. 291; Schreiben Görings an den Reichsminister des Innern vom 24. 1. 1939.
  • 41
    ZStA Potsdam, Filmsammlung Nr. 5436, Dok. 441.
  • 42
    Arch. GKBZHP, NTN 332, unpag. (= Nürnberger Dok. NG2586).
  • 43
    ZStA Potsdam, Filmsammlung Nr. 5436, Dok. 464.
  • 44
    Ebenda.
  • 45
    Arch. GKBZHP, NTN 332, unpag.; Die Judenfrage im Friedensvertrage. Ausarbeitung Rademachers vom 3. 7. 1940 (= Nürnberger Dok. NG2586).
  • 46
    Ebenda; Aufzeichnung Luthers vom 21. 8. 1942 (= Nürnberger Dok. NG2586).
  • 47
    Ebenda; Schreiben des SS-Obersturmführers Dannecker, Reichssicherheitshauptamt, Rademacher, AA, vom 15. 8. 1940 (= Nürnberger Dok. NG2586).
  • 48
    ZStA Potsdam, Filmsammlung Nr. 5435, Dok. 172.
  • 49
    Arch GKBZHP, NTN 332, unpag.; Aufzeichnung Rademachers vom 12. 8. 1940 »Gedanken über die Gründung einer intereuropäischen Bank für die Verwertung des Judenvermögens in Europa« (= Nürnberger Dok. NG2586). Darin wurden Staatsverträge vorgeschlagen, »die mit den einzelnen europäischen Ländern über die Regelung der Judenfrage abzuschließen wären«.
  • 50
    Nicht alle im faschistischen Staatsapparat zum »Madagaskar-Plan« angefertigten Ausarbeitungen enthalten die im folgenden zusammengefaßten Charakteristika des Projekts.
  • 51
    Arch. GKBZHP, NTN 332, unpag.; Aufzeichnung Rademachers vom 12. 8. 1940.
  • 52
    Ebenda; Madagaskar-Projekt in der Fassung des Reichssicherheitshauptamtes, wie sie n 15. 8. 1940 versandt wurde.
  • 53
    Ebenda, Frank Tgb., 1940/2/1V, Bl. 646; Besprechung Franks mit dem HSSPF Krüger n 10. 7. 1940.
  • 54
    Piotrowski, S. 331.
  • 55
    Arch. GKBZHP, Frank Tgb., 1940/2/1V, BI. 743; Besprechung Franks mit Greiser u. essen Begleitung am 31. 7. 1940.
  • 56
    Seraphim.
  • 57
    Heinrich Gottong, Die Juden im Generalgouvernement, in: Das Vorfeld, Jg. , 1940, . Folge (November 1940), S. 20.
  • 58
    ZStA Potsdam, Filmsammlung Nr. 5436, Dok. 556.
  • 59
    Siehe Pätzold, S. 138 ff.
  • 60
    Heinrich Himmler, Die Schutzstaffel als antibolschewistische Kampforganisation, Tünchen 1936.
  • 61
    ZStA Potsdam, Filmsammlung Nr. 5436, Dok. 461.
  • 62
    Arch. GKBZHP, NTN 332, unpag.; Aufzeichnung Unterstaatssekretär Luthers vorn 1. 8. 1942 (= Nürnberger Dok. NG2586).
  • 63
    Dokumenty i Materialy do Dziejöw Okupaciji Niemieckiej w Polsce, Bd. II. Akcje i 7ysiedlenia, CzcSe I, bearb. von J. Kermisz, Warschau o. J., S. IV, S. Xl.
  • 64
    ZStA Potsdam, Filmsammlung Nr. 5436, Dok. 773.
  • 65
    Ebenda, Dok. 762; Schreiben Rademachers an Bielfeld vom 10. 2. 1942.
  • 66
    Arch. GKBZHP, Prozeß Greiser, Bd. 37/IV, Bl. 627; Bericht über die Tagung der Reichstreuhänder der Arbeit der Ostgebiete in Posen am 9. 10. 1941.
  • 67
    Stellungnahme und Gedanken zum Generalplan Ost des Reichsführers SS (von Dr. :rhard Wetzet), zit. in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Heft 3, 1958, S. 311 f.

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