Am 27.08.2022 beteiligten wir Antifaschist:innen aus Süddeutschland uns an der Demonstration in Gedenken an die rassistischen Pogrome in Rostock-Lichtenhagen vor 30 Jahren. Zu dieser Demonstration mobilisierte ein breites Bündnis aus antifaschistischen Gruppen wie der VVN-BdA, der Gruppe Antifa United Rostock und „Rostock Nazifrei“, Vereinen und Gedenkinitiativen unter dem Motto „Erinnern heißt Verändern“.
Innerhalb der Demonstration waren wir Teil des antifaschistischen Blocks unter dem Motto: „Die Pogrome von Morgen verhindern – Antifaschistischer Selbstschutz!“. Die Anreisen aus Süddeutschland sammelten sich unter dem Hochtransparent mit der Aufschrift: „Rechten Terror stoppen – antifaschistischen Selbstschutz organisieren!“. Damit bekundeten wir klar, was für uns der Grund war, an diesem Tag auf der Straße zu sein und den weiten Weg aus Karlsruhe, Pforzheim, Stuttgart, Tübingen und Villingen-Schwenningen zurückzulegen: Auf Pogrome reagieren wir gemeinsam, auch im Gedenken.
Was ist vor 30 Jahren in Rostock passiert?
„Zwischen dem 22. und 24. August 1992 fand im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen das größte rassistische Pogrom in der Geschichte der Bundesrepublik statt. Über mehrere Tage griffen hunderte Rechtsradikale mit Steinen, Flaschen und Molotowcocktails die “Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber” (ZASt) und ein Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter:innen an. Unterstützt wurden sie dabei von tausenden jubelnden Anwohner:innen. Die vietnamesischen Bewohner:innen des in Brand gesteckten Wohnhauses und ihre Unterstützer:innen konnten sich in letzter Minute über das Dach des Hauses retten. Vorausgegangen waren den Angriffen zahlreiche antiziganistische Berichte in den Medien, welche Stimmung gegen in der ZASt lebende Sinti und Roma machten.“
– Auszug aus dem Aufruf zum Antifa-Block 2022
Dreißig Jahre später
Am 27.08.2022 versammelten sich 3.500 Menschen vor dem Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen, um gemeinsam in einer Demonstration durch die Straßen des Stadtteils zu ziehen. Im Verlauf der Demonstration hörten wir mehrere Reden von Betroffenen, zum Beispiel der Verein der Überlebenden und Hinterbliebenen der Pogrome Diên Hông e.V., ein Vertreter des Roma Center Göttingen und Sprecher:innen des bundesweiten antirassistischen Bündnisses „We’ll come united“.
Migrantifa Berlin stellten in ihrer Rede den klaren Zusammenhang zwischen Rassismus und Kapitalismus in den Vordergrund und machten klar, dass aus der Wut über das rassistische System Widerstand werden muss.
Ein Antifaschist, der vor 30 Jahren bei den Protesten gegen die Pogrome dabei war, schilderte die Geschehnisse in Lichtenhagen aus seiner Perspektive und gestand Fehler der antifaschistischen Bewegung in der damaligen Situation ein. Er sprach offen über die Ängste, mit denen er und andere Antifaschist:innen damals konfrontiert waren und bemängelte die fehlende Konsequenz in den eigenen Handlungen – denn sie schafften es über die mehrtägigen Pogrome hinweg nicht, die Angriffe der Rechten auf die Häuser und ihre Bewohner:innen zu stoppen. Außerdem blickte er in die Zukunft und machte klar: Die nächsten Pogrome werden kommen, aber dieses Mal dürfen wir uns von der Angst nicht lähmen lassen, sondern müssen gemeinsam konsequent handeln.
Auf dem Weg zum Endpunkt der Demonstration wurde über dem antifaschistischen Block ein Toptranspi mit der Aufschrift: „Nazis aufs Maul!“ entrollt. Auch für uns ist klar: Antifaschismus in jeder Form ist legitim und notwendig und der direkte Kampf gegen Rassismus und Faschismus ist aktueller denn je. Das zeigt uns auch der Anschlag auf ein Geflüchtetenwohnheim in Leipzig in der Nacht vom 26. auf den 27. August 2022. Auch die letzten Jahre sind gezeichnet von rassistischen Anschlägen, wie zum Beispiel in Hanau und Halle, oder rechten Hetzjagden, wie in Chemnitz. Schon vor 30 Jahren in Rostock hat sich deutlich gezeigt, dass Staat und Polizei niemanden schützen bis auf das kapitalistische System, schon gar nicht von Rassismus Betroffene.
Gemeinsam die Pogrome von morgen verhindern
Die nächsten rechten und rassistischen Angriffe werden kommen und es ist an uns, diesen als antifaschistische Bewegung entgegenzutreten und uns von der Angst vor Rechten und der staatlichen Repression nicht lähmen zu lassen. Dazu braucht es, neben vielem anderen, vor allem eines: Ein gemeinsames, organisiertes und aufeinander abgestimmtes Handeln aller Antifaschist:innen und die gegenseitige, schnelle Unterstützung im Falle eines Falles. Rostock-Lichtenhagen darf sich nie wiederholen.
Wir werden auch in Zukunft solidarisch sein mit allen Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt. Wir dürfen nicht warten bis etwas passiert, es muss darum gehen heute die Pogrome von morgen zu verhindern. Deshalb: Rechten Terror stoppen – antifaschistischen Selbstschutz organisieren!
Bericht des Bündnisses Gedenken an das Pogrom Lichtenhagen 1992
„Erinnern heißt verändern“ – 5.000 Menschen demonstrieren in Rostock für antirassistische Politik
27. August 2022.Rostock-Lichtenhagen. Am heutigen Samstag demonstrierten 5.000 Menschen in unter dem Motto „Erinnern heißt verändern“ anlässlich des Gedenkens an das Pogrom in Lichtenhagen 1992 in Rostock für eine antirassistische Politik. Die Demonstration wurde vom Bündnis „Gedenken an das Pogrom. Lichtenhagen 1992“ organisiert, das im Rahmen eines Gedenkjahres an das Pogrom und seinen Kontext erinnert.
„30 Jahre nach dem Pogrom erinnern wir daran, dass es viel zu tun gibt. Der sog. Asylkompromiss, der 1992 auf das Pogrom folgte, hat Auswirkungen bis heute. Auch die Neonazi-Netzwerke, die sich in den 90ern gebildet haben, sind noch nicht zerschlagen“,
erklärt Imam-Jonas Dogesch, Sprecher des Bündnisses.
„Das meinen wir mit >Erinnern heißt verändern<: Aus der Aufarbeitung müssen politische Konsequenzen folgen.“
Die Demonstration wurde vom Migrantenrat Rostock und dem bundesweiten antirassistischen Bündnis We’ll come United angeführt. Es reisten Menschen aus nahezu allen Bundesländern an, um an das Pogrom zu erinnern und die Forderungen des Bündnisses auf die Straße zu tragen. Das Bündnis wertet die Mobilisierung als erfolgreich. Auch das Interesse von Bundespolitiker:innen in den vergangenen Wochen lässt auf politische Veränderungen hoffen.
„Ich begrüße es sehr, dass nach 30 Jahren die Geschichten, Biographien und Forderungen Betroffener mehr in der Auseinandersetzung mit dem Pogrom zu hören sind“,
so Dogesch weiter.
„Es ist dieses Jahr zum ersten Mal gelungen in Form von Videointerviews, die die Roma-Aktivistin Izabela Tiberiade in Rumänien geführt hat, Zeitzeug:innen aus der ZASt hier in Rostock zu hören. Auch im Rahmen vieler Veranstaltungen im Vorfeld der Demo und mit den Redebeiträgen haben wir viele Perspektiven und Forderungen von Aktivist:innen gehört, die sich gegen die rassistischen Verhältnisse engagieren.“
Das Bündnis selbst forderte mit der Demonstration, den rassistischen Anschlag in Lichtenhagen 1992 endlich gemeinhin als rassistisches Pogrom zu benennen und einzuordnen. Zudem fordert ein Abschiebestopp und Bleiberecht für Rom:nja und alle Betroffenen rassistischer Gewalt!, die dezentrale Unterbringung von Asylsuchenden, sowie die Auflösung der Aufnahmeeinrichtung in Nostorf-Horst und aller Sammellager. Auch war ein zentrales Anliegen die Perspektiven und Forderungen Betroffener rassistischer Gewalt in den Mittelpunkt zu stellen und den Neudierkower Weg in Rostock-Toitenwinkel in Mehmet-Turgut-Weg umzubenennen.
Weitere Informationen & Hintergründe
- Im Aufruf zur Demo könnt ihr nocheinmal nachlesen, was vor 30 Jahren in Lichtenhagen geschehen ist und warum auch heute noch Menschen dort zu diesem Anlass gemeinsam auf die Straße gehen.
- Die Zeitschrift analyse & kritik veröffentlichte im Herbst 1992 einen spannenden Beitrag, der die Rolle von Polizei und Politik in den Lichtenhagener Ausschreitungen dezidiert offenlegt. Schon vor 30 Jahren war offensichtlich: Das »Versagen« war gewollt.
- Filmempfehlung: „The Truth Lies In Rostock“
Im August 1992 griff ein Mob aus Anwohner_innen und Nazis vier Tage lang die „Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber“ (ZaST) im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen an. Begeisterte und applaudierende Deutsche machten aus dem brutalen Pogrom ein rassistisches Volksfest, auf dem sie weitgehend ungestört von der Polizei den Wahn eines „Deutschlands nur für Deutsche“ realisieren konnten. Es grenzt an ein Wunder, dass bei den Ausschreitungen niemand zu Tode gekommen ist.Die Videoproduktion „The Truth lies in Rostock“ entstand 1993 unter maßgeblicher Beteiligung von Menschen, die sich zum Zeitpunkt der Geschehnisse im attackierten Wohnheim befanden. Deshalb zeichnet sich die Produktion nicht nur durch einen authentischen Charakter aus, sondern versteht sich auch Jahre danach als schonungslose Kritik an einer Grundstimmung in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, die Pogrome gegen Migranten oder einfach nur „anders aussehende“ überhaupt erst möglich macht. – Filmbeschreibung der Rosa Luxemburg Stiftung.
Den Film findet ihr unter diesem Link in voller Länge auf Youtube. - Im Podcast von NSU-Watch geht es in der Folge 82 um das rassistische Pogrom in Lichtenhagen und thematisiert nicht nur das staatliche „Versagen“ sondern auch Perspektiven von Migrant:innen und Auswirkungen für die Betroffenen rechter Gewalt: Vor Ort in Mecklenburg-Vorpommern. Schwerpunkt: Rostock-Lichtenhagen 1992, eine Spurensuche zum rassistischen Pogrom und den Folgen