Heute hat der Prozess gegen den Mutmaßlichen Mörder von Samuel Yeboah begonnen. Peter Schröder, geborener Schlappal, soll derjenige sein, der am 19. September 1991 Samuel Yeboah durch einen rassistischen Brandanschlag tötete. Auf samuel-yeboah.de/ gibt es einen virtuellen Gedenkstein für ihn. Die Antifa Saar hat nicht nur diesen ausführlichen Beitrag über den Fall geschrieben, sondern sich auch an zahlreichen Aktionen im Bezug auf Samuel Yeboah beteiligt und diese umfassend dokumentiert.
Mord an Samuel Yeboah
Am 19. September 1991 wurde Samuel Kofi Yeboah in Saarlouis durch einen rassistischen Brandanschlag ermordet. Er ist eines der ersten Opfer rassistischer Gewalt in Westdeutschland nach der Wiedervereinigung. Der oder die Mörder verschütteten im Erdgeschoss des Wohnhauses Benzin und entzündeten es. Das Feuer breitete sich mit großer Geschwindigkeit über das gesamte Treppenhaus aus. Die hölzerne Treppe brannte sofort, der Fluchtweg für die Eingeschlossenen war abgeschnitten. Menschen, die im Erdgeschoss und im ersten Obergeschoss lebten, konnten sich über Fenster und einen Anbau retten. Zwei Bewohner retteten sich durch Sprünge aus dem Fenster und erlitten schwere Verletzungen. Der im Dachgeschoss wohnende 27-jährige Samuel Yeboah konnte sich nicht mehr vor dem Feuer in Sicherheit bringen und erlitt schwerste Verbrennungen und eine Rauchgasvergiftung. Er verstarb kurze Zeit später in einem Saarlouiser Krankenhaus. Die Ermittlungen wurden 1991 von der Polizei Saarlouis geführt und nach nur elf Monaten eingestellt, da kein Tatverdächtiger auszumachen gewesen sei.1https://www.saarbruecker-zeitung.de/saarland/saarlouis/polizei-rollte-den-fall-samuel-yeboah-komplett-neu-auf_aid-52629743
Nach einem Zeuginnenhinweis wurden die Ermittlungen dann 2020 überraschend wieder aufgenommen und aufgrund „gravierender Anhaltspunkte auf einen rechtsextremistischen und fremdenfeindlichen Hintergrund“2https://www.fr.de/politik/rechtsextremer-anschlag-ich-hoere-noch-die-schreie-help-me-90993155.html, der stets von der Saarlouiser Politik in Abrede gestellt wurde, von der Bundesanwaltschaft übernommen. Der mutmaßliche Täter soll auf einer Grillparty gegenüber einer Bekannten mit der Tat geprahlt haben, die im November 2019 zur Polizei gegangen sein soll. Es erfolgten dann bei mehreren Nazis im Raum Saarlouis Hausdurchsuchungen durch die Bundesanwaltschaft und 150 Zeug:innen, vor allem aus der Nazi-Szene, wurden bislang vernommen3https://www.sr.de/sr/home/nachrichten/panorama/mordermittlungen_samuel_yeboah_100.html.
Schließlich wurde am 4. April 2022 Peter Werner Schlappal, der heute Schröder heißt, wegen des dringenden Tatverdachts des Mordes an Samuel Yeboah verhaftet. Ihm wird vorgeworfen, den Brand „aus seiner rechtsextremistischen und rassistischen Gesinnung heraus” gelegt zu haben. Zuvor habe er sich in einer Kneipe in Saarlouis mit zwei „rechtsextremistischen Gesinnungsgenossen”, einer davon war Peter Strumpler, „unter anderem über die rassistisch motivierten Anschläge auf Unterkünfte für Ausländer in Hoyerswerda ausgetauscht” und man habe die Begehung solcher Anschläge auch in Saarlouis gutgeheißen, wie einer Mitteilung der Bundesanwaltschaft zu entnehmen ist.4https://www.generalbundesanwalt.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/aktuelle/Pressemitteilung-vom-04–04-2022.html;jsessionid=90C79AB4DF9ED807F8D3B62DE20BFA28.internet281?nn=478184
Der Prozess gegen Peter Schlappal bzw. Schröder, der seit seiner Festnahme in Untersuchungshaft sitzt, soll nun am 16. November 2022 vor dem Oberlandesgericht in Koblenz beginnen. Die Anklageschrift umfasst 73 Seiten; 75 Zeug:innen sind benannt, darunter viele Nazis wie zum Beispiel auch Peter Strumpler.5https://www.saarbruecker-zeitung.de/saarland/prozesse-gericht/mordprozess-yeboah-wie-es-31-jahre-nach-der-tat-noch-zu-der-anklage-kam_aid-78690047
Peter Schlappal war in den 1990er Jahren in der Saarlouiser Naziszene aktiv und enger Vertrauter von Peter Strumpler, der über Jahrzehnte zentrale Führungsfigur der militanten rechten Szene in Saarlouis und darüber hinaus war. Im Oktober 1992 war Schlappal einer der Hauptbeteiligten eines gewaltsamen Angriffs von zwölf Nazis auf einen Studenten in Saarbrücken, der dabei schwer verletzt wurde.
Im März 1996 fungierte er auf einer Nazidemonstration in Saarlouis als Ordner. Am 3. August 1996 nahm Schlappal an einem überregionalen Vorbereitungstreffen in Arfeld (Nordrhein-Westfalen) teil, bei dem es um die Planung des sog. Rudolf-Hess-Marsches zwei Wochen später in Worms ging. Aus dem Saarland machten sich Nazis am 17. August 1996 mit mindestens fünf Fahrzeugen auf den Weg nach Worms zu dem für sie zentralen Ereignis. Etwa 200 Nazis demonstrierten eine halbe Stunde durch Worms, um dem Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess zu huldigen.
Ab 1997 wurde es dann um Schlappal eher still, angeblich soll er Aussagen gegenüber der Polizei gemacht haben. Dass dies szeneintern keine ernsthafteren Konsequenzen für Schlappal hatte, ließ viele stutzig werden. Gerüchteweise soll er durch Peter Strumpler protegiert worden sein, dem manche ebenfalls eine Zusammenarbeit mit den Behörden unterstellten.
Deutsche Wiedervereinigung und rassistische Pogromstimmung
Die Ermordung Samuel Yeboahs fiel in eine Zeit breiter gesellschaftlicher Akzeptanz rassistischer Gewalt Anfang der 1990er Jahre. Der mörderische Rassismus war nach der Deutschen Wiedervereinigung Ausdruck und Ergebnis der weit verbreiteten Sehnsucht nach einer homogenen deutschen Volksgemeinschaft.6https://www.nsu-tribunal.de/anklage/ Große Teile der bundesdeutschen Politik und auch der Medien, allen voran CDU/CSU und die BILD-Zeitung, betätigten sich als geistige Brandstifter:innen. Die rassistische Stimmung wurde im Bundestagswahljahr 1990 auch von Oskar Lafontaine, damals Ministerpräsident des Saarlandes und Kanzlerkandidat der SPD, angeheizt. Er griff die Rhetorik des deutschen Mobs gerne auf, sprach von „Wirtschaftsflüchtlingen” und „Scheinasylanten” und forderte: „Das Asylrecht muss so gestaltet sein, dass die Bevölkerung es akzeptiert.“7https://www.spiegel.de/politik/asylrecht-oskar-quaelt-sich-a-b15566b2-0002–0001-0000–000013499604
Nazis in Ost und West konnten sich als Vollstrecker eines angeblichen Volkswillens geradezu ermutigt fühlen. Extrem rechte Parteien wie die Deutsche Volksunion (DVU) oder die Republikaner (REP) feierten teils beachtliche Wahlerfolge.
Von Politiker:innen mit Hetze über angebliche „Wirtschaftsflüchtlinge” und „Scheinasylanten” angestachelt griffen Nazis vom 17. bis 23. September 1991 gemeinsam mit Bürger:innen die Wohnheime von ehemaligen DDR-Vertragsarbeiter:innen und Geflüchteten in Hoyerswerda an. Bis zu 500 Menschen beteiligten sich an dem rassistischen Pogrom, warfen Steine, Flaschen und Molotow-Cocktails, applaudierten den Angreifenden und riefen rechte Parolen. Das zuständige Landratsamt erklärte: „Die übergroße Mehrheit der Anwohner im unmittelbaren Umfeld des Ausländerwohnheims sieht in den Handlungen der Störer eine Unterstützung ihrer eigenen Ziele zur Erzwingung der Ausreise der Ausländer und erklärt sich folgerichtig mit ihren Gewalttätigkeiten sehr intensiv solidarisch.“8https://www.amnesty.de/journal/2016/oktober/generation-hoyerswerda Da die Polizei nicht willens oder nicht in der Lage war, dem Treiben des rechten Mobs ein Ende zu bereiten und die Angegriffenen zu schützen, wurden die Opfer schließlich in Bussen aus der Stadt gebracht. Hunderte bejubelten den Abtransport der Geflüchteten: Der deutsche Mob hatte gesiegt.
Die davon ausgehende Signalwirkung war fatal und animierte Nazis bundesweit zu ähnlichen Taten — so auch im Saarland: Das Pogrom von Hoyerswerda war unmittelbar Motivation für die Nazis in Saarlouis, den Brandanschlag zu begehen, dessen Opfer Samuel Yeboah wurde.9https://www.generalbundesanwalt.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/aktuelle/Pressemitteilung-vom-04–04-2022.html;jsessionid=90C79AB4DF9ED807F8D3B62DE20BFA28.internet281?nn=478184
In die Zeit der mörderischen Wendejahre fiel auch das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen. Am 24. August 1992 versammelte sich ein Mob von 3.000 Personen vor der „Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber” und dem sog. Sonnenblumenhaus, in dem Migrant:innen aus Vietnam sowie Sinti und Roma lebten. Unter dem Gebrüll von „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!” wurde das Wohnhaus in Brand gesetzt. Die Stimmung glich der auf einem deutschen Volksfest, es wurden Bier und gegrillte Würstchen verkauft. In der Nacht des 26. August 1992 erhielt die ohnehin nahezu untätige Polizei den Befehl zum vollständigen Rückzug, sodass die in dem brennenden Wohnheim eingeschlossenen Bewohner:innen, einige wenige antifaschistische Unterstützer:innen und ein ZDF-Fernsehteam10https://www.zdf.de/politik/politik-sonstige/pogrom-rostock-lichtenhagen-kennzeichen-d-archiv-1992–100.html schutzlos dem rassistischen Mob ausgeliefert wurden. Am Ende war es lediglich einer Reihe von glücklichen Umständen zu verdanken, dass es den Angreifenden misslang, Bewohner:innen des Sonnenblumenhaus zu töten.
Nur wenige rechte Täter:innen der 1990er Jahre wurden zur Rechenschaft gezogen, oft schauten Behörden und Polizei tatenlos zu. Halbherzige oder oft gänzlich fehlende Konsequenzen gegenüber dem rassistischen Mob selbst bei schwersten Gewalttaten verschafften den Nazis zusätzlich ein Gefühl der Legitimation.
In dieser Zeit wurde der Boden bereitet für die späteren Terrorist:innen — unter anderem die des “Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU)”, die damals ihre politische Sozialisation erfuhren.
Das Grundrecht auf Asyl war 1949 als Konsequenz der mörderischen Politik der Nazifaschisten in Artikel 16 festgeschrieben worden: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.” Nach Vorarbeit durch Oskar Lafontaine und viele andere im Wahlkampf 1990 und den Pogromen in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen sowie unzähligen weiteren rassistischen Anschlägen meldete die Politik 1993 schließlich Vollzug: Durch die CDU/CSU-FDP-Koalition unter Helmut Kohl und mit Zustimmung der SPD wurde zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik ein Grundrecht geändert. Durch Einführung der sog. „Drittstaatenregelung” wurde das bis dahin als unantastbar geltende Grundrecht auf Asyl faktisch abgeschafft.
Nazis aus Ost und West jubilierten: Sie konnten sich darin bestärkt fühlen, dass sich ihre mörderischen Taten auch politisch auszahlen.
Im Mai 1993, drei Tage nach der Ratifizierung des Asylgesetzes im Bundestag, wurden durch einen rassistisch motivierten Brandanschlag auf ein Wohnhaus in Solingen Gürsün Ince (26), Hatice Genç (18), Gülüstan Öztürk (12), Hülya Genç (9) und Saime Genç (4) ermordet, vierzehn weitere Familienmitglieder erlitten teils lebensgefährliche Verletzungen.
Saarlouis: Nazihochburg Westdeutschlands
Das Saarland im Allgemeinen und Saarlouis im Speziellen waren herausragende Nazi-Hochburgen in Westdeutschland – schon lange vor dem tödlichen Brandanschlag auf Samuel Yeboah. 1986 wurde die Saarlouiser Naziszene durch ein Interview im “Stern” auch einer bundesweiten Öffentlichkeit bekannt.11https://antifa-saar.org/Word/wp-content/uploads/2020/08/19860100-Saarlouis-Stern-Interview-Terror-der-Skins‑1.pdf Der damals 19-jährige Nazi-Skin Markus Karl-Heinz Mang aus Saarlouis wurde zu einem rassistischen Mord befragt: „In Hamburg haben drei Skinheads einen wehrlos am Boden liegenden Türken zu Tode geprügelt. Wie stehen Sie zu der Aktion Ihrer Kameraden?” (sic) Mang, der sich in dem Interview „Mengele” nennt, antwortete: „Die Skins, die das gemacht haben, haben das einzige Mal in ihrem Leben das Richtige gemacht.” An anderer Stelle des Interviews äußert Mang: „Juden gibt es eh nicht mehr viele, weil die schon vor 40 Jahren liquidiert worden sind. Das ist kein Thema mehr. Die Türken würde ich heute genauso da reinschicken. Ich hasse die einfach.” Markus Mang hat seine Menschenverachtung und nationalsozialistischen Überzeugungen keinesfalls überwunden. Er ist weiterhin in der Szene aktiv und verhöhnte noch im Jahr 2016 das Gedenken an Samuel Yeboah.12https://antifa-saar.org/2021/01/28/yeboah-hausdurchsuchungen-saarlouiser-nazis/
Nazi-Terror im Saarland
Schon vor dem tödlichen Brandanschlag auf Samuel Yeboah gab es im Raum Saarlouis mehrere Anschläge. Ins Auge sticht insbesondere die Häufung extrem rechts motivierter Brand- und Sprengstoffanschläge. Im November 1990 wurde durch Zufall eine Splitterbombe unter der Eingangstreppe zum Büro der PDS in Saarbrücken entdeckt, die noch rechtzeitig entschärft werden konnte. Die Explosion hätte nach Einschätzung des Bundeskriminalamts die über 30 Besucher:innen einer geplanten Veranstaltung im Haus töten können.13https://jungle.world/artikel/2020/35/terror-der-saar Ende 1990 explodierte in Saarlouis auf einer Veranstaltung mit dem Titel „Den Nationalsozialismus überwinden“ eine Rohrbombe. An der Veranstaltung nahmen 800 Besucher:innen teil, verletzt wurde niemand. In Schwalbach, einer Nachbargemeinde von Saarlouis, wurden im April 1991 gleich mehrere Brandanschläge innerhalb weniger Tage auf eine Unterkunft für Geflüchtete verübt. Es blieb bei Sachbeschädigungen. Am 20. August 1991 wurde Feuer im Eingangsbereich eines Asylbewerber:innenheims in Saarlouis-Roden gelegt.
Der Brandanschlag am 19. September 1991, bei dem Samuel Yeboah ermordet wurde, war der fünfte Anschlag auf eine Geflüchtetenunterkunft in Saarlouis seit 1987.
Auch nach diesem tödlichen Anschlag ging die Anschlagsserie14https://antifa-saar.org/2012/01/25/dokumentation-der-broschuere-kein-schoener-land/ weiter: In Saarwellingen wurde am selben Tag eine Unterkunft für Geflüchtete angegriffen, am 29. September in Jägersfreude, am 9. Oktober 1991 in Altenkessel. Am 11. Oktober 1991 wurde das Wohnheim in der Gutenbergstraße in Saarlouis, in das auch ehemalige Bewohner aus dem abgebrannten Haus in Fraulautern verbracht wurden, angegriffen. Am 14. Oktober 1991 wurde ein Anschlag in Wadgassen verübt. Im Jahr 1992 versuchten Faschisten am 15. Januar in Saarlouis, mit einem Gasgemisch und einem Zünder das selbst verwaltete Zentrum KOMM in die Luft zu sprengen; Ein Defekt der Zündvorrichtung ließ es nur zu einem kleineren Brand kommen. Am 11. Juli wurde ein Anschlag in Schwarzenholz verübt und am 29. August 1992 warfen Unbekannte zwei Brandsätze in die Unterkunft in der Saarlouiser Gutenbergstraße, in der 60 Geflüchtete lebten. Es brannte in der Küche, verletzt wurde mit Glück niemand. Am 14. September 1992 wurde im Orannaheim in Saarlouis eine professionell gefertigte Rohrbombe mit Zeitzünder gefunden, die kurz vor der Explosion entschärft werden konnte. Am selben Tag wurden auch in Ottweiler und Wadgassen Häuser von Geflüchteten angegriffen, am 21. September in Bübingen. Am 22. September 1992 wurde ein Brandanschlag auf ein von kurdischen Geflüchteten bewohntes Haus in Saarwellingen verübt, zwei Bewohner erlitten Rauchgasvergiftungen und mussten in einem Krankenhaus behandelt werden. Weitere Anschläge, zum Teil mit Brandsätzen, gab es am 10. Oktober in Wiebelskirchen, am 13. Oktober in Wallerfangen, am 5. November in St. Ingbert, am 4. und 7. November in Saarbrücken, und am 20. November 1992 in Völklingen.
Während diese unfassbare Anschlagsserie wenig bis kein öffentliches Interesse erlangte sorgte ein weiterer extrem rechts motivierter Bombenanschlag schließlich bundesweit für Aufsehen: Der Sprengstoffanschlag auf die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ am 9. März 1999 in Saarbrücken. Die Ausstellung, das Gebäude der Volkshochschule und eine benachbarte Kirche wurden schwer beschädigt.
Die Serie extrem rechts motivierter Anschlägen im Saarland riss nicht ab: Zwischen 2006 und 2012 wurden allein in der Kleinstadt Völklingen mehr als ein dutzend von Migrant:innen bewohnte Häuser in Brand gesetzt.15https://www.saarbruecker-zeitung.de/saarland/saarland/zwei-neue-braende-in-voelklingen-beschaeftigen-sonderermittler_aid-1157623 Mindestens 20 Menschen wurden bei den Bränden verletzt, wie durch ein Wunder kam niemand ums Leben.
Im benachbarten Großrosseln wurde am 20. Januar 2012 die Gartenlaube einer türkisch-stämmigen Familie in Brand gesteckt, auf eine Wand war ein Hakenkreuz geschmiert worden. Opfer der Brandanschlagsserie sollen von der Polizei aufgefordert worden sein, die Brände „nicht an die große Glocke zu hängen”.16https://www.saarbruecker-zeitung.de/saarland/saarland/weitere-braende-mit-rechtem-hintergrund_aid-1299516
Vergleichbar den Ermittlungen bei vom „NSU“ begangenen Mordtaten („Sonderkommission Bosporus”) wurde nicht in Richtung eines extrem rechts motivierten Anschlags ermittelt, stattdessen ließ sich die Polizei lieber von ihren rassistischen Stereotypen leiten.
Einem der migrantischen Anschlagsopfer in Völklingen wurde beispielsweise unterstellt, dass er die Brände in Auftrag gegeben habe, um so von einem Versicherungsbetrug zu profitieren. Dies soll ein Informant der Staatsschutzabteilung des Landeskriminalamts der Polizei mitgeteilt haben. Der zu unrecht Beschuldigte wurde in der Folge über Monate als Tatverdächtiger telefonisch abgehört und überwacht. Sein Anwalt äußerte den Verdacht, dass es sich bei dem Informanten um einen V‑Mann aus der extrem rechten Szene handeln könnte, der mit seinem Tipp in Richtung „kriminelles Türkenmilieu“ von den eigentlichen Täter:innen habe ablenken wollen.17https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/rechtsextremismus/brandserie-in-voelklingen-elf-sonderbare-braende-11557447.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0 In allen Fällen wurden die Ermittlungen eingestellt, Täter:innen nie gefasst. Hinweise auf rassistische Hintergründe der Taten vermochte die Polizei nicht festzustellen.
Verbindungen zum „NSU“
Verbindungen der saarländischen Nazi-Szene zu späteren Mitgliedern des Terrornetzwerks „Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)” sind bereits für das Jahr 1996 nachweisbar. Während des Rudolf-Hess-Marsches in Worms im August 1996, an dem auch mehrere Faschist:innen aus dem Saarland teilnahmen, wurden diverse Nazis von der Polizei festgesetzt. Hierunter befanden sich neben dem nun wegen Mordes an Samuel Yeboah verhafteten Peter Schlappal auch die späteren „NSU“-Terrorist:innen Beate Zschäpe und Uwe Mundlos sowie Ralf Wohlleben und Tino Brandt.18https://antifa-saar.org/2021/01/29/zur-person-peter-schlappal-der-hauptverdaechtige-im-mordfall-samuel-yeboah-ist-seit-jahrzehnten-bekannt/
Nach der Selbst-Enttarnung des „NSU“ und dem Tod von Mundlos und Böhnhardt wurden 16 Exemplare eines Bekennervideos auf DVD an politische, religiöse und kulturelle Einrichtungen sowie an Presseunternehmen verschickt.19https://www.nsu-nebenklage.de/blog/2017/07/27/27–07-2017-protokoll/ Eine der versandten Bekenner-DVDs wurde an die Selimiye-Moschee in Völklingen geschickt.20https://www.spiegel.de/panorama/justiz/zwickauer-terrorzelle-dvd-deutet-auf-verbindung-zu-brandanschlaegen-hin-a-801412.html Ein Zusammenhang des „NSU“ zu der bisher nicht aufgeklärten Brandanschlagsserie in Völklingen wurde vermutet.21https://www.fr.de/politik/terror-spur-saarland-11367862.html
2011 ergab sich außerdem nach einem Zeugenhinweis der Verdacht, dass der „NSU“ den Sprengstoffanschlag auf die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ in Saarbrücken verübt haben könnte.22https://www.tagesspiegel.de/politik/spur-ins-saarland-veruebte-nsuanschlag-auf-wehrmachtsausstellung/5918538.html Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren allerdings 2013 – abermals ergebnislos – wieder ein.23https://www.sr.de/sr/home/nachrichten/politik_wirtschaft/20_jahre_anschlag_wehrmachtsausstellung102.html
Im Rahmen der „NSU“-Ermittlungen wurde auch eine 10.000 Datensätze umfassende sog. “Feindesliste” des „NSU“ mit Namen und Räumlichkeiten politischer Gegner:innen gefunden. Darunter weisen insgesamt 86 Datensätze einen Bezug zum Saarland auf, wie die Landesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion 2018 antwortet.24Drucksache 16/568 (16/510) Davon beziehen sich unter anderem 18 Datensätze auf Personen, 21 auf Parteieinrichtungen, 14 auf Vereine und sieben auf religiöse Einrichtungen im Saarland.
Es gibt Hinweise auf Verbindungen des „NSU“ ins Saarland: Eine der an nur 16 Adressen bundesweit versendeten Bekenner-DVDs wird ausgerechnet nach Völklingen geschickt, es finden sich 86 saarländische Ziele auf der „NSU-Liste“.
Dennoch werden die Ermittlungen hierzu erneut eingestellt, zum Beispiel bleibt der Bombenanschlag auf die sog. “Wehrmachtsausstellung” in Saarbrücken trotz seiner politischen Bedeutung bis heute unaufgeklärt. Ein Zusammenhang des rassistischen Terrors im Saarland zum „NSU“ – insbesondere die Brandanschläge in Völklingen betreffend – ist möglich, wenn er aktuell auch nicht zuletzt wegen der andauernden Geheimhaltung wichtiger Akten nicht nachweisbar ist. Als sicher kann gelten, dass es auch im Saarland extrem Rechte Strukturen mit der Bereitschaft zur Verübung terroristischer Anschläge gibt. Doch kritische Nachfragen der Presse und auch der Zivilgesellschaft im Saarland bleiben überwiegend aus. Die wenigen interessanten Recherchen werden fast ausschließlich von überregionalen Zeitungen veröffentlicht, die regionale Presse beschränkt sich meist auf die unkritische Wiedergabe von polizeilichen oder staatsanwaltschaftlichen Pressemitteilungen.
Nach dem behördlichen und zu großen Teilen auch zivilgesellschaftlichen Versagen in den 1990er Jahren hat sich heute leider nur wenig geändert im Saarland.
Abwiegeln, leugnen, verdrängen — Der Umgang der Lokalpolitik mit dem Mord an Samuel Yeboah
Die Jahre und Jahrzehnte nach dem Mord an Samuel Yeboah waren geprägt von einem Narrativ, das bereits kurz nach der Tat von den Stadtoberen ausgegeben wurde: Es gäbe keine rechte Szene in Saarlouis, der rassistische Hintergrund des Anschlages sei nicht bewiesen. Weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte, wurde das allzu nahe liegende beharrlich geleugnet – nämlich dass der Mord an Samuel Yeboah rassistisch motiviert war und sich einreihte in eine ganze Reihe oft tödlicher rechter Brand- und Mordanschläge Anfang der 1990er Jahre im wiedervereinigten Deutschland. Mit stigmatisierten Orten wie Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda oder Solingen wollte man in Saarlouis keinesfalls in ein einem Atemzug genannt werden – das vom städtischen Marketing erfundene Image der weltoffenen, gastfreundlichen “heimlichen Hauptstadt des Saarlandes“ mit französischem Flair stand doch im krassen Kontrast zu den rechten und rassistischen Realitäten vor Ort. Diese rassistischen Realitäten kontinuierlich zu leugnen war indes Konsens der kommunalpolitischen Akteur:innen. Eine Woche nach dem tödlichen Brandanschlag ließ sich SPD-Bürgermeister Alfred Fuß in der taz zitieren: “Eine richtige Szene gibt es hier nicht.“25https://taz.de/Rassismus-in-der-Festungsstadt/!1700949/ Auch der damalige Vorstandssprecher der saarländischen Grünen, Hubert Ulrich, gab an, von einer rechten Szene nichts zu wissen. Oberbürgermeister Richard Nospers, ebenfalls SPD, sah sich genötigt, eine „Saarlouiser Erklärung” herauszugeben, in der bestritten wurde, dass Saarlouis ein Zentrum der rechtsextremen Szene sei. Bedauert wurde, dass es in jeder Gesellschaft in ganz Europa einen kleinen Prozentsatz Rechtsradikaler gäbe, in Saarlouis sei dies jedoch auch nicht mehr als anderswo. Dass die Realität ganz anders aussah, konnte jeder wissen, der sich Anfang der 1990er Jahre mit offenen Augen durch Saarlouis bewegte: Die Saarlouiser Nazis, damals größtenteils subkulturell geprägt und sich der Skinhead-Szene zugehörig fühlend, waren im Stadtbild präsent, sie trafen sich zum Trinken im Ludwigspark und am Brunnen auf dem Großen Markt. Nazi-Schmierereien aus der Zeit sind zahlreich dokumentiert. Dass bestimmte Orte in Saarlouis für nicht-deutsch aussehende Menschen Angsträume waren und von diesen so gut es ging gemieden wurden – das konnte man damals wissen. Wenn man es wissen wollte.
Symptomatisch für den Umgang der Stadt Saarlouis mit ihrer Naziszene ist der gescheiterte Versuch, den zunehmenden Übergriffen mit akzeptierender Sozialarbeit entgegenzuwirken. 1994 ging die Stadt Saarlouis auf die von unkritischen bis unterstützenden Artikeln in der Lokalpresse flankierten Forderungen der Saarlouiser Naziszene nach eigenen Räumlichkeiten ein und startete ein Projekt akzeptierender Sozialarbeit mit rechten Jugendlichen. Auf den bei faschistischem Gedankengut doch mehr als fragwürdigen akzeptierenden Ansatz angesprochen kommentierte der verantwortliche Sozialarbeiter 1996 lapidar: „Besser sie marschieren, als Häuser abzubrennen.“26https://antifa-saar.org/2012/01/25/dokumentation-der-broschuere-kein-schoener-land/, Seite 51 Doch statt die herzlich naive Zielsetzung zu erreichen, vermeintlich „orientierungslose” Jugendliche zurück in die Mitte der Gesellschaft zu holen, bewirkte das Projekt das glatte Gegenteil: Die Saarlouiser Naziszene festigte sich personell wie ideologisch, und auch die Zahl rechter Übergriffe in Saarlouis stieg an.
Während die Stadt Saarlouis ihr offensichtliches Nazi-Problem nicht als solches erkennen wollte und Nazis als orientierungslose Jugendliche verharmloste, denen mit ein wenig Streetworking beizukommen wäre, bekamen diejenigen, die sich mit der Nazihochburg Saarlouis nicht abfinden wollten, die harte Hand des Saarlouiser Rathauses zu spüren.
Die relativ kleine, aber aktive Antifa-Szene, die sich in Saarlouis den Nazis entgegenstellte, wurde schnell als eigentliches Problem markiert und parteiübergreifend angegangen. Der Vorstand des Kommunikationszentrums KOMM, der aus Funktionären der saarländischen Grünen bestand, kündigte den Saarlouiser Antifas die Räumlichkeiten, in denen sie ihren Infoladen im KOMM betrieben und schloss damit den wichtigsten Anlaufpunkt für antifaschistische Arbeit in Saarlouis. Auseinandersetzungen mit den Saarlouiser Nazis wurden als Konflikte rivalisierender Banden betrachtet, die Verantwortung der antifaschistischen Seite zugeschoben. Das Narrativ der Nazis, sie seien ja friedlich und reagierten nur auf Provokationen, übernahmen Lokalmedien wie auch Lokalpolitik und räumten so den Nazis die Saarlouiser Straßen frei.
Eine öffentliche Erinnerung an Samuel Yeboah findet bis heute in Saarlouis kaum statt. Lediglich ein vor dem dreißigsten Jahrestag des Todes von Yeboah auf die Schnelle angefertigtes Schild am Tatort und ein kleiner Gedenkstein auf dem Friedhof “Neue Welt” erinnern an Samuel Yeboah. Als antifaschistische Gruppen anlässlich des zehnten Jahrestags seiner Ermordung eine professionell gefertigte Gedenktafel mit der Inschrift „In Erinnerung an Samuel Yeboah — Flüchtling aus Ghana — am 19.9.1991 durch einen rassistischen Brandanschlag in Saarlouis ermordet” an der Fassade des Saarlouiser Rathauses anbrachten, wurde die Gedenktafel noch in der gleichen Nacht auf Anweisung des Saarlouiser Oberbürgermeisters Hans-Joachim Fontaine entfernt. Gegen den Anmelder der Kundgebung wurde Anzeige erstattet. Vier Jahre später wurde der Antifaschist schließlich vom Amtsgericht Saarbrücken dazu verurteilt, die Kosten in Höhe von 134,50 Euro für die Entfernung der Gedenktafel zu übernehmen27https://antifa-saar.org/2006/03/10/rote-hilfe-zeitung-kein-stein-des-anstosses-wie-eine-stadt-sich-nicht-erinnern-will/ – die bislang einzige Verurteilung im Komplex Samuel Yeboah.
Die vergangenen 30 Jahre seit dem Mord an Samuel Yeboah am 19. September 1991 sind geprägt von einer konsequenten Politik des Leugnens, Abwiegelns und Wegschauens.28https://antifa-saar.org/2016/11/22/yeboah-nie-gehoert/#more-1963 Der gute Ruf ihrer Stadt war den Saarlouisern immer das Wichtigste, da passte eine rassistische Mordtat, begangen aus der örtlichen Naziszene heraus, nicht ins Bild der Tourismuswerbung. Erst im Zusammenhang mit den neuen Ermittlungen im Jahr 2020 sagten der Saarlouiser Oberbürgermeister Peter Demmer (SPD) und Bürgermeisterin Marion Jost (CDU), falls sich ein rassistischer Hintergrund der Tat nachweisen lasse, müsse das Gedenken neu bewertet werden – wie diese Neubewertung in der „heimlichen Hauptstadt” aussehen wird, bleibt abzuwarten.
Ignoranz, Unwillen oder Komplizenschaft?
Die „Sicherheitsbehörden” Polizei und „Verfassungsschutz”
Nicht anders als die Vertuschungsbemühungen in Saarlouis sah der Aufklärungswille der saarländischen „Sicherheitsbehörden” aus. Rund zwei Wochen nach dem tödlichen Brandanschlag bestätigte die saarländische Kriminalpolizei die Sichtweise des Saarlouiser Rathauses: Die rechte Szene betreffend bereite die Stadt Saarlouis der Kripo kein sonderliches Kopfzerbrechen. Schaut man sich die Ermittlungsarbeit der saarländischen Polizei vom Herbst 1991 an, werden unweigerlich Parallelen zur Mordserie des selbsternannten „NSU” deutlich: Hier wie dort suchte man das Motiv im direkten Umfeld der Opfer. Verwicklungen in das organisierte Verbrechen, eine Abrechnung im Drogenmilieu — das waren und sind offenbar die ersten „logischen” Gedanken, die polizeilichen Ermittler:innen in den Sinn kommen, wenn in Deutschland Geflüchtete ermordet werden. In diese Richtung hat wohl auch die Saarlouiser Polizei damals fleißig (und natürlich ergebnislos) ermittelt, während der all zu offenkundigen Möglichkeit – dass es sich um einen rassistischen Anschlag handeln könnte – kaum nachgegangen wurde. Einer der Überlebenden des Anschlags in Saarluois schilderte in einem Podcast von NSU-Watch29https://www.nsu-watch.info/podcast/nsu-watch-aufklaeren-einmischen-72-vor-ort-mit-abdul-s-kristin-pietrzyk-und-ursel-gegen-rassismus-antisemitismus-und-rechte-gewalt-im-saarland-schwerpunkt-der-mord-an-samuel-yeboah-am-19-se/ die Tatnacht und die Zeit danach. Die Polizei hätte ihn und die 17 anderen Überlebenden behandelt, „als wenn wir unser eigenes Haus angezündet hätten“.30https://www.fr.de/politik/rechtsextremer-anschlag-ich-hoere-noch-die-schreie-help-me-90993155.html Die Ermittlungen wurden schließlich nach nur elf Monaten ergebnislos eingestellt. Im kollektiven Gedächtnis der Saarlouiser hielt sich das polizeiliche Narrativ, dass es sich nicht um einen rassistisch motivierten Anschlag, sondern um die Tat von Kriminellen, von Drogendealern handelte. Und zwar bis ins Jahr 2020, als neue Erkenntnisse ans Licht kamen. Diese ergaben sich nicht etwa aus Ermittlungen der Polizei, sondern aus unvorsichtigen Äußerungen des sich wohl in Sicherheit wiegenden mutmaßlichen Täters. Hätte Peter Schlappal (mittlerweile Schröder) nicht während einer Grillfeier mit seiner Mordtat geprahlt, würden noch immer nur hartnäckigen „Querulanten von Links“ den Mord als das bezeichnen, was er war, und was man in Saarlouis nie wahrhaben wollte: Die rassistische Tat von bekennenden und bekannten Nazis aus der Stadt.
Dass wieder im Mordfall Samuel Yeboah ermittelt wurde und es nun zum Prozess kommt ist also nur „Kommissar Zufall” zu verdanken, sicher aber nicht der guten saarländischen Polizeiarbeit. Wie mittlerweile bekannt ist, hat sich eine Zeugin, der gegenüber der mutmaßliche Mörder Peter Schlappal mit der Tat geprahlt hat, an die Polizei gewandt und so die erneuten Ermittlungen angestoßen. Nun steht der Prozess gegen Schlappal in Koblenz bevor.
Also Ende gut, alles gut? Mitnichten. Warum die Ermittler:innen nun unter Führung der Bundesanwaltschaft fast 30 Jahre nach der Tat offensichtlich in der Lage sind, das zu ermitteln, was die saarländische Polizei unmittelbar nach dem Mord, als die Spuren noch frisch waren, offensichtlich nicht konnte oder wollte, muss auch außerhalb des polizeilichen Rahmens aufgeklärt werden. Dass es bei der Polizeiarbeit damals gravierende Mängel und Fehlverhalten gab, gesteht indes sogar die Polizei ein: Parallel zur Wiederaufnahme der Ermittlungen im Jahr 2020 wurde eine Arbeitsgruppe der Polizei, die „AG Causa“, eingesetzt, um zu überprüfen, welche Versäumnisse der Polizei zur Nichtaufklärung der Tat beigetragen haben. Diese habe Defizite etwa bei der Erhebung, Bewertung und Weitergabe von Informationen festgestellt, so erste Ergebnisse. Der saarländische Polizeipräsident Norbert Rupp entschuldigte sich öffentlich für diese „Versäumnisse” und betonte zugleich, dass die saarländische Polizei mittlerweile „Qualitätsstandards” eingeführt habe, damit sich solche „Fehler” nicht wiederholen.31https://www.saarbruecker-zeitung.de/saarland/polizei-gesteht-fehler-im-fall-yeboah-ein-entschuldige-mich-im-namen-des-landespolizeipraesidiums_aid-67763357 32https://www.sr.de/sr/home/nachrichten/panorama/festnahme_fall_yeboah_100.html
Mit einem neu eingeführten „Qualitätsmanagement“ lässt sich das Rassismusproblem der Polizei sicher nicht auflösen.
Wer sich mit dem Mord an Samuel Yeboah und den Entwicklungen der vergangenen 30 Jahre in Saarlouis befasst, wird die Erklärung, dass das Nicht-Aufklären des Mordes vor allem organisatorischen und strukturellen Defiziten geschuldet sei, nur schwer glauben können. Der Verweis auf „technische Mängel” soll all diejenigen in den Polizeibehörden entschuldigen, die damals zwar angeblich „in alle Richtungen“ ermittelt, das Offensichtliche aber nicht haben sehen wollen, und die Ermittlungsakten nach nur elf Monaten schlossen. Ob die damals gescheiterte Aufklärung des Mordes an Samuel Yeboah tatsächlich nur Unfähigkeit oder vielmehr auch Unwille war, weil es einem in Saarlouis zumindest egal, wenn nicht sogar recht war, dass ein „Asylant” weniger dort lebte – auch das muss unbedingt Teil der lückenlosen Aufklärung der Geschehnisse in Saarlouis seit dem 19. September 1991 werden.33https://www.saarbruecker-zeitung.de/saarland/prozesse-gericht/fall-yeboah-in-saarlouis-auftakt-zum-mordprozess-das-kann-nur-der-anfang-sein_aid-78691763
Neben dem Versagen der Polizeibehörden muss auch die Rolle des „Landesamts für Verfassungsschutz” beleuchtet werden. Was wusste der saarländische Inlandsgeheimdienst, der sonst so gerne mit seinen guten Einblicken in „extremistische” Strukturen angibt, über die Saarlouiser Neonaziszene der 1990er Jahre? Was war über den mutmaßlichen Mörder Peter Schlappal bekannt, was über den Brandanschlag? Inwieweit hat der saarländische „Verfassungsschutz” die Nazistrukturen in Saarlouis und anderswo im Saarland mit aufgebaut, finanziert oder anderweitig unterstützt? Die Akten zum Mord an Samuel Yeboah wie auch zur Saarlouiser Naziszene der 1990er Jahre müssen der Öffentlichkeit vollumfänglich zugänglich gemacht werden – falls sie nicht schon „versehentlich” vernichtet wurden. Dann ließe sich sicher auch das Gerücht aufklären, das sich seit den 1990er Jahren hartnäckig hält: dass der mutmaßliche Mörder Peter Schlappal von behördlicher Seite geschützt wurde, weil er ein Informant gewesen sei.
Saarland 2022: Nazis bleiben unbehelligt
Das Versagen von Behörden und Politik setzt sich auch nach den 1990er Jahren trotzt anders lautender Beteuerungen bis heute fort. Nazis können sich insbesondere im Raum Saarlouis weiterhin unbehelligt fühlen, wenn sie sich konspirativ treffen und ihren menschenverachtenden Machenschaften nachgehen. So betreiben in Dillingen die „Hammerskins“ seit 2015 in einer ehemaligen Pizzeria in der Siemensstraße 5 ihre sog. „Hatebar“. Das Clubhaus dient als Treffpunkt, Veranstaltungsort und Konzertbühne für die extreme Rechte im Saarland und darüber hinaus.
Die international seit über 30 Jahren bestehenden „Hammerskins“ sind eine der ältesten und beständigsten Neonazi-Organisationen in Deutschland und verstehen sich als Bruderschaft und Eliteorganisation. Die „Hammerskins“ glauben an die „Vorherrschaft der weißen Rasse”, propagieren den Rassekrieg und trainieren für den „Tag X”, an dem sie die Macht übernehmen wollen. Sie gelten als eine der mächtigsten und gefährlichsten Strukturen des internationalen Neonazismus. Immer wieder gab es Morde und Gewalttaten, bei denen die Täter aus dem „Hammerskin“-Spektrum stammen. Auch bei Terroranschlägen spielten Mitglieder der „Hammerskins“ eine Rolle (siehe hierzu die ausführlichen Recherchen von Exif34https://exif-recherche.org/?p=7180 und eine Reportage der ARD35https://www.daserste.de/information/reportage-dokumentation/dokus/sendung/exclusiv-im-ersten-hammerskins-100.html).
Die „Hammerskins“ im Saarland und der Grenzregion („Chapter Westwall”) gehören mittlerweile zu deren bedeutsamsten Akteuren. Zentrale Figur der „Hammerskins“ in der Region ist der Püttlinger Robert Kiefer. Er gilt als einer der führenden Neonazis im Saarland. Die wichtige Rolle der saarländischen „Hammerskins“ innerhalb der Organisationsstruktur dieser internationalen Nazigruppierung zeigte sich beispielsweise im November 2019, als ihre „Hatebar” in Dillingen als Treffpunkt für Nazis aus der gesamten Bundesrepublik diente, um gemeinsam zum sog. „Hammerfest” nach Plaine im französischen Elsass zu fahren. Einige Konzertbesucher übernachteten in Hotels in Dillingen. Das „Hammerfest“ ist die jährliche Zusammenkunft des weltweiten, gewaltbereiten Neonazinetzwerks der „Hammerskins“. Zu der Veranstaltung in Plaine 2019 reisten circa 500 Neonazis nicht nur aus Frankreich und Deutschland, sondern auch aus Australien, Ungarn, Portugal, der Schweiz und Schweden an.36https://antifa-saar.org/2019/11/03/nazikonzert-der-hammerskins-im-elsaessischen-plaine-bas-rhin/
Während nun Politik und Behörden versuchen glauben zu machen, dass sie aus dem verschleppten und womöglich von ihnen selbst sabotierten Ermittlungen im Fall Yeboah gelernt hätten und Konsequenzen zögen, können die Nazis von heute und potentiellen rassistischen Mörder:innen von morgen weiterhin unbehelligt in Dillingen ihre Aktionen planen.
„Verfassungsschutz“ abschaffen und Nazis konsequent bekämpfen!
Der „Verfassungsschutz“ beweist nicht nur im Saarland fortwährend, dass er meist nicht willens und oft genug nicht in der Lage ist, Nazis zu bekämpfen oder ihre Organisationsstrukturen zu zerschlagen. Im Gegenteil: Ohne den „Verfassungsschutz“ und seine tatkräftige Unterstützung hätte es den „NSU“ und seine Mordtaten womöglich nicht gegeben. Ein solcher „Verfassungsschutz“ ist die Parodie seines eigenen Namens. Er bringt keinen Nutzen im Kampf gegen Nazis sondern bewirkt das glatte Gegenteil. Er ist nicht reformierbar.
Der Verfassungsschutz muss abgeschafft werden!
Konsequenz des aufgedeckten Versagens von Polizei und Verfassungsschutz im Mordfall Yeboah muss sein:
Kein Schlussstrich!
Offenlegung aller Akten im Fall Yeboah!
Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses!
Nur so kann eine Aufarbeitung des Skandals gelingen. Und nur so kann die Öffentlichkeit nachvollziehen, wo die Strukturen versagt haben, deren offizielle Aufgabe es sein sollte, Menschen vor rassistischen Mörder:innen zu schützen.
Nazistrukturen nicht zu zerschlagen, sondern zu dulden und beispielsweise durch akzeptierende Sozialarbeit gar zu fördern, hat zur Folge, dass Nazis tun können, was Nazis tun wollen: ihrer mörderischen Ideologie von angeblicher weißer Überlegenheit folgend Menschen angreifen und ermorden. Es ist ein fortwährender Skandal, dass beispielsweise die „Hammerskins“ in Dillingen weiter unbehelligt ihre rassistischen Taten von morgen planen können.
Gegen Nazis und ihre menschenfeindliche Ideologie hilft am besten,
Nazistrukturen konsequent zu zerschlagen!
Und im Kampf gegen Nazis kann man sich bewiesenermaßen überhaupt nicht auf den Staat verlassen:
Organisiert deshalb den antifaschistischen Kampf!
Nazis bekämpfen, wo immer man sie trifft!
Detaillierte Informationen zu den Zuständen in Saarlouis und im Saarland in den 1990er Jahren sind in der Brochüre “Kein Schöner Land… Faschistische Strukturen und Aktivitäten im Saarland” zu finden. Die Brochüre steht auf der Homepage der Antifa Saar / Projekt AK kostenfrei zum Download zu Verfügung.
Weitere Informationen finden sich auch bei der Aktion 3. Welt Saar und dem Saarländischen Flüchtlingsrat.
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