Die nächste rechte Großmobilisierung?

Die vergangenen zwei Wochen war von mehreren Ereignissen geprägt, welche die antifaschistische Bewegung aufhorchen ließ. Neben den bundesweiten Großrazzien bei einer rechten Terrorgruppe aus dem Reichsbürger:innen-Spektrum, waren vor allem die Ereignisse in Illerkirchberg bei Ulm bedeutend. Dort wurden am 5. Dezember 2022 zwei 13- und 14-jährige Mädchen auf dem Weg zur Schule angegriffen und mit einem Messer so schwer verletzt, dass eines der Mädchen, Ece S., kurz darauf im Krankenhaus verstarb. Der vermeintliche Täter floh in eine nahe gelegene Wohnung. Kurze Zeit später wurde bekannt, dass es sich bei ihm um einen Geflüchteten aus Eritrea handelt. Dieser hatte sich vor der Festnahme offenbar selbst schwer verletzt. Über weitere Hintergründe der Tat ist bislang kaum etwas öffentlich geworden.

Unmittelbar nachdem bekannt wurde, dass es sich bei dem Verdächtigen um einen Geflüchteten handelt, überschlugen sich die Meldungen und Kommentare in der bürgerlichen Presse und den sozialen Medien. In Verbindung mit einem älteren Fall, einer 2019 in Illerkirchberg von Geflüchteten verübten Vergewaltigung, fokussierte sich die Berichterstattung auf die Themen Kriminalität von Geflüchteten, das Scheitern der deutschen Migrationspolitik sowie Diskussionen rund um die Verschärfung des Asylrechts.
Die mediale Stimmungsmache zündete: Innerhalb weniger Stunden war Illerkirchberg in aller Munde, sämtliche Rechten äußerten sich dazu, allen voran die „AfD“ und Konsorten. Auf Querdenken-Kanälen kursierten bereits am Abend Aufrufe auf die Straße zu gehen. Auch bürgerliche Politiker:innen reagierten: Während der unsägliche Boris Palmer von „verwirktem Gastrecht“ sprach, bekundeten andere ihre Anteilnahme, meist in Verbindung mit dem Versprechen „für Gerechtigkeit zu sorgen“. Der Bürgermeister von Illerkirchberg mahnte, zu pauschalisieren und auch Innenminister Strobls Rufe nach Besonnenheit und der gemeinsame Besuch des Tatorts mit dem türkischen Botschafter unterstreichen, dass dem Staat die Sprengkraft dieser Ereignisse früh bewusst war. Und das nicht ohne Grund. Ähnliche Ereignisse hatten in den vergangenen Jahren in Kandel und Chemnitz für rechte Großmobilisierungen gesorgt, bei denen Woche für Woche tausende Menschen auf die Straßen gingen. Im Zuge dieser Mobilisierungen kam es damals auch zu Ausschreitungen, Hetzjagden und Angriffen auf Gegenproteste und Menschen, die nicht in ein rassistisches Weltbild passen.

Auch die Situation in Illerkirchberg sieht in den Tagen nach dem Mord so aus, als hätte sie das Potenzial dazu, rechte Dynamik zu entwickeln: Die Stimmung im Ort ist (erneut) aufgebracht, die Menschen sind schockiert, kommen zusammen und trauern. Gleichzeitig ist der mediale Diskurs geprägt von rassistischen Positionen und Stimmungsmache, Rechte versuchen den Mord zu instrumentalisieren und für sich zu vereinnahmen. Neben der „Identitären Bewegung“, haben die „AfD“ und der „Dritte Weg“ in der Woche nach dem Mord nach Illerkirchberg mobilisiert.

Im Folgenden soll es darum gehen eine Einschätzung und Bewertung der rechten Aktivitäten vorzunehmen und einige Gedanken zu Aufgaben und Herangehensweisen der antifaschistischen Bewegung zu teilen.

Aktion der Identitären Bewegung

Am 7. Dezember, zwei Tage nach dem Angriff, führte die „Identitäre Bewegung“ (IB) eine Aktion vor dem Rathaus in Illerkirchberg durch. Eine handvoll Jungnazis um Nicolas Brickenstein versammelten sich hinter einem Transparent mit der Aufschrift „Unsere Kinder schützen – Asylheim Illerkirchberg schließen!“ und versuchten Flyer zu verteilen.
Die Aktion der IB zielte nicht darauf ab, viele Leute mitzunehmen oder zu mobilisieren. Es ging ihnen v. a. darum, mit einer kleinen Anzahl Leute eine Aktivität zu machen, diese zu dokumentieren und sich – wie fast immer – im Anschluss medial selbst zu inszenieren. Die beteiligten Nazis kamen zu großen Teilen aus der lokalen IB-Struktur aus Ulm – anders als bei den Aktionen z. B. in Stuttgart, zu denen bundesweit IB-Nazis angekarrt wurden.
Dass das Mitgefühl der IB geheuchelt ist und es der Gruppe lediglich um rassistische Propaganda geht, machte Martin Sellner in seiner Podcastfolge vom 6.12.22 deutlich. Dort sagte er, dass es natürlich ein Unterschied sei, ob das Mädchen eine Deutsche sei oder nicht und damit auf die türkischen Wurzeln von Ece S. Bezug nahm.

Kundgebung des AfD-Landesverbands

Auch die „AfD“ versuchte von Beginn an Profit aus den Ereignissen zu schlagen: Mit reißerischen Sharepics und der Forderung nach Grenzschließungen mischte die „AfD“ in der, v.a. auf Social Media geführten Diskussion, mit.
Am Freitag nach dem Mord kündigte dann der Landesverband Baden-Württemberg eine Kundgebung für den nächsten Tag, Samstag, den 10. Dezember 22, vor dem Illerkirchberger Rathaus an. Unter dem Motto „In Anteilnahme für die Mädchen von Illerkirchberg“ kamen dort, statt der angekündigten 400, knapp 90 Menschen, die meisten von ihnen Partei-Funktionär:innen der „AfD“, zusammen.
Die Kundgebung umfasste drei Reden (von Eugen Ciresa, Markus Frohnmaier (MdB) und Emil Sänze (MdL)), in denen die „AfD“ ihr Kernthema rassistische Migrationspolitik bespielte. Es gab keine Technik oder ähnliches vor Ort, sodass sich die Reichweite der Kundgebung in Grenzen hielt, außerdem wurde es der „AfD“ untersagt, den geplanten Schweigemarsch zum Tatort durchzuführen.
So endete die Kundgebung nach einer knappen Stunde und hinterließ den Eindruck, dass es vor allem darum ging, dass die Funktionär:innen auf Landes-, vereinzelt auch Bundesebene wahrgenommen werden. Unter den Anwesenden waren Christina Baum (MdB) mit „Kandel ist überall“-Anhang, Martin Hess (MdB), Volker Münz (MdB), Daniel Lindenschmid (MdL), Reimond Hoffmann, Christoph Maier (MdL), Udo Stein (MdL), Ruben Rupp (MdL), Franz Schmid und Severin Köhler („Junge Alternative“). Neben dem Funktionärs-Apparat waren einzelne „AfD“-Anhänger:innen auf der Kundgebung, überwiegend aus dem Umland.
Im Vorhinein hatten Illerkirchberger:innen Schilder am und auf dem Platz angebracht, auf denen sie zu Frieden, Solidarität und Toleranz aufriefen. Auch während der Kundgebung versammelten sich einige Anwohner:innen mit Pappschildern, protestierten und machten deutlich, dass sie ihre Trauer nicht durch die „AfD“ vereinnahmen lassen. Zu größeren Protesten kam es aufgrund der Kurzfristigkeit der „AfD“-Ankündigung nicht.

Kundgebung des III. Wegs

Für Montag, den 12. Dezember 22 kündigte sich die Nazi-Partei „Dritter Weg“ in Illerkirchberg an. Insgesamt 17 Rechte folgten dem Aufruf der faschistischen Splitterpartei und damit auch hier deutlich weniger, als von den Veranstalter:innen angemeldet. Die Teilnehmer:innen kamen allesamt von auswärts. Beteiligt waren Nazis des Reutlinger Klüngels um Nick Mauser, aber auch aus Schwäbisch Gmünd. Mauser war organisatorisch verantwortlich und trat als einziger Redner mit gleich drei Beiträgen auf.
Die Kundgebung war von der Polizei abgeschirmt, der Ausdruck und das Auftreten der Faschist:innen in gewohnter Manier diszipliniert und martialisch. Zwar knüpften die Nazis inhaltlich durchaus an lokalen Debatten an, der pseudo-militärische Auftritt wirkte jedoch abschreckend und trug sicherlich dazu bei, dass sich niemand auf die faschistische Veranstaltung verlor. Die Gegenproteste taten ihr Übriges. Neben knapp 30 Illerkirchberger:innen waren Antifaschist:innen aus der Region gekommen, die mit Transparenten und Parolen von der anderen Straßenseite die Nazi-Kundgebung begleiteten. Etwa 70 Menschen beteiligten sich an diesem lautstarken Protest.

Zwischenfazit

Die Vermutungen, dass der Mord an einer jungen Frau mutmaßlich durch einen geflüchteten Menschen von Rechten aufgegriffen und instrumentalisiert wird, haben sich bestätigt. Innerhalb einer Woche verhielten sich diverse rechte Akteur:innen dazu, traten vor Ort auf und versuchten, die Stimmung im Sinne einer noch rassistischeren Migrationspolitik anzuheizen. Natürlich ging es dabei auch darum zu testen, ob sie Zuspruch von Bürger:innen aus Illerkirchberg und Umgebung erhalten.
Es gibt einige Punkte, die Grund zur Annahme bieten, dass Rechte mit diesen Bestrebungen erfolgreich sein könnten: Die Tatsache, dass es bereits das zweite schwerwiegende Verbrechen in Illerkirchberg innerhalb weniger Jahre ist, bei denen die Herkunft des / der Täter im Vordergrund steht. Aber auch die Berichterstattung der bürgerlichen Medien, die an vielen Stellen die Stimmung angestachelt hat.

Trotzdem deutet sich momentan keine Entwicklung an, wie das z. B. im pfälzischen Kandel der Fall war. Das hat Gründe: Zum einen ist die gesellschaftliche Stimmung im Bezug auf Geflüchtete momentan weit weniger präsent und aufgeheizt wie das noch vor einigen Jahren der Fall war. Zum anderen hat schon die erste Woche gezeigt, dass auch die staatlichen Institutionen gelernt haben. Die massive Machtdemonstration durch die Polizei vor Ort, der Besuch von CDU-Hardliner Strobl und die strickten Auflagen für die Versammlungen der Rechten sind Versuche zu verhindern, dass die Rechten das Thema besetzen. Hinzu kommt noch ein weiterer, wichtiger Punkt: Die Menschen vor Ort organisieren Widerstand gegen die Versuche der Rechten. Trotz Trauer und aufgeheizter Stimmung bezieht ein Teil des Ortes früh, klar und sichtbar Stellung. Sowohl gegen die „AfD“ als auch gegen den „III. Weg“ waren Illerkirchberger:innen auf der Straße.

Und jetzt?

Trotzdem und gerade als Schlussfolgerung aus Ereignissen wie in Kandel und Chemnitz tut die antifaschistische Bewegung gut daran, die Situation in Illerkirchberg genau im Blick zu behalten. Es muss darum gehen immer wieder aktuelle Einschätzungen zu treffen, rechte Aktivitäten zu beobachten und zu intervenieren, wenn es nötig ist.
Dabei sollte sicherlich darauf geachtet werden, Brücken zum Widerstand zu schlagen, welcher sich vor Ort gegen Rechts regt. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass der antifaschistische Kampf in vergleichbaren Situationen nur dann nachhaltig erfolgreich sein kann, wenn er nicht dauerhaft von außen importiert werden muss. Das bedeutet aber auch, die eigenen Aktionen in ein Verhältnis zur Situation von vor Ort zu setzen, nicht einfach nur Protest „wie immer“ zu machen, sondern im Fall Illerkirchberg eine Sensibilität für die Situation vor Ort zu entwickeln. Beispielsweise für die Tatsache, dass ein Großteil des Ortes das getötete Mädchen kannte und Aktionsformen wie der stille Protest deswegen absolut nachvollziehbar sind.

Räumlich wie thematisch mag das eine Herausforderung sein. Einer, der es sich anzunehmen gilt, sollten die Rechten weiter versuchen dort auf die Straße zu gehen. Schließlich ist und bleibt es die Aufgabe der antifaschistischen Bewegung, dort aktiv zu werden, wo Rechte auftreten und den Nazis die Straße praktisch streitig zu machen. Die Verantwortung dafür liegt nicht allein bei den lokalen Antifaschist:innen – vor allem dann nicht, wenn sich abzeichnet, dass das Ereignis überregionale Bedeutung hat.

Auch wenn es aktuell nicht danach aussieht, dass sich jenseits der rechten Telegram- und Twitter-Bubble eine Dynamik von Rechts rund um den Ort Illerkirchberg entwickelt, gilt es wachsam zu bleiben: Die Erfahrungen aus Kandel haben gezeigt, dass sich auch Wochen nach einem vergleichbaren Ereignis rechter Protest vor Ort formieren und Dynamik entwickeln kann.
Diese zeitnah zu erkennen und zu intervenieren, darauf kommt es an.