Am 1. und 2. Oktober 1983 hielt die NPD ihren Bundesparteitag in Fallingbostel ab. Ihr schlug konsequenter antifaschistischer Protest entgegen. Fallingbostel gilt als Schlüsselmoment der antifaschistischen Organisierung in der BRD, da hier ein neues Level an Organisierung und Militanz zu Tage trat.
Fallingbostel wurde zum Gründungsmythos der Autonomen Antifa. Mit einem Schlag war die Strömung bekannt.
Bernd Langer, „Antifaschistische Aktion – Geschichte einer linksradikalen Bewegung„
Die Geschehnisse des Tages und seinen politischen Kontext hat Bernd Langer1Bernd Langer, seit 1978 antifaschistisch engagiert, gehörte zu den Aktivisten der ersten autonomen Antifa-Strukturen. Außerdem entwickelte er die kulturpolitische Initiative Kunst und Kampf (KuK). In den 1990er Jahren war Langer maßgebliches Mitglied der Autonomen Antifa (M) und am Aufbau der AA/BO (Antifaschistische Aktion/Bundesweite Organisation) beteiligt. Als Autor diverser Bücher und Vortragsreisender setzt er sich seit Jahren mit den revolutionären Bewegungen in Deutschland auseinander. in seinem Buch „Antifaschistische Aktion – Geschichte einer linksradikalen Bewegung“ und in der Broschüre „80 Jahre Antifaschistische Aktion“ festgehalten, aus welcher wir hier immer wieder zitieren werden.
Gleichzeitig sind die Geschehnisse des Oktobers 1983 sinnbildlich für die Situation in der BRD und die antifaschistischen Perspektive dieser Zeit. Sie helfen uns den Weg zu verstehen, der uns dahin gebracht hat, wo wir heute stehen, und aus der Vergangenheit unserer Bewegung zu lernen.
Fallingbostel als „Gründungsmythos“ der Autonomen Antifa ist ein Meilenstein auf dem Weg zur antifaschistischen Organisierung in der BRD. Ein Blick auf die Bündnisarbeit und nicht-Bündnisarbeit dieser Zeit und die damit verbundenen Auseinandersetzungen führt uns vor Augen, wie weit der Weg bis zum zarten Pflänzchen der heutigen solidarischen Beziehungen war und dass sich die Mühe diese zu bewahren lohnt. Die erhebliche Militanz in Fallingbostel und überhaupt in der Epoche des autonomen Antifaschismus soll uns als Aufhänger dienen, uns mit der Frage nach der Bedeutung und Rolle von Militanz auseinander zu setzen. Und schließlich zeigt die Berichterstattung der bürgerlichen Medien über Fallingbostel die Wichtigkeit eigener Gegenöffentlichkeit.
Vorgeschichte
Die Entstehung der heutigen Antifa-Bewegung hängt wesentlich mit dem Auftauchen der Neonazis in der Bundesrepublik in den 1970er Jahren zusammen. Neben Vereinigungen wie der NPD und der Deutschen Volksunion (DVU) trat eine neue Generation von Nazis in Erscheinung. (…)
Gegen die alten und neuen Nazis mobilisierte sich Widerstand, mit dem zunächst weder die regierenden Parteien und entsprechenden Organisationen noch die VVN etwas zu tun haben wollten; er wurde aus den Reihen der K-Gruppen2Sammelbegriff für kommunistische Gruppen dieser Zeit im Zusammenwirken mit undogmatischen Linken organisiert. (…)
An vielen Orten bildeten sich in dieser Zeit ideologisch und organisatorisch nicht eingebundene »antifaschistische Arbeitskreise«. Allerdings gestaltete sich die Zusammenarbeit schwierig. (…)
Die sich quasi im Windschatten der großen politischen Themen Ende der 1970er Jahre wie Anti-AKW, Hausbesetzungen, Anti-Kriegsbewegung und dem bewaffneten Kampf etablierende Antifa-Strömung wurde zunächst kaum wahrgenommen.
Der Beginn der überregionalen Antifa-Organisierung kann auf den 21. November 1981 datiert werden, als in Hannover ein Treffen von Norddeutschen und Frankfurter Antifa-Gruppen stattfand. (…) Politisch war alles vertreten was die linksradikale Szene zu bieten hatte – bis auf typische Autonome.
Das Treffen wurde in unregelmäßigen Abständen alle paar Monate einberufen und stellte eine eigenständige Instanz dar. Gruppen aus Frankfurt nahmen nur anfangs teil. Die Volksfront3Gegründet von der KPD/ML, später dominiert vom Bund Westdeutscher Kommunisten verließ das Treffen, etwas später auch die SAG4Sozialistische Arbeitergruppe, trotzkistisch. Dafür stießen einige andere Gruppen aus dem norddeutschen Raum hinzu, weshalb sich die Koordination fortan Norddeutsches Antifa-Treffen5auch „das Norddeutsche“ nannte.
Broschüre 80 Jahre Antifaschistische Aktion, S.34
Die Proteste in Fallingbostel
Die Aktion Fallingbostel wurde intensiv vorbereitet. Gruppen aus dem Norddeutschen klinkten sich in die örtlichen Vorbereitungstreffen ein und warben für eine Demonstration in der Stadt und die Blockade der Heidmarkhalle, in der die NPD tagen wollte. DGB und VVN riefen hingegen zu einer Kundgebung in der 30 km entfernten KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen auf. Dies war typisch für die Zeit: Während militante Antifaschist/innen direkte Verhinderung propagierten, distanzierten sich die reformistischen und staatstragenden Kräfte, indem sie zu Gegenaktionen aufriefen, die in deutlicher Entfernung zu den Veranstaltungen der Neonazis lagen.
Das von den Gruppen des Norddeutschen entworfene Konzept sah vor, ab 7.00 Uhr die Anfahrt der NPD-Delegierten soweit wie möglich zu verhindern und um 8.30 Uhr eine gemeinsame Demonstration zur Halle durchzuführen. Regional wurden Konvois aus Hamburg, Bremen, Göttingen und Nordrhein Westfalen zusammengestellt, die sich in Fallingbostel treffen sollten.
Die Polizei hatte ebenfalls aufgerüstet. Das Gelände um den geplanten Veranstaltungsort wurde seit dem 25. September 1983 mit Stacheldraht abgesichert und rund um die Uhr bewacht. Dazu waren 1.000-Watt-Strahler und Videokameras installiert. 1200 Polizisten standen mit Wasserwerfern und Panzerspähwagen bereit. Aus der Luft wurden die anrückenden Antifaschist/innen von Hubschraubern aus beobachtet.
An einer Zufahrtsstraße versammelten sich die Hamburger und Bremer. Die Göttinger vereinten sich mit dem aus Konvoi aus NRW. Das alles geschah auf gut Glück, niemand hatte Funkgeräte dabei und Mobiltelefone gab es noch nicht.
(…) Gerade als die norddeutschen Militanten Helm an Helm auf der Straße gegen die Polizeiabsperrung Anlauf nahmen, kamen die Autos aus Göttingen und NRW über eine Hügelkuppe und konnten die beeindruckende Szene nur aus Entfernung beobachten.So gingen mehrere hundert Militante des Nordkonvois allein die Absperrungen vor der Halle an. Es war ein Frontalangriff, Steinhagel trieben die Polizisten in Deckung und mit Bolzenschneidern wurden die Stacheldrahtabsperrungen durchschnitten. Es dauerte einige Momente, bis sich die Polizeikräfte gesammelt hatten, dann wurde die Attacke der Antifas mit Hilfe von Tränengas und SEK-Einheiten zurückgeschlagen. Erst in diesem Moment stießen die Aktivist/innen aus Gö/NRW hinzu. Die Polizei konnte zwar noch einmal abgewiesen werden, aber ein weiterer Versuch, zur Halle vorzudringen, war aussichtslos. Die Militanten wurden von der Polizei aus der Stadt gedrängt.
Broschüre 80 Jahre Antifaschistische Aktion, S.36-37
Was wir aus Fallingbostel lernen können
Organisierung
Ohne Organisierung wäre der Erfolg von Fallingbostel nicht möglich gewesen. Erst dadurch, dass sich große Kräfte über weite Entfernungen gebündelt und koordiniert mit gemeinsamer Taktik gehandelt haben, haben die Proteste diese legendär gewordene Qualität entfalten können.
Doch das ist noch keine richtige „Organisierung“, viel mehr „Vernetzung“. „Organisierung“ ist viel mehr was mit Fallingbostel erst begann: Feste, verbindliche Strukturen, die das erlernte auch noch lange konservieren. Nicht umsonst wurde Fallingbostel zum „Gründungsmythos“ des autonomen Antifaschismus.
Bündnispolitik
Um jedoch den Arbeitern den Weg zur Aktionseinheit zu sichern, muß man (…) Abkommen über gemeinsame Aktionen mit sozialdemokratischen Parteien, reformistischen Gewerkschaften und anderen Organisationen der Werktätigen gegen die Klassenfeinde des Proletariats anstreben. (…) Indem wir die Bedingungen aller mit ihnen geschlossenen Abkommen loyal erfüllen, werden wir rücksichtslos jegliche Sabotage der gemeinsamen Aktionen durch Personen und Organisationen, die an der Einheitsfront teilnehmen, entlarven. Alle Versuche, Abkommen zu sprengen, (…) werden wir dadurch beantworten, daß wir uns an die Massen wenden und den unermüdlichen Kampf für die Wiederherstellung der gestörten Aktionseinheit fortsetzen werden.
Bericht von Georgi Dimitroff auf dem 7. Weltkongress der Komintern 1935
Fallingbostel ist ein Beispiel für das damalige Verhältnis zwischen militanter Antifaschist:innen zu gemäßigten bis bürgerlichen Kräften. Wie man an der weit entfernten Kundgebung des DGB und der VVN sehen kann, waren militante Antifaschist:innen weitgehend isoliert.
Noch deutlicher wird dieses Verhältnis am Beispiel der Proteste gegen ein SS-Veteranentreffen im Mai 1983 in Bad Hersfeld:
Am Rande der Veranstaltung kam es zum Aufeinandertreffen von Autonomen mit Neonazis und der Polizei. Der DGB forderte über Lautsprecher dazu auf, sich von den Militanten zu distanzieren und DGB-Ordner bildeten eine Menschenkette, damit die Autonomen nicht in ihre Demonstration flüchten konnten.
Broschüre 80 Jahre Antifaschistische Aktion, S.35
Das stellt einen krassen Kontrast zu den Erfahrungen der Proteste in Offenburg dar:
Bereits im Loslaufen flogen rote Farbbeutel auf die Fassade der AfD-Tagungshalle. Aus einer dynamischen Anfangssituation, in der eine forsche Demonstration auf unvorbereitete und chaotische Bereitschaftspolizist:innen traf, entwickelte sich schnell ein Kampf um jeden Meter Demo-Strecke und eine unübersichtliche und in Teilen unkoordinierte Situation. (…)
Über mehr als sechs Stunden, bis in den späten Abend hinein, kesselte die Offenburger Polizeiführung bei Temperaturen im unteren einstelligen Bereich mehrere hundert Antifaschist:innen und führte bei allen Personalienfeststellungen und bei einigen kurzzeitige Festnahmen durch.Die Maßnahme konnte zwar nicht verhindert, durch das solidarische Zusammenstehen aller Betroffenen und vieler Menschen außerhalb der Polizeiketten aber zumindest erträglicher gestaltet werden.
Bericht von den Protesten gegen den AfD-Landesparteitag in Offenburg, März 2023
Die Menschen, die sich außerhalb der Polizeikette solidarisierten, waren nicht zuletzt Gewerkschaftsvertreter:innen, die sich trotz des militanten Auftretens mit den gekesselten solidarisierten und teils über Stunden mit ihnen ausharrten.
Ein solches Vertrauensverhältnis musste, sowohl zwischen konkreten Akteur:innen als auch in einer Gesamtkultur der Bewegung, mühsam erarbeitet werden. Die Notwendigkeit dieses Verhältnisses war auch auf der Seite der „Radikalen“ lange Zeit nicht klar.
Wir saßen also 1988 alle zusammen und diskutierten über eine Bündnisdemonstration, die an einem Wohnhaus eines Nazis entlangziehen sollte. Wir, das waren in diesem Falle ein paar Genossinnen und Genossen aus Göttingen und ich, haben vorgeschlagen, wir machen eine Bündnis-Demonstration mit DGB, den Grünen usw., führen diese mit einem Schwarzen Block an, aber wir greifen das Haus aus der Demo nicht an. Nur so wäre ein solches Bündnis, das es vorher noch nicht gegeben hatte, möglich gewesen. Die meisten Autonomen haben dann gesagt, dass sie das nicht wollen. Wenn, dann müsse man das Haus auch angreifen und man müsse im Kampf gegen Faschismus auf die eigenen Kräfte vertrauen. Unser Vorschlag sei Verrat. Wirklich, das ist wörtlich so gefallen.
Bernd Langer im Interview „Wir hatten das Monopol auf den militanten Antifaschismus“ mit ND
Auch wenn Bündnispolitik uns heute selbstverständlich erscheint, ist natürlich auch heute unser Verhältnis zu reformistischen und staatstragenden Kräften nicht widerspruchsfrei. Und es ist nach wie vor weder richtig, die eigenen Ideale für das Bündnis zu verraten, noch Bündnisse einzugehen die breiter sind, als es die gegebene Situation rechtfertigt.
Die Klarheit der eigenen Position und die Einheit mit einer ausreichend breiten Front gegen den Faschismus stehen in einem Widerspruch, aber dieser Widerspruch ist keiner, der die beiden Seiten hier und heute unvereinbar macht. Er ist ein inneres Kampffeld der Bewegung, und dieser Kampf muss nicht bedeuten, dass wir uns zersetzen. Richtig geführt kann dieser Kampf uns stärken und unsere Position schärfen.
Wir haben uns entschieden uns an der Kundgebung zu beteiligen, aber gleichzeitig unsere Kritikpunkte an der „SPD“ und den „Grünen“ deutlich zu machen. Mit Flugblättern und Hochbannern wurde diese Kritik transportiert. Außerdem wurde eine eigene Rede im Namen des Antifa-Bündnisses gehalten, die zwar die Notwendigkeit gemeinsamer Proteste gegen Rechts betonte, aber auch die Regierungsparteien selbst, und deren Mitverantwortung für das Erstarken rechter Kräfte anprangerte.
„Offenburg – Eine Bewertung“ der Kampagne
Solidarische Kritik
Sowohl für die enge Zusammenarbeit innerhalb eines organisierten Rahmens, als auch für die Bündnisarbeit, ist eine angemessene Debattenkultur entscheidend. Kritik ist ein wichtiger Motor für die Linienbildung und Verbesserung aller Methoden und Beziehungen, wenn sie als genau dieser Motor betrachtet und behandelt wird.
Unser Vorschlag sei Verrat. Wirklich, das ist wörtlich so gefallen. Unsere Linie der Bündnisarbeit wurde hart bekämpft, eben wie man das in dieser Szene so machte, durch soziale Ausgrenzung, durch Flugblätter, in denen wir gezielt verunglimpft wurden usw. usf.
Bernd Langer im Interview „Wir hatten das Monopol auf den militanten Antifaschismus“ mit ND
Mit Fallingbostel wurde Autonomer Antifaschismus zum Thema. Parallel zum Norddeutschen bildete sich ein NRW-Treffen, beide standen in intensiver Verbindung. In der Folge kam es auch zur finalen Auseinandersetzung mit dem KB6Der Kommunistische Bund (KB) war eine in den 1970er Jahren im Verhältnis zu anderen im linksradikalen Spektrum organisierten Gruppen relativ starke, zunächst maoistisch orientierte, später der undogmatischen Linken zugehörige politische Organisation. (Wikipedia). Besonders die Antifaschistische Aktion Hamburg, die eine führende Rolle im Norddeutschen spielte, wollte den Einfluss des KB ausschalten und eine von Autonomen dominierte Koordination erreichen. Den Vorwand lieferten Fotos von der Straßenschlacht in Fallingbostel, welche der KB in seiner Zeitung „Arbeiterkampf“ (AK) abdruckte. Da nach Militanten gefahndet wurde und nicht alle auf den Fotos vollständig unkenntlich gemacht worden waren, behaupteten die Hamburger, der KB würde sich quasi an der Fahndung beteiligen. Sie drangen in die Redaktionsräume des AK ein und nahmen wichtige Geräte und Unterlagen zur Produktion der Zeitung mit. Das Material sollte erst wieder zurückgegeben werden, wenn im AK eine Erklärung der Hamburger Autonomen Antifaschisten abgedruckt werden würde. Am Ende diese Prozesses war der KB aus dem Norddeutschen verdrängt.
Broschüre 80 Jahre Antifaschistische Aktion, S.37
Mit dieser Form der Auseinandersetzung hat die linke Bewegung leider längst nicht abgeschlossen. „Szene-Beef“ wird viel zu gerne entweder hinterrücks, oder aber in überflüssiger Öffentlichkeit ausgetragen. Das soll nicht bedeuten, dass es nicht auch Outcalls und öffentliche Distanzierungen gibt, die gerechtfertigt wären – doch muss man sich bewusst machen, welche Konsequenzen diese haben.
Es ist wichtig zu überlegen, an wen sich die Kritik richtet, welches Ziel die Kritik hat, sich die Wirkung bewusst zu machen und entsprechend die Form zu entscheiden.
- Eine Kritik, die sich an Genoss:innen und befreundete Strukturen richtet, hat den Zweck diese zu verbessern. Sie sollte also kein Format haben, das droht Schaden anzurichten. Und sie sollte nur in der Öffentlichkeit stattfinden, wenn sie konstruktiv formuliert ist und man auch von den Empfänger:innen der Kritik erwarten kann, dass sie damit umgehen können.
(Nicht mit sachlicher Kritik umgehen zu können ist natürlich auch ein Fehler, auf den haben wir aber im Zweifel keinen Einfluss und müssen ihn entsprechend mit bedenken.) - Eine Kritik kann, auch ohne direkt zerstörerisch zu sein, zum Ziel haben eine Position vor den Augen dritter zu entlarven, wenn man sich von der Instanz die man kritisiert keine unmittelbare Einsicht erhofft. Das ist natürlich eine Gratwanderung, aber sie ist oftmals Notwendig. Das passiert zum Beispiel im Kontext der Kritik an Gewerkschaftsführungen oder bürgerlichen Parteien, deren Basis man nach wie vor gewinnen will. Die Kritik ist dann dazu da dieser Basis die Fehler ihrer Führung aufzuzeigen.
- Ein Outcall oder gar ein direkter Angriff bedeutet, dass das Objekt des Angriffs nicht länger als Teil der Bewegung anerkannt wird, sondern sogar als feindlich. Das ist ein drastischer Schritt und sollte wohl überlegt und gut begründet sein. So etwas kann, wenn es schlecht vermittelt wird oder schlicht unangemessen und nicht vermittelbar ist, der Bewegung unmittelbaren Schaden und durch den Vertrauensverlust dritter mittelbaren Schaden zufügen – ganz abgesehen von möglichen Repressionen die folgen könnten.
Kritik und sogar Entlarvung muss entweder aufbauend sein oder Raum zum Aufbau schaffen, nicht der eigenen Genugtuung dienen. Niemand hat etwas von gesprengten Bündnissen oder zerstrittenen Gruppen.
Man kann nicht alleine eine Revolution machen, auch wenn man hundert Mal Recht hat.
Roger Ottenheimer im Interview „Wir hatten das Monopol auf den militanten Antifaschismus“ mit ND
Das heißt aber auf keinen Fall, dass Kritik keinen Platz hat, im Gegenteil, und manchmal muss sie eben scharf sein. Niemand hat etwas von hohler Einheit oder davon auf toten Pferden weiter zu reiten.
Der Zwang, als »Einheit« zur Aktionsfähigkeit zu kommen, führte zu vielen inhaltlichen Kompromissen. (…)
Die »Einheit« war nur noch eine Hülle. Die Mitgliedsgruppen drifteten auseinander, die Bereitschaft zur Auseinandersetzung schwand. (…) Dies zu spät realisiert und sich eingestanden zu haben, war der Fehler der AA/BO7Antifaschistische Aktion/Bundesweite Organisation – existierte von 1992 bis 2001 – nicht der Versuch, den Problemen organisiert zu begegnen.
„Zwischen Idee & Realität. Die AA/BO im Rückblick“ im Antifaschistischen Infoblatt
Militanz
Militanz dient in erster Linie dazu, den Feind konkret zurück zu drängen. Dass das funktioniert, ist, wenn auch nicht in Fallingbostel, ausreichend praktisch belegt. Es gibt genug Viertel oder ganze Städte in Deutschland und überall, wo Faschist:innen sich nicht mehr trauen offen aufzutreten, weil ihnen ein angemessenes Maß an Militanz entgegen geschlagen ist. Dass das auch notwendig ist, zeigen die Städte und Viertel, in denen das nicht passiert ist, und das offene Auftreten linker Alternativen kaum möglich ist.
Militanz ist aber immer ein zwiespältiges Mittel: Wie zum Beispiel die Bündnissituation dieser Zeit zeigt, kann Militanz im Widerspruch zur Agitation breiterer Gesellschaftsteile stehen. Andererseits ist Militanz, gerade wenn sie gut vermittelt wird, selbst ein Mittel zur Agitation. Fallingbostel wäre nicht zum „Mythos“ geworden, wenn es nicht beeindruckt hätte. Gut vermittelte und der Situation angemessene Militanz kann frustrierten Hoffnung geben und die Ernsthaftigkeit der eigenen Anliegen unter Beweis stellen.
Entsprechend muss für geplante Militanz (denn nicht immer ist diese planbar) die entsprechende Vermittlung schon im Voraus mit gedacht werden, und die Qualität der Militanz mit dieser Vermittelbarkeit und den Auswirkungen auf Bündnisse abgewogen werden.
Zudem bringt Militanz immer ein verschärftes Maß an Repression mit sich. Repression trifft Aktivist:innen immer, sonst wäre was sie tun nicht besonders aktiv – wer die Verhältnisse angreift wird nicht in Ruhe gelassen, auch wenn es noch so friedlich stattfindet, wie wir ganz aktuell an der „letzten Generation“ sehen können. Wenn wir Repression gänzlich vermeiden wollten, müssten wir aufgeben, und dann trifft uns weiterhin die sich immer verschärfende Alltagsgewalt der aktuellen Verhältnisse. Doch Militanz bietet der Repression immer ein anderes Maß an Legitimation gegenüber der Öffentlichkeit, und bringt das peinlich berührte „Gewaltmonopol“ in Zugzwang. Deswegen muss Militanz auch immer mit dem Repressionsrisiko abgewogen, und mit einem angemessenen Maß an Sicherheit durchgeführt werden. Militanz ist kein Selbstzweck – Militanz ist ein taktisches Mittel, das sich richtig in eine langfristige Strategie einfügen muss, um dieser nicht zuwider zu laufen.
Der NPD-Parteitag in Fallingbostel wurde nicht verhindert. Die Bündnissituation war schlecht und wurde durch die Militanz auch nicht besser. Aber das Signal in die radikale Bewegung, gewissermaßen die „Innenwirkung“, war gewaltig und hat die Proteste zu einem historischen Moment angehoben. Ob das im Voraus so absehbar und strategisch geplant war ist fraglich – Ziel war wohl eher den Parteitag oder einige Anreisen von NPD-Funktionär:innen zu verhindern – aber manches das man tut hat auch ungeahnte positive Folgen, die man jedenfalls nicht durch Untätigkeit hätte erreichen können.
Gegenöffentlichkeit
Die Zeitungen in Nord- und Westdeutschland titelten am nächsten Tag: „Außergewöhnlich brutal griffen die Autonomen an“ und zeigten Fotos von den Auseinandersetzungen. Insgesamt hatten die Antifa-Zusammenhänge 2.500 Aktivist/innen nach Fallingbostel mobilisiert. Von mehr als 50 Verletzten und 33 Festnahmen war zu lesen. Nach einem Militanten wurde im gesamten norddeutschen Raum und NRW mit Foto in allen Zeitungen gefahndet8auch eine schmerzlich aktuelle Methode, schließlich sogar bundesweit mit der Fernsehsendung „Aktenzeichen XY ungelöst“9Diese Fahndungsmethode wurde 2020 erneut im Kontext der Kriminalisierung des „Roten Aufbaus“ Hamburg eingesetzt.
Broschüre 80 Jahre Antifaschistische Aktion, S.37
Bürgerliche Medien schreiben aus einer bürgerlichen Perspektive zu Gunsten von bürgerlichen Interessen. Ausführlicher: Die großen Privaten Medienhäuser gehören großen Kapitalist:innen. Viele haben gleich mehrere Zeitungen, Fernsehsender o.ä. auf einmal. Natürlich haben diese Medien kein Interesse an linken Alternativen zum Status quo.
Aber auch ohne in Privathand von Kapitalist:innen zu sein, sind die meisten Medien erst einmal bürgerlich in ihrer inhaltlichen Ausrichtung. Die Autor:innen sind in der bürgerlichen Gesellschaft aufgewachsen, der Status quo gilt als die Norm oder sogar alternativlos. Das gilt natürlich auch, wenn nicht insbesondere, für die öffentlich rechtlichen, die auch ohne „Staatsfernsehen“ zu sein tief in die aktuellen Verhältnisse und damit auch den Staat verankert sind – natürlich sind sie staatstragend, daran ändern auch die eine oder andere Regierungs- oder Wirtschaftskritik nichts.
Deswegen brauchen wir eigene Kanäle und dürfen uns nicht auf vermeintlich unabhängige Medien verlassen, die versuchen eine „neutrale“, „unvoreingenommene“ oder „ausgewogene“ Haltung einzunehmen – eine solche Haltung existiert nicht, jede Information ist geframet wenn sie nur ausgesprochen wird, und jedes Framing dient, gewollt oder ungewollt, einem Interesse. Wir müssen unsere Interessen selbst vertreten und unsere Perspektiven selbst vermitteln, niemand wird uns das abnehmen, im Gegenteil.
Da wir uns mit unserer Gegenöffentlichkeit gegen die Angriffe der bürgerlichen Medien und auch die der Repression zur Wehr setzen können, sind linke Medien natürlich selbst oft von Repression betroffen, wie man anhand der fortgesetzten Angriffe gegen Linksunten und der neuen Angriffe gegen Radio Dreyeckland unschwer erkennen kann.
Doch zum Glück ist es hier die Repression, der es schwer fällt zu vermitteln, warum sie es für nötig erachtet unbequeme Stimmen mundtot zu machen, und die Antwort ist wieder – mehr Gegenöffentlichkeit.
TL;DR10„Too long; didn’t read“ – ist mir zu lang; hab ich nicht gelesen
Die NPD (oder auch „Heimat“, peinlich) ist inzwischen nahezu bedeutungslos, aber hinterlässt leider keine Lücke, sondern neu-rechte möchte-nicht-gern-Nazis und Nipster11Nazi-Hipster, während die terroristische Rechte nach wie vor guter Dinge, gut bewaffnet und gut im von Nazis aufgebauten Repressionsapparat vernetzt ist.
Aber
- wenn wir uns gut vernetzen oder noch besser organisieren,
- Bündnisse schmieden die so breit sind wie die Notwendige schärfe unserer Forderungen und der notwendige Handlungsspielraum es zulassen,
- einen solidarischen und eben auch solidarisch-kritischen Umgang innerhalb der Bewegung pflegen,
mit Bedacht und Geschick tun was richtig und nötig ist, unabhängig davon ob es cool oder spaßig ist, - was wir tun medial gut vermitteln und rechtfertigen und die Diffamierungen der bürgerlichen Medien abwehren,
- und sowieso immer dazu und natürlich auch aus der Geschichte lernen,
dann können wir als Bewegung die Erkenntnisse vergangener Erfahrungen nicht nur anwenden, sondern weiterentwickeln und ihrem Erfolgen nicht nur nacheifern sondern sie überbieten – und so auch irgendwann endgültig mit den alten und neuen Rechten fertig werden.
- 1Bernd Langer, seit 1978 antifaschistisch engagiert, gehörte zu den Aktivisten der ersten autonomen Antifa-Strukturen. Außerdem entwickelte er die kulturpolitische Initiative Kunst und Kampf (KuK). In den 1990er Jahren war Langer maßgebliches Mitglied der Autonomen Antifa (M) und am Aufbau der AA/BO (Antifaschistische Aktion/Bundesweite Organisation) beteiligt. Als Autor diverser Bücher und Vortragsreisender setzt er sich seit Jahren mit den revolutionären Bewegungen in Deutschland auseinander.
- 2Sammelbegriff für kommunistische Gruppen dieser Zeit
- 3Gegründet von der KPD/ML, später dominiert vom Bund Westdeutscher Kommunisten
- 4Sozialistische Arbeitergruppe, trotzkistisch
- 5auch „das Norddeutsche“
- 6Der Kommunistische Bund (KB) war eine in den 1970er Jahren im Verhältnis zu anderen im linksradikalen Spektrum organisierten Gruppen relativ starke, zunächst maoistisch orientierte, später der undogmatischen Linken zugehörige politische Organisation. (Wikipedia)
- 7Antifaschistische Aktion/Bundesweite Organisation – existierte von 1992 bis 2001
- 8auch eine schmerzlich aktuelle Methode
- 9Diese Fahndungsmethode wurde 2020 erneut im Kontext der Kriminalisierung des „Roten Aufbaus“ Hamburg eingesetzt
- 10„Too long; didn’t read“ – ist mir zu lang; hab ich nicht gelesen
- 11Nazi-Hipster