Krawallnachtsverfahren #3: Stadtspaziergang & Bewährungsurteil nach langem Prozesstag

Der heutige Prozesstag [17.01.2023] startete mit einem Stadtspaziergang „Auf den Spuren der Krawallnacht“, an dem sich über 20 Personen beteiligten. Nachdem dieser bei einem vorangegangenen Prozesstag im Oktober 2022 von den Cops verhindert wurde, war es nun möglich diesen durchzuführen.

Von der Freitreppe am Schlossplatz, ging es über den Eckensee, vorbei an dem Innenministerium zum Gericht am Neckartor. Dabei gab es an verschiedenen Stellen Inputs zur Verdrängung aus der Innenstadt, rassistischen Kontrollen und den Auslösern der Krawallnacht, der politischen Hetze im Anschluss und dem Verfolgungseifer der Stuttgarter Justiz gegen Linke. Daneben gab es noch verschiedene Tapeten, Sprühereien und Plakate, die die Themen im Stadtbild präsent machten.

Um 9 Uhr begann dann der Prozess gegen die Angeklagte unter Ausschluss der Öffentlichkeit, da sie zum Tatzeitpunkt noch minderjährig war. Vorgeworfen wurden der Angeklagten eine Beteiligung, in Form zweier Würfe, Sachbeschädigung am Nobeleinkaufszentrum Gerber und dem Ziehen von Gegenständen auf die Straße, um ein Durchkommen der Cops zu behindern.

Zu Beginn stellte die Verteidigung bereits drei Anträge, die der Verwertung von Videos eines Tesla-Autos (bereits in Prozess #1 thematisiert) und der Handyauswertung widersprachen sowie eine Ablehnung des „Gutachtens“ des Dr. Düring. Bei letzterem Antrag zum „Gutachten“ wurde eine Entscheidung zurückgestellt, die anderen beiden Anträge abgelehnt: die Tesla-Videos stellen zwar in ihrer Erhebung ein Verstoß gegen Datenschutzrichtlinien dar, eine Verwertung sei jedoch möglich, da dies durch eine Privatperson erfolgt ist. Des Weiteren wäre eine Verwertung von Handydaten im Falle einer Beschlagnahme grundsätzlich möglich.

Um 10:15 Uhr wurde dann mit der PK‘in Fiedler als erste Zeugin vernommen. Sie wertete Videos aus und ermittelte in der „EG Eckensee“ gegen Linke. Diese seien für sie belegbar in der Krawallnacht vor Ort gewesen, was sie an Farbwürfen, Rufen, Liedern usw. fest machen würde (mehr dazu bei Bericht #1).

Die Angeklagte wurde erstmals durch einen anonymen Hinweis auf dem eingerichteten Portal benannt. Von wem, mit welcher Motivation und welchen Wissen / welcher Gewissheit dieser Hinweis kommt, ist nicht mehr nachvollziehbar und wurde durch die Ermittlungsarbeit auch gar nicht erst versucht. Erst daraufhin wollte die Beamtin John diese auch wiedererkannt haben und auch PK‘in Fiedler meinte im Zusammenspiel von Statur, Körpergröße, Bewegung und Kleidung die Angeklagte zu identifizieren.

Dies bestätigte sie sich selbst im Anschluss dann durch das „Gutachten“ und weitere – in der Befragung dann nicht mehr haltbare – Ermittlungshypothesen. Erneut zeigt sich die blinde Verfolgungswut gegenüber Linken.

Im Anschluss wurden gemeinsam verschiedene Videos zu den vorgeworfenen Taten angeschaut und entsprechend interpretiert. So wurden der Angeklagten Rufe zugeordnet, die zur Zerstörung eines heranfahrenden Polizeiautos animiert haben sollen. Auch dieser Punkt war nicht haltbar, da alleine eine solche Absicht nur Interpretation der Ermittler:innen war und die Rufe gar nicht einer Person zuordbar ist.

Eine weitere Ermittlungshypothese spann sich rund um eine Jacke, die eine Person aus der Tatnacht getragen hat. Diese unterscheidet sich erkennbar von einer Jacke, die die Angeklagte früher am gleichen Tag auf Aufnahmen einer Kundgebung getragen hat. Diesen Umstand interpretierten sowohl Ermittler:innen als auch später die Staatsanwaltschaft belastend, da das Tauschen von Kleidungsgegenständen ja „gängig“ sei, um einer Verfolgung vorzubeugen. Das eine Konsequenz aber auch sein kann, dass Angeklagte und Person aus der Tatnacht nicht identisch sind, schien ihnen nicht in den Sinn zu kommen.

Weitere Widersprüche taten sich an anderen Kleidungsgegenständen auf, in Bezug auf erkennbare Logos oder der Abstand zwischen Schuh und getragener Leggings – wobei solche Abstände mit erkennbaren Knöcheln „normal“ sind und allein in den Videos bei einer Vielzahl anderer Personen erkennbar waren.

Auch die Ermittlungsannahme, dass in der Krawallnacht von einer festen Gruppe von Linken, die gemeinsam agiert haben, auszugehen ist – wie sie dann ja auch Grundlage für das „Gutachten“ ist – wurde von der Verteidigung mehrfach in Frage gestellt. So sei das Konstrukt der Vorab-Information aufgrund von Daten aus einer Funkzellenabfrage technisch nicht haltbar. Auch wurde diese Gruppe nie auch nur versucht, tatsächlich und belegbar zu definieren und zu benennen – womit es bei einer reinen Hypothese bleibt. So sagte PK`in Fiedler sinngemäß „wenn einer da ist, dann gibt‘s noch mehr“. In ihrer Gesamtheit hätten diese Punkte den ermittelten Cops für eine Hausdurchsuchung gereicht, während die Staatsanwaltschaft erst noch das Ergebnis des Gutachtens abwarten wollte.

An diesem Punkt erwähnte PK‘in Fiedler ein Treffen zwischen Staatsanwaltschaft, EG Eckensee und dem Gutachter Dr. Düring, sowie dessen Vorgesetzten Dr. Jochen Buck und Dr. Martin Trautmann. Dieses Gespräch fand statt, bevor das Gutachten überhaupt erstellt wurde und hatte zum Inhalt, inwieweit das Vergleichsmaterial verwertbar sei. Damit schafften die Ermitttler:innen bereits vor dem Ergebnis des Gutachtens eine inoffizielle Bestätigung ihrer Thesen – auf denen wiederum das Gutachten in wesentlichen Teilen fußt. Auf diese Art und Weise wurde sich gegenseitig selbst bestätigt.

Es folgte die Mittagspause bis 13 Uhr.

Das „Gutachten“ wurde an verschiedenen Stellen in seiner Wissenschaftlichkeit und Aussagekraft durch die Verteidigung angegangen. Zum einen ist in einem Kostenvoranschlag nicht von einem anthropologischen Gutachten, dieses könne Dr. Düring gar nicht erstellen, sondern von einem „Datenverarbeitungs- und Informatikgutachten“ die Rede. Andererseits war auch in diesem Fall wie in den beiden vorangegangen Prozessen die Identifizierung des „Gutachtens“ nicht beleg- bzw. nachvollziehbar.

Erneut wurden getragene Kleidung untersucht, ohne das es hierzu eine entsprechende Expertise gegeben hätte und mehrfach wurden verschiedene Merkmale als übereinstimmend benannt, die in keiner Weise erkennbar waren, bspw. Applikationen auf der Kleidung, die Form von Oberlippe und Nase – obwohl die Person aus der Tatnacht vermummt war, vermeintliche Proportionen oder relative Aussagen zur Größe „größer / kleiner als Andere“ etc. Auch wurden nicht darauf eingegangen, wie viele Merkmale nicht vergleichbar oder nicht identisch waren und eine entsprechende statistische Erfassung und Aussage wurde nicht gemacht. Dennoch meinte der Gutachter Dr. Düring eine Identifikation mit einer Wahrscheinlichkeit von 95% zu treffen, ohne eben Merkmale die unterschiedlich / nicht vergleichbar sind zu berücksichtigen.

Exkurs: Der Gutachter Dr. Düring legte bei der Befragung bezüglich seiner Methodik und des „Gutachten“ hinsichtlich Aussagen zum Geschlecht der Tatperson nur von einem binären Geschlechterbild ausgeht.

In ihrer Einschätzung traf die Jugendgerichtshilfe die Aussage, dass keine erzieherischen Maßnahmen mehr helfen würden.

Im Plädoyer verteidigte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungsarbeit der Cops als Tatsachen und das Gutachten als zutreffend und forderte eine Haftstrafe von 2 Jahren und 3 Monaten wegen Landfriedensbruch, tät. Angriff und ver. gef. Körperverletzung. Sie betonte dabei eine „schädliche Neigung“ aufgrund einer politischen Betätigung und einer Wohnanschrift im Linken Zentrum Lilo Herrmann. Auch war der Staatsanwaltschaft erneut sehr wichtig, die Schwere der Schuld und der Riots in der Krawallnacht als kaum zu überbietender Angriff auf den Rechtsstaat darzustellen. Die Person aus der Tatnacht – der Staatsanwaltschaft nach die Angeklagte – sei hier aktiv und Vorne dabei gewesen.

Die Verteidigung plädierte wegen schlechter Ermittlungsarbeit und eines Gutachtens, dass eigentlich keine Aussagekraft besitzt auf einen Freispruch. Die Angeklagte verlas in ihrem letzten Wort noch eine politische Erklärung, in der sie auf die Hintergründe der Krawallnacht und ihrer Bewertung dessen eingeht. Hier zum Nachlesen.

Nach über 8 Stunden Prozessdauer fällte das Gericht dann bereits nach 17 Uhr ein Urteil. Es verurteilte die Angeklagte zu 1 Jahr und 8 Monaten Haft auf 2 Jahre Bewährung, sowie der Zahlung einer Geldstrafe von 2000€ als Bewährungsauflage, sowie einen Bewährungshelfer. Dabei folgte sie in den Vorwürfen (Landfriedensbruch, tät. Angriff, ver. gef. Körperverletzung) der Staatsanwaltschaft.

Als Hauptpunkt benannte das Gericht ein Gesamtbild und insbesondere den anonymen Zeugenhinweis sowie ein eigenes vermeintliches Wiedererkennen der Angeklagten auf den Videos aus der Krawallnacht. Mit der Zusammenstellung der verschiedenen Taten durch die Cops ergebe sich zeitlich ein nachvollziehbarer Zusammenhang und Gesamtbild. In dieses spielt für das Gericht dann auch das Gutachten mit rein, dass es selbst zwar an manchen Punkten kritisierte, jedoch nicht vollständig ablehnte und damit auch zur Begründung mit heranzog. Eine Schwere der Schuld sei aufgrund einer langen, aktiven Beteiligung an der Krawallnacht gegeben. Gleichzeitig spreche für die Angeklagte, dass die Krawallnacht bereits lange zurückliegt und weitere niedrigere Verurteilungen erst danach kamen.

Mit der Verurteilung am heutigen Tag, entfällt auch der Prozesstag am Dienstag, 24. Januar.


Im Februar beginnt bereits die Berufungsverhandlung des zweiten Verfahrens gegen linke Aktivist:innen im Rahmen der Krawallnacht, in dem ein Antifaschist zu 3 Jahren und 9 Monaten Haft erstinstanzlich verurteilt wurde.
Donnerstag, 02.02.
Dienstag, 07.02.
Donnerstag, 09.02.
Donnerstag, 16.02.

Haltet euch die Termine frei und unterstützt die Angeklagten vor Gericht – nähere Infos (Uhrzeiten etc.) folgen sobald als möglich und werden hier veröffentlicht.