Milde Urteile nach Neonazi-Gewalt

„Dich kriege ich, du Zecke“ – über sächsische Verhältnisse im Gericht und die Auswirkungen der Extremismustheorie.


Lasse Richei (gibt die Hand), Pierre Bauer (Glatze) und Steven Feldmann (halbverdeckt hinter Richei) im Nachgang des Aufmarsches in Chemnitz am 1. September 2018

Am 19. Januar 2024 endete ein zweimonatiger Prozess gegen Timo B. (30) aus Braunschweig, Mark B. (26) aus Rostock und Marcel W. (44) aus Chemnitz vor dem Landgericht in Chemnitz. Die vom Staatsanwalt als „Mitläufer“ bezeichneten Angeklagten legten ein Geständnis ab, in dem sie einräumten, dass sie Teil einer rechten Tätergruppe waren, aber bei den tätlichen Angriffen auf Gegendemonstrant*innen am 1. September 2018 in Chemnitz nicht selbst „zugeschlagen hätten“. Eine Distanzierung zur Tat fand nicht statt. Die Angeklagten schwiegen eisern darüber, wer beim Angriff beteiligt war, ob sich die Täter untereinander kannten und ob die Angriffe im Vorhinein geplant waren. Sichtlich erfreut waren am Ende nur die Neonazis. Das Verfahren wurde gegen die Auflage der Zahlung von 1.000 Euro eingestellt.

Am anderen Ende des Saals: wütende und fassungslose Gesichter der Nebenklage. Ein weiterer Schlag ins Gesicht der Betroffenen. Dem Urteil vorausgegangen war eine fünfjährige Verschleppung der Gerichtsverfahren und eine überaus schlechte Ermittlungsarbeit der Behörden (und Betroffene, die in all den Jahren alleine gelassen wurden).

 

„Deutschlandverräter“

Bundesweit reisten Antifaschist*innen am 1. September 2018 nach Chemnitz, um sich dem rechten Mob mit Erfolg entgegenzustellen. Die Neonazi-Demonstration musste aufgrund von Blockaden von beherzten Antifaschist*innen am späten Abend aufgelöst werden. Eine Gruppe von 15 bis 30 Neonazis, unter ihnen bekannte Gesichter wie Lasse Richei, Pierre Bauer und Steven Feldmann, brachen in Richtung Innenstadt auf. Beobachter*innen gehen davon aus, dass sie „Zecken klatschen“ wollten.

Nach Aussagen von Zeug*innen fiel das durchschnittlich junge Alter der Angreifer auf. Fotos der „Exif-Recherche“ zeigten die Gruppe der Angreifer vor der Tat am Rande der Demonstration.

An der Ecke Annabergstraße/Moritzstraße fanden sie ihre ersten Opfer. Eine Gruppe abreisender Gegendemonstran­t*innen wurde unter „Adolf Hitler unser Führer“-Rufen umzingelt. Dabei wurden sie bedroht, ihre Fahnen entwendet und zerstört. Mit den Worten „Das sind ja gar keine richtigen Zecken, die laufen gar nicht weg“ zogen die Angreifer weiter. In unmittelbarer Nähe griff die Neonazi-Gruppe dann unter „Adolf Hitler Hooligans“-Rufen weitere Personen der Gegendemonstration mit Schlägen und Tritten an. Eine Zeugin berichtete dabei von sexistischen Drohungen. Kurze Zeit später erfolgte ein Angriff auf eine weitere Person, die zufällig vor Ort war und sich vorher nicht an der Gegendemonstration beteiligt hatte. Durch Faustschläge ins Gesicht wurde seine Brille zerstört und der Betroffene erlitt Schnittverletzungen im Bereich des Auges, die genäht werden mussten. An der Kreuzung Reitbahnstraße/Annenstraße kam es zu einem weiteren Angriff auf eine abreisende Gruppe von Gegendemonstrant*innen.

Auch eine Gruppe von angereisten Marburger*innen wurde angegriffen. Auf dem Rückweg zum Reisebus gingen sie durch den Park der Opfer des Faschismus in Richtung Zschopauer Straße. Zeug*innen berichteten dabei, dass die Angreifer sich in einer Seitenstraße an einem Hauseingang gekauert hinter geparkten Autos versteckt hielten, bis sie mit Rufen wie „Da sind Zecken“ oder „Deutschlandverräter“ auf sie zustürmten. Mehrere Betroffene gaben an, dass die Neonazis mit Schlaggegenständen wie Knüppeln, Baseballschlägern und Teleskopschlagstöcken bewaffnet waren. Die Betroffenen erlitten Faustschläge zum Kopf und Gesicht. Eine Person of Color wurde von der Neonazi-Gruppe als Feindbild markiert und durch den Park gejagt. Bei der Zeug*innenvernehmung durch Polizist*innen am Reisebus kam es zu einem Wortgefecht. Dem Narrativ der Polizei, dass es sich hierbei um eine „Links-Rechts Auseinandersetzung“ gehandelt hätte, wurde widersprochen. Betroffene berichteten von Todesangst (und den psychischen Schäden), die der Angriff bei ihnen ausgelöst hatte. Teile der Neonazi-Gruppe wurden kurze Zeit später in der Nähe des Tatorts durch die Polizei aufgegriffen und ihre Identitäten festgestellt.

Sächsische Verhältnisse im Gericht

Das Landgericht Chemnitz unterteilte den Prozess gegen die rund 27 Angeklagten auf drei Prozessblöcke. Der erste Block fand von Dezember 2023 bis Januar 2024 statt. Zwei weitere Prozessblöcke sind zum aktuellen Stand noch nicht öffentlich terminiert. Für jeden dieser Blöcke werden jeweils neun Angeklagte verhandelt. Das Versagen zeichnete sich aber schon vor dem ersten Prozesstermin ab. Die Anklage gegen Heiko M. aus Freital und Daniel K. aus Dresden wurde vorher eingestellt, da sie in anderen Strafverfahren hohe Strafen erhielten.

Der bekannte rechte „Influencer“ Steven Feldmann befindet sich auf der Flucht und ist seitdem nicht auffindbar. Gegen ihn wurde ein EU-Haftbefehl veranlasst. Auch das Verfahren gegen Grigor K. konnte nicht geführt werden, da er nicht auffindbar sei. Pierre Bauer, rechter Kampfsportler aus Braunschweig, würde sich in einer psychiatrischen Klinik befinden und könne deswegen nicht am Prozess teilnehmen. Die Anklage gegen Rico W. wurde schon am zweiten Verhandlungstag unter der Auflage einer Geldstrafe von 1.000 Euro eingestellt. Rico W. sagte aus, dass die meisten wie er nur „besorgte Bürger“ und keine Neo-Nazis seien.

Von ursprünglich neun Angeklagten wurde das Verfahren gegen die drei übrig gebliebenen fortgeführt. Unter den Pflichtverteidiger*innen stach besonders der Anwalt von Mark B. hervor. Der rechte Szene-Anwalt Wolfram Nahrath war bis zum Verbot im Jahr 1994 Vorsitzender der „Wiking-Jugend“ und Funktionär der NPD. Nahrath verteidigte unter anderem Ralf Wohlleben beim NSU-Prozess und die notorische Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck.

Die fünfjährige Verschleppung der Gerichtsverfahren wurde von Seiten der Betroffenen, der Opferberatungsstellen und der Nebenklage-Anwält*innen schon vor der Eröffnung der Prozesse kritisiert.

Der Eindruck, dass die Angriffe auf Gegendemonstrant*innen für sächsische Gerichte nicht von großer Bedeutung sind, erhärtete sich mit dem Beginn der Gerichtsprozesse. Am ersten Prozesstag sagte eine ehemalige Beamtin des Staatsschutzes aus, dass die Ermittlungen aufgrund der Angriffe auf Gegendemonstrant*innen keine Priorität gehabt hätten. Das Narrativ der „Links-Rechts Auseinandersetzung“ trug somit erheblich zu den schleppenden und fahrlässig durchgeführten Ermittlungen bei, und erklärt auch, warum das Gerichtsverfahren erst fünf Jahre später stattfand.

„Wer gegen Nazis kämpft, kann sich auf den Staat nicht verlassen“ 

Dass Staat und Judikative auf dem rechten Auge blind sind, mag nichts Neues sein. Die Wut darüber bleibt aber bestehen. Besonders, wenn wir uns den Verfolgungswillen der Behörden – vor allem in Sachsen – gegen Antifaschist*innen zu Vergleiche ziehen. Die Täter konnten bisher ohne Angst vor einer konsequenten Strafverfolgung weiterleben. Einige der Angeklagten radikalisierten sich in diesen fünf Jahren weiter und fielen durch nachträgliche Angriffe gegen People of Color und Antifaschist*innen auf.

Es ist kein Zufall, dass seit Jahren ein Zuzug westdeutscher Neonazi-Kader wie z.B. Michael Brück nach Sachsen zu beobachten ist. Die sächsischen Verhältnisse, das Schweigen und Wegschauen bei rechter Gewalt und die permanente Raumnahme bieten für Neonazis großes Potential, eine rechte Hegemonie aufzubauen und ihre menschenverachtenden Vorstellungen in die Tat umzusetzen.

Ausblick

Ungeklärt bleibt die Frage, wie sich die Gruppe der Angreifer zusammenfand und wie diese Angriffe koordiniert wurden. Vieles spricht dafür, dass es sich hierbei nicht um eine Spontanaktion handelte. Betroffene sprachen immer wieder davon, dass die Angriffe sehr koordiniert und gut abgesprochen wirkten. Auch die Bewaffnung der Täter spricht dafür, dass sie vorbereitet die Konfrontation mit ihren politischen Feindbildern suchten.

Noch sind die weiteren Prozesstermine gegen die übrigen Angeklagten nicht terminiert. Bei dem Ausgang des ersten Prozessblocks können wir damit rechnen, dass es nicht besser wird.

Wir rufen weiterhin dazu auf die Betroffenen rechter Gewalt in den kommenden Prozessen zu begleiten. Das einzige, worauf wir uns verlassen können, ist die Solidarität untereinander.

(Weitere Infos: www.solichemnitz2018.noblogs.org)

Dieser Artikel stammt vom Antifaschistischen Info-Blatt. Schaut gerne mal dort vorbei! Dort gibt es immer wieder gute Rechercheartikel über die rechte Szene, aber auch politische Analysen und Berichte rund um das Thema Anitfa und darüber hinaus.