Am 27. August 2022 findet in Rostock-Lichtenhagen eine Großdemonstration anlässlich des 30. Jahrestags der dortigen Pogrome statt, ein breites Bündnis mobilisiert zur Demonstration. Es wird Anreisen aus dem Südwesten Deutschlands geben, die in Kürze hier veröffentlicht werden (meldet euch gerne, wenn ihr eine plant). Hier nun der Aufruf zum Antifa-Block, unten noch ein Hintergrundartikel aus dem AIB zum Pogrom 1992 in Lichtenhagen.
Anreisen aus Süddeutschland
Update: 24.08.2022
Villingen-Schwenningen:
Kommt am Donnerstag zur Kneipe, ab 20 Uhr im Linken Zentrum Schwenningen, oder meldet euch beim Offenen Antifaschistischen Treffen Villingen-Schwenningen via oat-vs@t-online.de.
Anreise Freitagabend (26.08.), Rückfahrt Sonntagabend (28.08). Hier findet ihr den Aufruf des OATVS.
Update: 22.08.2022
Karlsruhe:
Meldet euch beim Offenen Antifaschistischen Treffen Karlsruhe via oat-ka@riseup.net.
Stuttgart:
Meldet euch beim Antifaschistischen Aktionsbündnis Stuttgart & Region via aabs@riseup.net.
Antifa-Block auf der Lichtenhagen-Demo
Zwischen dem 22. und 24. August 1992 fand im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen das größte rassistische Pogrom in der Geschichte der Bundesrepublik statt. Über mehrere Tage griffen Hunderte Rechtsradikale mit Steinen, Flaschen und Molotowcocktails die “Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber” (ZASt) und ein Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter:innen an. Unterstützt wurden sie dabei von tausenden jubelnden Anwohner:innen. Die vietnamesischen Bewohner:innen des in Brand gesteckten Wohnhauses und ihre Unterstützer:innen konnten sich in letzter Minute über das Dach des Hauses retten. Vorausgegangen waren den Angriffen zahlreiche antiziganistische Berichte in den Medien, welche Stimmung gegen in der ZASt lebende Sinti und Roma machten.
Wer von diesem Pogrom vor 30 Jahren spricht, darf heute nicht schweigen, wenn es um institutionalisierten Rassismus oder die Kriminalisierung der antifaschistischen Bewegung geht. Die ‘90er Jahre sind lange her und viele von uns kennen das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen nur aus Medienberichten oder Erzählungen älterer Freund:innen. Seitdem erleben wir kontinuierlich ein hohes Ausmaß rechter Gewalt. Die Morde des NSU, Anschläge in München, Halle, Hanau, rechte Netzwerke in Polizei und Militär. Die Liste, der Ereignisse, welche die letzten Jahre unser politisches Bewusstsein geprägt haben, ist lang.
Vor 30 Jahren sahen Polizei und Innenministerium in Lichtenhagen dabei zu, wie sich das Pogrom entfaltete. Antifas, die sich dem Mob entgegenstellten wurden verhaftet, Neonazis konnten gewähren. Die Konsequenz, welche der Staat aus den Vorfällen zog, war das Grundrecht auf Asyl faktisch abzuschaffen und Geflüchtete in Lager fernab der Städte zu schaffen.
Keine zehn Jahre später begann die Terrorserie des NSU-Netzwerks. Jahrelang ermordeten Neonazis migrantisch gelesene Menschen. Die Polizei suchte die Täter im Umfeld der Getöteten und ließ dabei kein rassistisches Klischee aus.
2015 flohen viele Menschen nach Deutschland. Brennende Unterkünfte waren an der Tagesordnung. In Heidenau kam es zu Tage langen Ausschreitungen.
2016 sah auch Rostock wieder rechte Mobilisierungen im Geiste Lichtenhagens. Über mehrere Tage versammelten sich immer wieder Neonazis vor einem Wohnprojekt für Geflüchtete in Rostock-Groß Klein. Als Antifas einschritten und die Neonazis konfrontierten nahmen Polizisten mehrere Antifaschist:innen fest, ließen die Neonazis jedoch unbehelligt. Kurze Zeit später wurde das Wohnprojekt durch die Stadt beendet und die Geflüchteten verlegt.
Seit Lichtenhagen hat sich nicht viel verändert. Der Staat hat kein Interesse an der Bekämpfung rechter Gewalt. Während in den letzten Jahren zahlreiche Menschen rechtem Terror zum Opfer fielen, ist im Gegenzug die antifaschistische Bewegung in Deutschland einer der härtesten Repressionswellen des letzten Jahrzehntes ausgesetzt. Gewalttätige Nazis werden zu V-Männern und bekommen lächerliche Bewährungsstrafen – Antifaschist:innen wandern in den Knast, nur weil sie sich gegen Nazis zur Wehr setzen. Polizisten foltern und töten migrantisch gelesene Menschen, schmieden Umsturzpläne und bereiten die Jagd auf Linke vor. Geflüchtete werden in abgeschiedenen Lagern isoliert, damit es ja keine Probleme gibt.
Aber was erwarten wir? Egal ob Nordkreuz, NSU 2.0 oder rechte Chatgruppen: der Staatsapparat ist durchsetzt mit Neonazis und Rechtsterroristen. Doch es sind nicht erst diese offen faschistischen Elemente, denen wir unversöhnlich gegenüber stehen. Der Staat als solcher ist nicht unser Freund, er ist nicht unser Helfer. Der Staat institutionalisiert Rassismus. Der Staat lässt lieber Tausende im Mittelmeer ertrinken, als sie aufzunehmen. Der Staat schützt vor allem eins: Eine Wirtschaftsordnung, in der nicht das Wohl Aller an erster Stelle steht.
Von diesem Staat geht kein ernsthafter Kampf gegen rechten Terror aus. Nicht vor 30 Jahren in Lichtenhagen und auch heute nicht. Erst recht nicht, wenn Ermittelnde selbst Waffen horten und Todeslisten anlegen. Nicht erst seit der Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios hat sich immer wieder gezeigt, dass es unabhängige antifaschistische Recherchen braucht, um effektiv neonazistische Strukturen und Verstrickungen mit staatlichen Behörden aufzudecken. Und auch gegen rassistische Gewalt hilft nicht die Polizei, sondern antifaschistischer und antirassistischer Selbstschutz. Vertrauen wir also nicht auf einen Staat, der weg sieht oder selbst beteiligt ist, wenn Faschisten Gewalttaten begehen. Vertrauen wir auf uns selbst und unseren Mut zur Veränderung. Organisieren wir uns und den antifaschistischen Selbstschutz – kämpfen wir für eine bessere Welt, weisen wir Faschisten und Rassisten konsequent in die Schranken und brechen wir die rechte Kontinuität in diesem Land!
Rechte Strukturen aufdecken und zerschlagen!
Lager abschaffen!
Solidarität mit allen Betroffenen rechter Gewalt!
Diesen Aufruf findet ihr unter: antifa-rostock-lichtenhagen.org. Außerdem könnt ihr euch weitergehend auf der Seite des Bündnisses „Gedenken an das Pogrom. Lichtenhagen 1992.“ informieren.
Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen
[Ein Artikel aus dem AIB, erschienen im Frühjahr 1993]
Wenn wir die Vorgänge um das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen näher untersuchen, so wird deutlich, daß sowohl die Angriffe als auch die Folgen offenbar politisch gewollt waren. Die TäterInnen waren eine Mischung aus Kommunal-, Landes- und BundespolitikerInnen, höheren Polizeidienststellen sowie organisierten Neonazis und aufgehetzten AnwohnerInnen. Es bleibt eigentlich nur die Frage offen, ob es unter den Beteiligten eine direkte Absprache gab oder ob es sich um ein »freies« Zusammenspiel reaktionärer Kräfte handelte. Dem Pogrom in Hoyerswerda im letzten Jahr [1991] folgte eine bis dahin beispiellose Welle von Angriffen auf Flüchtlinge, ImmigrantInnen und Linke. Mit ihrem Verhalten zu dem Pogrom von Rostock gossen die verantwortlichen PolitikerInnen nun Öl auf das Feuer der organisierten Neonazis und der mit ihnen sympathisierenden RassistInnen. Während hunderte von Neonazis und rassistischen Jugendlichen unter dem Applaus tausender Bürger und Bürgerinnen tagelang die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZASt) attackierten, sorgten Polizei und PolitikerInnen dafür, daß die Angriffe ein »voller Erfolg« wurden. Damit war der Startschuß für eine weitere und noch größere Welle von Anschlägen und Mordversuchen gegen Flüchtlinge im ganzen Land gegeben.
Hoffnung auf Aufschwung verloren
Die soziale und wirtschaftliche Situation in Mecklenburg-Vorpommern – es ist das Land mit der höchsten Arbeitslosenrate – entspricht so ziemlich der in allen neuen Bundesländern. Sie ist hoffnungslos. Das soziale Netz der DDR ist zerschlagen, die meisten Betriebe stillgelegt, wenige mit reduzierter Arbeitsplatzzahl privatisiert. Zwar gelang es durch die Betriebsbesetzungen der Werften in Wismar und Rostock wenigstens dort die Machenschaften der Treuhand zu beeinflussen und einen Teil der Arbeitsplätze zu erhalten, doch dies bleibt angesichts der Gesamtlage ein Tropfen auf den heißen Stein.
Die offiziellen Arbeitslosenstatistiken weisen für Rostock eine Quote von 14 Prozent, für Lichtenhagen von 17 Prozent auf. Dabei fehlen natürlich die vielen KurzarbeiterInnen und die Frauen, die durch den Wegfall der Hortplätze wieder ausschließlich für Haushalt und Kinder zuständig gemacht wurden. Wer dachte mit seiner / ihrer Ausbildung und viel gutem Willen doch irgendwo unterkommen zu können, stellt heute allzu oft fest, daß seine / ihre Ausbildung, Wissen und Können unter der Herrschaft des »freien Westens« nichts wert sind. Statt dessen bangt mann / frau vor der nächsten Mieterhöhung, die die Bundesregierung für Anfang 1993 angekündigt hat: bis zu 100 Prozent mehr Miete kann dann gefordert werden. Und die große Freiheit zwischen zehn Waschmitteln wählen zu können, verschwimmt angesichts sozialer Deklassierung und Orientierungslosigkeit. Drei Jahre nach dem Aufkauf der DDR haben deren ehemalige BürgerInnen die Hoffnung auf einen schnellen Aufschwung verloren.
Wege, wie sie selbst wirksam für eine baldige Verbesserung ihrer Situation kämpfen könnten, sind kaum noch sichtbar. Wie fast überall in der ehemaligen DDR sind die kurzzeitigen Errungenschaften der Bürgerbewegung auch in Mecklenburg-Vorpommern zurückgedrängt worden. Als erstes wurden die »Runden Tische« und ihr Einfluß auf die Politik abgeschafft. Fortschrittliche Zeitungen gingen eine nach der anderen im ökonomischen Überlebenskampf unter. DT64, einer der stetig weniger werdenden Radiosender, die gesellschaftliche Probleme kritisch thematisierten, wurde trotz erheblicher Proteste zunächst in Mecklenburg-Vorpommern, später in allen sog. neuen Ländern abgeschaltet. Jugend-Zentren und andere Kultureinrichtungen waren die ersten, die den Sparmaßnahmen der Bundesregierung zum Opfer fielen. Da das politische System in der DDR immer noch nicht reorganisiert ist, wird ein Großteil der Entscheidungen auf Verwaltungsebene getroffen. Diese werden dann von den PolitikerInnen in aller Schnelle durchgesetzt. So wurde z.B. das neue Polizeigesetz Mecklenburg-Vorpommerns in diesem Sommer ohne öffentliche Diskussion verabschiedet. Für »potentielle StraftäterInnen« sieht es eine »Vorbeugehaft« von bis zu sechs Wochen vor und räumt damit der Polizei Eingriffsrechte in die persönliche Freiheit der Menschen ein wie kein anderes Polizeigesetz in der BRD. Die Verwaltungsbürokratie Mecklenburg-Vorpommerns ist vor allem auf der mittleren Ebene mit alten Freunden des ehemaligen schleswig-holsteinischen CDU-Ministerpräsidenten Kai Uwe Barschel besetzt. Hierbei handelt es sich zum größten Teil um Beamte, die nach dem Wahlsieg der SPD in Schleswig-Holstein mit Schwierigkeiten für ihre Karriere rechnen mußten, wenn sie ihre Amtsgeschäfte so weiterführen wollten wie zuvor.
Die ZAst
Rassistisch motivierte Angriffe sind auch in Mecklenburg-Vorpommern nicht unbekannt. Im ersten Halbjahr 1992 gab es nach Polizeiangaben 30 Überfälle auf Flüchtlingheime. Im März dieses Jahres traten 21 Männer einen Rumänen auf offener Straße zu Tode. Die Ereignisse in Rockstock- Lichtenhagen haben ihren Vorlauf, bilderbuchhaft führen sie vor, wie Zustände geschaffen werden können, die zu pogromartigen Ereignissen führen.
Die „Zentrale Anlaufstelle für AsylbewerberInnen“ (ZAst) war in einem Wohnblock in einem Rostocker Außenstadtviertel untergebracht. Dort sollten die AsylbewerberInnen nur kurze Zeit, bis sie auf andere Lager verteilt würden, bleiben. Soziale Kontakte mit der Bevölkerung konnten so nicht entstehen. Mit ihrer eh ausgesprochen begrenzten Aufnahmekapazität war die ZASt den in letzter Zeit täglich bis zu 80 neu ankommenden Flüchtlingen nicht gewachsen. Um eine entsprechend schnelle Weiterverteilung oder anderweitige Unterbringung der Flüchtlinge wurde sich allerdings auch kaum gekümmert, wie wir später zeigen werden. Statt dessen wurde der Eindruck der »Überflutung« noch dadurch geschürt, daß AsylbewerberInnen, die außerhalb der offiziellen Öffnungszeiten ankamen, nicht in das Gebäude hineingelassen wurden. So waren zahlreiche Menschen gezwungen, im Freien zu übernachten. Toiletten und Waschgelegenheiten gab es für sie ebensowenig wie eine Versorgung durch die ZAst. Folgerichtig wurden auf der Suche nach Eßbarem und Gebrauchsgegenständen die Müllcontainer der AnwohnerInnen durchwühlt. Doch auch der Unmut der AnwohnerInnen bescherte den Flüchtlingen weder Toilettenhäuschen noch Nahrung, geschweige denn andere Unterkünfte. Statt dessen wurde dieser von den PolitikerInnen ignoriert bzw. benutzt, um die Stimmung gegen Flüchtlinge und die bisherige Asylgesetzgebung zu schüren.
Wolfgang Schulz, Bürgerbeauftragter der Landesregierung, hat nach eigenen Angaben bereits im Oktober 1991 den Rostocker Oberbürgermeister und den CDU-Innenminister Georg Diederich (Vorgänger von CDU-Innenminister Lothar Kupfer) über die häufigen Klagen der AnwohnerInnen informiert. Doch erst im Januar 1992 reagierte der Innenminister – und im März 1992 der Oberbürgermeister – und zwar nicht etwa mit praktischer Hilfe sondern mit der Ankündigung, die ZASt werde im Juni verlegt. Dies geschah nicht, statt dessen war das Gelände um die ZAst mit Flüchtlingen überfüllt, denen keine andere Wahl blieb, als im Freien zu campieren. Wiederum leitete Schulz die Beschwerden der NachbarInnen weiter. Dieses Mal erhielt er von Kupfer die lapidare Antwort, die ZAst werde im September verlegt.
Rostocks Oberbürgermeister Klaus Kilimann (SPD) hatte bereits im Juli 1991 an den damaligen Innenminister Mecklenburg-Vorpommerns, Georg Diederich (CDU), geschrieben. In seinem Brief beschrieb er detailliert die Situation um die ZASt in Lichtenhagen und machte Vorschläge für zusätzliche Unterbringungsmöglichkeiten für die AsylbewerberInnen. Wörtlich heißt es: »Die Sicherheit aller ausländischen Bürger in Rostock ist in einem deutlich höheren Maß gefährdet. Gewalttätigkeiten gegenüber ausländischen Bürgern nehmen zu. Schwerste Übergriffe bis zu Tötungen sind nicht mehr auszuschließen.« Nach dem Pogrom war Kilimann glücklich, sich auf diesen Brief berufen zu können. Dabei verschwieg er aber, daß er selbst bzw. der Rostocker Senat die ZAst nach Lichtenhagen geholt hatten. Und dies keineswegs, weil ihnen die Problematik des Standorts nicht bekannt gewesen wäre. Ausschlaggebend dürfte gewesen sein, daß die Stadt, die die ZAst des Landes aufnimmt, nur die Hälfte der Quote an AsylbewerberInnen aufzunehmen braucht.
Der fraktionslose Landtagsabgeordnete Reinhardt Thomas (früher SPD, jetzt der CDU nahestehend) wirft dem Senat vor, nicht intensiv nach anderen Örtlichkeiten für die ZAst gesucht zu haben. Die Stadt Rostock sei eindeutig für die Probleme zuständig gewesen, die im Umfeld der ZASt entstanden, auch wenn diese dem Innenministerium untersteht. Warum diese Verantwortung nicht übernommen wurde, können wir den aufschlußreichen Ausführungen des Rostocker Innensenators, Peter Magdanz (SPD) entnehmen. In den Neuesten Norddeutschen Nachrichten vom 19. August, also drei Tage vor dem ersten Angriff auf die ZASt, war folgendes zu lesen: »Ratlosigkeit im Rathaus. Senator Magdanz steckt in der Klemme: Wenn wir weitere Unterkünfte zur Verfügung stellen, kommen noch mehr Asylsuchende, Das zeigt die Erfahrung.« Dies bekräftigte Magdanz noch einmal in einem Gespräch mit Kurt Degner, der wegen der Verwicklung seiner Parteifreunde in das Pogrom von seinem Posten als Pressesprecher der SPD-Landtagsfraktion zurückgetreten ist.
24 Stunden nach dem Brand in dem ZASt-Gebäude erklärte Magdanz, er wolle die Flüchtlinge nicht in Turnhallen oder anderen Unterkünften unterbringen, »denn die telefonieren doch mit Rumänien und dann stünde er am nächsten Tag vor dem gleichen Problem.«
Chronologie der Ereignisse
Mai 1992: Bereits im Mai werden Flugblätter von Michael Andrejewski von der »Hamburger Liste für Ausländerstopp« (HLA) unter dem Motto »Rostock bleibt deutsch« verteilt. Diese sollen den Rassismus in Lichtenhagen schüren. Auch Aktivisten aus den Kreisen der DVU [Deutsche Volksunion] riefen als eine „Bürgerinitiative Lichtenhagen“ zu einer Kundgebung vor der ZAst auf, um, „das Asylantenproblem selbst in die Hand zu nehmen“.
Einige Tage vor dem Pogrom (und eine Woche vor der geplanten Verlegung der ZAst) meldet sich eine angebliche Bürgerinitiative zu Wort. Die »Norddeutschen Neuesten Nachrichten« (NNN) erhalten am Dienstag, den 18. August den anonymen Anruf einer »Interessengemeinschaft Lichtenhagen«: »Wenn die Stadt nicht bis Ende dieser Woche für Ordnung sorgt, dann machen wir das.« Dieser Anruf wird am Tage darauf in den NNN veröffentlicht, Polizei und PolitikerInnen informiert. Die NNN zitierte am 19. August den anonymen Anrufer mit den Worten: „In der Nacht vom Samstag zum Sonntag räumen wir in Lichtenhagen auf. Das wird eine heiße Nacht.“ Rostocks Innensenator Magdanz (SPD) erklärt in einer Rostocker Zeitung daraufhin, daß er sich mit Polizei und Landesregierung zusammensetzen werde, um einer Eskalation der Gewalt vorzubeugen. Er versucht auch gleich, sein politisches Süppchen auf der angespannten Situation zu kochen: »Nicht nur in Rostock verschärft sich die Situation von Tag zu Tag. Ich hoffe nur, daß die Herren aus Bonn bald aus ihrer Sommerpause aufwachen.« Auch in der Freitagausgabe der »Ostseezeitung« wird wieder ein anonymer Anrufer einer »Interessengemeinschaft« zitiert: »Das wird eine heiße Nacht. Wir werden Ordnung schaffen.«
Samstag, 22.8.: Für Samstag wird über die »Ostseezeitung« zu einer Demonstration „Gegen das deutsche Ausländergesetz/Asylgesetz“ aufgerufen. Eine Demonstration findet nicht statt, aber es kommt zu einer Menschenansammlung vor der ZAst. Aus dieser Situation heraus kommt es zu den ersten Angriffen auf das Gebäude. Die ersten Steine, so berichtet der Ausländerbeauftragte in Rostock Wolfgang Richter, fliegen in die Fenster der VietnamesInnen-Wohnungen (der Aufgang zu ihrem Wohnheim liegt offener als die Flüchtlingswohnungen). Ungefähr 500 AngreiferInnen versuchen, das Heim zu stürmen. Dies wird zunächst durch die militante Gegenwehr der BewohnerInnen verhindert.
Die Polizei, mit 35 Beamten vertreten, hält sich zurück und läßt die Situation eskalieren. Bis Samstagabend versammeln sich 1000 bis 2000 BürgerInnen (darunter TeilnehmerInnen einer DVU-Veranstaltung die acht Wochen zuvor stattfand) und feuern einen Mob von bis zu 500 Personen an. Jede eingeworfene Fensternscheibe, jeder Molotowcocktail wird mit Beifall bedacht. Erst in den frühen Morgenstunden schafft es die Polizei, die Angreifer vom Heim wegzudrängen, was eher der Ermüdung der Angreifer als dem energischem Durchgreifen der Polizei zuzuschreiben ist.
Erst zu später Stunde sind die Einsatzkräfte der Polizei mit einem Sonderkommando und Bereitschaftspolizisten auf 150 Mann verstärkt worden. Vier Stunden wurden benötigt, um einen Wasserwerfer aus dem benachbarten Schwerin zu holen, weil die Fahrer angeblich erst von Rostock nach Schwerin gebracht werden mußten. Die Wasserwerfer fuhren so an den Mob heran, daß sie die Rassisten auf das Sonnenblumenhaus zudrängten. »Erst um 2 Uhr fuhren Wasserwerfer auf und beendeten die Straßenschlacht zwischen Jugendlichen und Polizisten«, schreiben die »Norddeutschen Neuesten Nachrichten«.
Sonntag, 23.8.: Eine ähnliche Situation wie am Tage zuvor. Trotz Verstärkung für die Rostocker Polizei, laut Berliner Zeitung 400 Polizisten und BGS’ler, greifen ca. 100 Jugendliche das Gebäude an. Einige Angreifer stürmen in das Wohnheim der Vietnamesen und können bis in den sechsten Stock vordringen. Bei der gaffenden Menge macht sich Volksfeststimmung breit. Mollotowcocktails werden „massenweise“ in direkter Nähe der Polizeiketten abgefüllt oder aus Autos geholt.
Von dem Rostocker Polizeidirektor Siegfried Kordus ist am Montag in den Ostseezeitung zu lesen, daß die Aktion seiner Meinung nach überregional geplant wurde. Sicheres Indiz dafür sei, daß viele Täter mit PKWs aus anderen Kreisen Mecklenburg- Vorpommerns angereist seien. Zudem wären am Sonntag gewaltbereite Jugendliche aus Lübeck und Hamburg gekommen. Die Berliner Zeitung berichtete, daß ganz Lichtenhagen mit Autos aus Hamburg, Lübeck und Niedersachsen zugeparkt gewesen sei.
Hans-Gert Lange, vom Bundesamt für Verfassungsschutz, stellt gegenüber dpa eine zunehmend bessere Organisiertheit bei den Rechtsextremisten fest. »Es tauchen zunehmend größere Gruppen auf, die sich offensichtlich abgesprochen haben.« Dies sei offenbar auch in Rostock der Fall gewesen. So gebe es Anhaltspunkte, daß die Gewalttäter aus verschiedenen Städten, u.a. Hamburg, Berlin, Lübeck und Leipzig, angereist seien.
Uns ist bekannt, daß verschiedene Personen aus dem Neonazi-Netzwerk „Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front“ (GdNF) in Lichtenhagen mitgemischt haben. Christian Worchs Opel soll am Sonntag Abend gesehen worden sein, eine Person, habe scheinbar über Funk oder Funktelefon andere Neonazis „eingewiesen“. Ungeklärt ist, ob Worch selbst vor Ort bzw. war. Neonazis aus Gruppen wie der FAP [Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei], NF [Nationalistische Front] usw. sowie aus verschiedenen europäischen Ländern, darunter aus dem GdNF-Netz aus Österreich, waren ebenfalls angereist. Infrastruktur zur Unterstützung des Pogroms war augenscheinlich vorhanden. Polizeifunk wurde abgehört, in einem Auto von Neonazis fanden Polizisten Störfunkgeräte.
Im Laufe des Sonntags wird in den großen norddeutschen Städten von AntifaschistInnen nach Rostock mobilisiert. Dort werden dann mehrere Versuche gemacht, einzugreifen, was aber unter anderem an der aufgeputschten Menge von 2000 ZuschauerInnen scheitert. Gegen 1.00 nachts macht sich erneut ein Konvoi von etwa 200 Personen aus der Rostocker Innenstadt auf den Weg nach Lichtenhagen. Eine Kundgebung wird durchgeführt. Die Polizei zeigt, daß eine Störung des Pogroms von links nicht akzeptiert wird: bei der Kundgebung, z.T. an den geparkten Autos und auf dem Rückweg nach Rostock werden über 60 AntifaschistInnen verhaftet. In den Medien wird später die Zahl von 150 festgenommenen »Krawallmachern« verbreitet, darunter sind eben diese 60 AntifaschistInnen (Vorwurf: »Landfriedensbruch und Verstoß gegen das Versammlungsgesetz«).
Die Gefangenen schreiben in ihrer Presseerklärung, daß sie alle erkennungsdienstlich behandelt und z.T. mißhandelt wurden. 30 von ihnen mußten von 3.00 bis 9.00 Uhr morgens mit Handschellen gefesselt im Hof der Gefangenensammelstelle stehen. Die anderen 30 wurden trotz Protest in einer Turnhalle zusammen mit 35 Neonazis festgehalten. Im Laufe der Tage werden die meisten von ihnen freigelassen, die letzten von ihnen jedoch erst am darauf folgenden Wochenende.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz behauptet von den Ausschreitungen überrascht worden zu sein. Es habe keine Hinweise über die Aktivitäten in der Neonazi-Szene gegeben. Die „Norddeutschen Neuesten Nachrichten“ hingegen zitieren am 29. August eine Sozialarbeiterin, Neonazis aus Berlin, Brandenburg und Potsdam hätten schon im Juni auf einem Zeltplatz in Rügen angekündigt, es werde in Rostock bald losgehen.
Montag, 24.8.: Montag Vormittag tagt ein Krisenstab. Rostocks Kommunalpolitiker und auch der Innensenator von Rostock, Magdanz, sind ausgeschlossen. Der CDU-Landesinnenminister Lothar Kupfer, der CDU-Bundesinnenminister Rudolf Seiters sowie die Polizeiführung von Mecklenburg-Vorpommern stimmen sich ab. Wer genau an diesem Krisenstab teilnahm und was dort besprochen wurde, ist nicht der Öffentlichkeit bekannt gemacht worden.
Wir können erste Rückschlüsse ziehen aufgrund der folgenden Ereignisse. Die Kräfte des Bundesgrenzschutzes werden mittags entlassen, so teilt es Bundesinnenminister Rudolf Seiters später in »Hessen 3« mit. Mit dem Einsatz des BGS und spätestens mit dem Krisenstab wurde das Vorgehen in Rostock übrigens auch Sache der Bundesregierung.
Rudolf Seiters nutzt seinen Besuch beim Krisenstab, um eine neue Asylgesetzgebung zu fordern. Er forderte auf einer Pressekonferenz am selben Tag in Rostock: „Wir müssen handeln gegen den Missbrauch des Asylrechts, der dazu geführt hat, dass wir einen unkontrollierten Zustrom in unser Land bekommen haben, ich hoffe, dass die letzten Beschlüsse der SPD, sich an einer Grundgesetzänderung zu beteiligen, endlich den Weg frei machen.“ Landesinnenminister Lothar Kupfer erklärte nach dem Pogrom im WDR: „Die Rechten haben bewirkt, die Politiker dafür zu sensibilisieren, dass das Asylrecht eingeschränkt wird und dass das Sicherheitsgefühl an erster Stelle steht – nicht nur in Ostdeutschland.“
Das Flüchtlingsheim (ZAst) wird bis Montag Abend geräumt. Die Entscheidung, alle Flüchtlinge wegzubringen, trifft niemand aus der Landesregierung, auch nicht die Leiterin des Hauses, sondern ein mittlerer Mitarbeiter der ZAst. Sowohl der Ausländerbeauftragte Richter als auch die PDS-Abgeordnete Andrea Lederer informieren die Polizei darüber, daß sich noch ca. 150 VietnamesInnen in ihren Wohnungen in dem Gebäude aufhalten. Die Rostocker Polizeidirektion erklärt gegenüber der PDS-Abgeordneten gegen 18.00 Uhr, dies sei ihr bekannt.
„Nichts von VietnamesInnen im Haus gewußt“
Am Montagabend um 18.00 Uhr wußte – die Rostocker Polizeidirektion noch von den VietnamesInnen; am Tage darauf streitet es der Sprecher der Polizeidirektion schlicht ab. Erklärung von Andrea Lederer, stellvertretender Vorsitzende der Abgeordentengruppe PDS/Linke Liste im Bundestag; „Ich habe am 24.8.92 um 18.00 Uhr in einem Telefonat mit Herrn Teichmann von der Polizeidirektion Rostock darauf hingewiesen, daß … sich in dem angegriffenen Haus in Lichtenhagen noch ca. 150 vietnamesische Bürgerinnen und Bürger aufhalten und daß auch mit weiteren Angriffen zu rechnen sei. Herr Teichmann hat mir bestätigt, daß er, sowie die Polizeidirektion, von der Anwesenheit der VietnamesInnen und Vietnamesen Kenntnis habe, die Polizei ebenfalls über noch unbestätigte Informationen verfüge, wonach weitere Angriffe zu erwarten seien. Meine Frage, ob der Polizeischutz aufrecht erhalten bleibe, um auch die vietnamesischen Bürger und Bürgerinnen zu schützen, bejahte Herr Teichmann. Wenn seitens der Polizeidirektion Rostock jetzt erklärt wird, sie sei während der Brandstiftung davon ausgegangen, das Haus sei leer, so ist dies schlichtweg gelogen.« AnwohnerInnen berichten, daß die VietnamesInnen bereits am Samstag angegriffen wurden. Die Feuerwehrzentrale, die um 21.51 Uhr um Polizeischutz gebeten hatte, da sie so die Löscharbeiten nicht durchführen konnte, gab dabei zugleich dem Lagezentrum der Polizei die Information, daß sich noch vietnamesische BewohnerInnen in dem brennenden Haus befänden.
Die Angriffe laufen am Abend weiter. Der Berichterstatter der „Berliner Zeitung“ schreibt dazu, das Bild sei von angereisten „Profinazis und Skinheads“ bestimmt gewesen. »Die Gewalt von der Brücke ist nicht ungestüm und spontan. Alles hört auf ein unsichtbares Kommando.« Um 21.00 Uhr ziehen die Polizisten vor dem Haus plötzlich ab«.1 „Doch zunächst hält die Polizei die Gewalttäter mit Schlagstöcken und Wasserwerfern im Klammergriff – bis kurz vor zehn Uhr nachts: Die Polizei damit beginnt, alle Einheiten abzuziehen (…) In wenigen Minuten sind rund um das Heim kein Wasserwerfer, kein Polizeiwagen und kein einziger Polizist mehr zu sehen. Nur auf der Fußgängerbrücke schauen etwa 50 alleingelassene Polizisten dem Schauspiel verängstigt zu.“ (Berliner Zeitung vom 26.8.1992) Die AngreiferInnen sind überrascht und halten dies zunächst für eine Falle. Doch kurz darauf fliegen die ersten Brandbomben in das ungeschützte Haus. Der RTL-Bericht spricht von 800 angreifenden Rechten unter den Anfeuerungsrufen von 3000 AnwohnerInnen.
Zwei Stunden lang ist die Polizei nicht im Einsatz. Die Feuerwehr, die bereits seit 21.44 Uhr vor Ort ist, kann erst gegen 23.00 Uhr mit den Löscharbeiten beginnen. Daß die Verantwortlichen nicht ganz so hemmungslos vor der Öffentlichkeit lügen können, ist u.a. der Anwesenheit eines ZDF-Kamerateams zu verdanken, das zusammen mit den vietnamesischen Familien und einigen Antifas um sein Leben bangen mußte. Buchstäblich in letzter Minute gelingt es den Eingeschlossenen, die Tür zum Dach aufzubrechen. Dort müssen sie noch befürchten, von Angreifern vom Dach gestoßen zu werden. Die wichtigsten Verantwortlichen, der Rostocker Polizeichef und der Leiter des Landeskriminalamts in einer Person, Siegfried Kordus, und der Innenminister Lothar Kupfer sind in der entscheidenden Phase nicht verfügbar. Kordus wird von seinem Vize Jürgen Deckert vertreten2Der stellvertretende Polizeidirektor Deckert, der Kordus bei dessen Abwesenheit am Montagabend vertrat, äußerte zum fehlenden Schutz für die Feuerwehr: Sie sei »zu einem üblichen Brandeinsatz gefahren«, dies laufe immer ohne Polizeischutz. . Der polizeiliche Notruf ist über zwei Stunden nicht erreichbar. Das ZDF-Fernsehteam verfügt über Funktelefon und kann nach den vergeblichen Versuchen, die Rostocker Polizei zu erreichen, die Polizei in Hamburg und Berlin informieren. Mittlerweile ist das Einsatzprotokoll der Feuerwehr, die sich die Verantwortung über die Vorgänge nicht anhängen lassen will (dazu gibt es auch keinen Anlaß) veröffentlicht worden. Damit liegt eine minutiöse Darstellung des Ablauf zwischen 21.00 und 24.00 Uhr vor. Diese deckt sich mit den uns vorliegenden AugenzeugInnenberichten. Zudem haben verschiedene Feuerwehrleute in der Presse über den Hergang berichtet. Der erste Notruf bei der Feuerwehr geht um 21.38 Uhr ein, danach klingeln die Telefone eine halbe Stunde lang. Um 21.44 Uhr treffen die ersten Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr ein. Ohne Polizeischulz schaffen sie es nicht, durchzukommen. Ihre Zentrale gibt diese Information gleich an den Lagedienst der Polizei weiter. Als es ihnen gelingt, einige wenige Räume im Erdgeschoß nach BewohnerInnen zu durchsuchen, werden sie von mit Eisenstangen und Baseballschlägern bewaffneten Angreifern zum Rückzug gezwungen. Immer wieder geht der Hilferuf um Schutz an die Polizei. Erst um 22.58 Uhr kann die Feuerwehr mit den Löscharbeiten beginnen, nachdem eine Polizeikette vor dem Haus aufgezogen ist, übrigens nach Feuerwehrangaben ohne Schutzuniform mit mürben Schutzschildern.
Nicht alle VietnamesInnen fanden in dieser Nacht Platz in den Bussen, die sie an einen sicheren Ort bringen sollten. Eine halbe Stunde standen sie in einem Wäldchen, doch kein Bus kam, um sie in Sicherheit zu bringen. Sie flohen zurück in das brennende Haus, so wenig vertrauten sie dem Schutz der Polizei. Die Feuerwehr mußte sie erneut aus dem Gebäude bringen.
Dienstag, 25.8.: Erst am Dienstag fordert der Landesinnenminister Hilfe von anderen Bundesländern an. Es kommen Einheiten aus Sachsen-Anhalt, Schleswig-Hostein, Niedersachsen, NRW und BGS-Einheiten. An diesem Abend geht die Polizei energischer vor und zeigt, daß sie trotz angereister rechter Hooligans (an dem Abend fand ein Fußballspiel Hansa Rostock gegen Bremen statt) das Heft in der Hand hat. Das Einsatzkonzept ist offensichtlich auf Verhinderung weiterer Ausschreitungen umgestellt worden. Die Berliner Einheit, 80 Beamte der Einsatzbereitschaft 11 der Direktion l, wissen sofort, wie sie ihren Auftrag, Objekte zu schützen, umzusetzen haben: Sie wollen gleich am Dienstag Abend den Treffpunkt Rostocker AntifaschistInnen, das Jugendzentrum in der Innenstadt, stürmen. Der Rostocker Einsatzleiter hat größte Schwierigkeiten, sie davon abzuhalten.
Kordus: ein geschulter Mann des BKA…
Siegfried Kordus, 54 jJahre alt, ist ein erfahrener Polizeioffizier. Seine jetzige [1992] Position ist Leiter des Landeskriminalamtes von Mecklenburg-Vorpommern. Bis einen Tag vor der antifaschistischen Demonstration in Lichtenhagen war er auch noch Leiter der Polizeidirektion in Rostock. Er war von 1959-1977 im höheren Polizeidienst in NRW, unter anderem in der Regional-Sonderkommission »Baader-Meinbof«. Er war mehrere Jahre in der Ausbildung für den höheren Polizei- und Verwaltungsdienst tätig. 1977 ging er zum Bundeskriminalamt. Seit 1981 war er bei der Sicherungsgruppe Bonn in Meckenheim, wo er Führungsaufgaben für den Schutz von ausländischen Gästen inne hatte, 1982 wurde er in Bonn Leiter des Referats für politische Ausländerkriminalität. Auch Unwissenheit über die politische Situation in Rostock kann man ihm nicht vorwefen. Im März 1992 -noch vor dem Pogrom also- veröffentlichte das Informationsreferat des Bonner Innenministeriums eine Broschüre zu Rechtsextremismus3„Aktuelle Fragen der inneren Sicherheit am Beispiel der Stadt Rostock“ in:“Wehrhafte Demokratie und Rechtsextremismus“, Hg. Bundesministerium des Innern, 1992. Darin findet sich ein Artikel des LtdKD Kordus, in dem es u.a. heißt: „Die zunehmende Ausländerfeindlichkeit richtete sich ebenfalls gegen die noch in Rostock lebenden vietnamesischen Bürger (…) Zusammenfassend kann gesagt werden, daß das rechtsextremistische Potential in Rostock in keiner Weise unterschätzt werden darf“.
… und eine Menge Widersprüche
- »Mit so vielen Randalierern haben wir nicht gerechnet«. Ein Mann vom BGS berichtete der Ostseezeitung, daß er »am Sonntag darüber informiert hatte, daß mit über 1000 Radikalen zu rechnen sei.« Er hatte entsprechende Informationen.4OZ vom 25.8.
- Kordus behauptet: »Nicht genügend Einsatzkräfte«. Der Polizeieinsatz vom Samstag wird im Nachhinein von den Verantwortlichen als »Polizeipanne« dargestellt. Vergeblich hätte die Polizei in der Nacht von Samstag auf Sonntag versucht, eine Hundertschaft zusammenzutrommeln. In Mecklenburg-Vorpommern hätten nur wenige Polizisten einen Telefonanschluß und könnten somit erreicht werden. Gefangene Antifas sahen Montagabend um 19.00 Uhr bei ihrer Freilassung mindestens zwei Sondereinheiten aus Schwerin und Hamburg (s. Presse-Erklärung der Gefangenen). Die „Berliner Zeitung“ zum Montagabend: „»Von wegen zu wenig Leute«, ereifert sich ein Polizist in der Kantine der Einsatzzentrale. »Wir stehen seit vier Stunden hier rum und frieren.« Im Fernsehen läuft Tagesthemen extra« (…) Fein säuberlich aufgereiht stehen auf dem Hof mindestens 20 Mannschanswagen. Die Plastik-Rüstungen der Spezialkämpfer liegen zwischen den Autos auf dem Boden.“
- Kordus behauptet am Montagabend: »In der gesamten Bundesrepublik gibt es keine Unterstützungskräfte mehr.« Bei den Recherchen der „Berliner Zeitung“ stellte sich heraus, daß weder an die Berliner Polizei noch an die von Schleswig- Hostein ein Amtshilfeersuchen gestellt worden war. Hilfe von der Berliner Polizei wurde erst Dienstag um 19.00 Uhr angefordert. Mittwoch lag wieder ein Hilfeersuchen aus Rostock vor – Anlaß: die antifaschistische Demonstration am Samstag.
- Die Abwesenheit der Polizeikräfte vor dem Haus begründet Kordus mit Schichtwechsel.
- Kordus behauptet, die Polizei habe nichts von Menschen im brennenden Haus gewußt.
- Kordus behauptet, der Anruf der Feuerwehr wäre erst um 22.16 Uhr erfolgt (laut Feuerwehr 21.51 Uhr). »PKWs und Schaulustige versperrten den Weg.« Bis dahin hätte der Einsatzteiter vor Ort gemeldet, die Lage sei »nicht kompliziert« – obwohl schon um 21.30 Uhr die Flammen aus der ersten Etage des Gebäudes schlugen,
- Bereits um 22.35 sei ein vollständiger Schutz der Feuerwehr gewährleistet gewesen. Das Funkprotokoll der Feuerwehr belegt, daß sie erst knapp vor 23.00 Uhr damit beginnen konnten, VietnamesInnen, die sich zum Teil in ihren Wohnungen verbarrikadiert hatten, in Sicherheit zu bringen und mit den Löscharbeiten zu beginnen.
- Seine Abwesenheit vor Ort begründet Kordus mit einem »Hemdwechsel«. Der SPD-Fraktionschef Harald Ringstorff behauptet, Kordus angerufen zu haben und der habe geschlafen.
- »Keine Videoaufnahmen«? Kordus erklärte in den NNN vom Montag, dem 24. August, daß den bis Sonntag Mittag erfolgten zehn Festnahmen nach der Auswertung von Fotos und Videofilmen weitere folgen würden. Für die Zeit des Brandes schreibt die Zeitung „Der Spiegel“, daß die Kamera des „Doku-Trupps“ der Hamburger Polizei durch einen Steinwurf außer Betrieb gesetzt worden sei. Dies ereignete sich genau an dem Abend, an dem die Polizei für mehrere Stunden abgezogen wurde. »Kripo wertet Videofilme aus« verkündet die Ostseezeitung vom 27. August. »In Rostock wurden laut Aussage des Innenministeriums auch einige Bänder mit ‚handelnden Personen‘ gedreht.«
Der Anti-Antifaschismus in Aktion
Unmißverständlich war auch die wütende Hetze gegen die antifaschistische Demonstration am folgenden Samstag in Lichtenhagen. Es hieß in den Medien, daß der »Invasion von rechts nun die Invasion von links« folgen würde und die Rostocker BürgerInnen im besonderen wurden aufgefordert, dieser Demonstration fernzubleiben. Ein Bürgerkriegsaufgebot von 3.400 Polizeibeamten gegen die antifaschistischen DemonstrantInnen machte allen unmißverständlich klar, wo diese »Demokratie« ihren Feind nach wie vor sieht, nämlich links. Erwünscht war eine Schlacht mit der Polizei, um unter Verwendung der alten bundesrepublikanischen Geschichtsklitterung über die Bedrohung des demokratischen Staates von links und rechts, eine Verschärfung der Sicherheitsgesetze zu rechtfertigen. Als eigentliche Bedrohung waren in den meisten Berichterstattungen die »linken Autonomen« ausgemacht, was durch das Großaufgebot der Polizei bestätigt schien. Eine Schlacht am gleichen Orte des Pogroms hätte dieser Propagandalüge die notwendigen Bilder zugefügt und den Weg zur schnellen Verschärfung der Sicherheitsgesetze geöffnet. Dass dieser Plan mißlang, ist ausschließlich dem politischen Bewußtsein der 20.000 DemonstrantInnen zu verdanken.
Die Rostocker Neonazis
Die Struktur organisierter Neonazis in Rostock ist, gemessen an anderen Städten der ehemaligen DDR, nicht besonders ausgeprägt gewesen. Am 13. Juni dieses Jahres hielt die „Deutsche Volksunion“ (DVU) eine Veranstaltung in der Rostocker Innenstadt ab. Damals zeichnete sich die Rostocker Polizei unter der Einsatzleitung von Jürgen Deckert durch besonders rücksichtsloses Vorgehen gegen die antifaschistischen GegendemonstrantInnen aus.
Ein Brennpunkt neonazistischer Organisierung war seit einiger Zeit in den Hochhausvierteln um Lichtenhagen auszumachen. Neonazis der „Deutschen Alternative“ (DA) werben ihren Anhang durch Neonazi- Skinheadkonzerte und bei Hansa Rostock, die „Jungen Nationaldemokraten“ (JN) rekrutieren seit einiger Zeit im Lichtenhagener Nachbarbezirk Lütten Klein. In Lichtenhagen selbst gab es im Vorfeld des Pogroms mehrere BewohnerInnenversammlungen, deren TeilnehmerInnen sich über die Zustände vor der ZAst beklagten. Um diesen Unmut zu schüren, griff im Mai dieses Jahres die „Hamburger Liste für Ausländerstopp“ (HLA) ein. Es tauchte jemand im Jugendclub »Max Reichpietsch« in Groß Klein auf und stachelte die Jugendlichen an, die HLA-Flugblätter »Rostock bleibt deutsch« flächendeckend in die Briefkästen zu stecken. Der Jugendclub gilt vor Ort als ein Sammelpunkt rechter Jugendlicher und neonazistischer Aktivisten. Unterzeichnet waren diese Hetzschriften von Michael Andrejewski, der seine neonazistische Laufbahn bei der JN begann. Die HLA steht der NPD nahe. Für kurze Zeit waren zwei Kühnen-Gefolgsleute – Christian Grabsch und Ulrich Thetard – im Vorstand der HLA vertreten gewesen, mußten aber als bekannte Nationalsozialisten von diesem öffentlichen Amt zurücktreten. Die guten Kontakte aus Kühnens ANS-Zeit wurden auch zur „Nationale Liste“ (NL) von Christian Worch hinübergerettet. Absprachen zwischen HLA und NL finden auch heute [1992] statt. Der Einfluß von organisierten Neonazis ist in letzter Zeit in Mecklenburg- Vorpommern deutlich angewachsen. So soll auch das Neonazi-Skin-Netzwerk „Blood & Honour“ hier AnängerInnen und UnterstützerInnen haben.
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- 1„Doch zunächst hält die Polizei die Gewalttäter mit Schlagstöcken und Wasserwerfern im Klammergriff – bis kurz vor zehn Uhr nachts: Die Polizei damit beginnt, alle Einheiten abzuziehen (…) In wenigen Minuten sind rund um das Heim kein Wasserwerfer, kein Polizeiwagen und kein einziger Polizist mehr zu sehen. Nur auf der Fußgängerbrücke schauen etwa 50 alleingelassene Polizisten dem Schauspiel verängstigt zu.“ (Berliner Zeitung vom 26.8.1992)
- 2Der stellvertretende Polizeidirektor Deckert, der Kordus bei dessen Abwesenheit am Montagabend vertrat, äußerte zum fehlenden Schutz für die Feuerwehr: Sie sei »zu einem üblichen Brandeinsatz gefahren«, dies laufe immer ohne Polizeischutz.
- 3„Aktuelle Fragen der inneren Sicherheit am Beispiel der Stadt Rostock“ in:“Wehrhafte Demokratie und Rechtsextremismus“, Hg. Bundesministerium des Innern, 1992
- 4OZ vom 25.8.
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