»Reichsbürger« schweigt

Stuttgart-Stammheim: Prozess wegen versuchten Mordes nach Razzia im baden-württembergischen Boxberg. Angeklagter schoss SEK-Beamte an

Der Fall zeigt, wie gefährlich die wachsende Szene der sogenannten Reichsbürger ist: Vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart hat am Mittwoch ein Prozess gegen den 55jährigen Ingo K. begonnen, der zu dieser Szene gerechnet wird. Dem wegen diverser Gewaltdelikten vorbestraften Kampfsporttrainer wird vorgeworfen, am 20. April 2022 mit einem Schnellfeuergewehr aus seiner Wohnung im badischen Boxberg heraus auf ein SEK der Polizei geschossen und dabei zwei Beamte verletzt zu haben. Die Generalbundesanwaltschaft, die das Verfahren wegen der besonderen Bedeutung des Falles an sich gezogen hatte, wirft dem Angeklagten unter anderem versuchten Mord vor.

»Reichsbürger« zeichnet unter anderem aus, dass sie die Existenz oder die Legitimität der BRD und ihrer Gesetze nicht anerkennen. In der Anklageschrift heißt es entsprechend, der Mann aus Boxberg vertrete eine »Reichsbürger«-Ideologie, »leugnet die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und erkennt hoheitliche Befugnisse ihrer Repräsentanten nicht an«.

Am 20. April 2022 war die Polizei am frühen Morgen mit 14 Beamten angerückt, um die Wohnung des Mannes zu durchsuchen. Ihm sollte eine Glock-Handfeuerwaffe entzogen werden, deren Besitz ihm die Stadt Bad Mergentheim im Jahr 2006 erlaubt hatte, was jedoch durch das Landratsamt des Main-Tauber-Kreises 2021 widerrufen worden war. Der Mann sei den Beamten »suspekt« geworden. Auch der Verfassungsschutz soll K. im Visier gehabt haben. Die Pistole wollte der Mann jedoch nicht abgeben.

Bei der Razzia habe der Angeklagte durch die fast komplett heruntergelassenen Rolläden im Wohnzimmer und im Schlafzimmer zahlreiche Schüsse auf die Beamten abgefeuert. Dabei habe er mehrfach die Position gewechselt, um die nach Deckung suchenden Beamten zu treffen. Einen Polizisten trafen Geschossteile in beide Beine, ein zweiter erlitt leichte Verletzungen am Ellenbogen. Erst nach zwei Stunden hatte der Mann schließlich aufgegeben, im Haus brach ein Feuer aus. In dem ausgebrannten Gebäude fanden Ermittler ein begehbares Waffenlager mit weiteren Schusswaffen, darunter drei vollautomatische Gewehre und zwei Maschinenpistolen, mehr als 5.000 Schuss Munition und Waffenzubehör.

Während der Razzia und des Schusswechsels brach ein Feuer aus (Boxberg, 20.4.2022)

Verhandelt werden soll an mindestens 27 Prozesstagen bis zum Herbst im streng gesicherten Gerichtsgebäude Stuttgart-Stammheim. Die Anwältin des 55jährigen erklärte am ersten Verhandlungstag, ihr Mandant werde sich zwar zu seinem Lebenslauf, nicht aber zum Tag der Schüsse äußern. Er habe bereits mit einem Gutachter darüber gesprochen. Das reiche zunächst aus, so die Verteidigerin.

Zuvor war vor eineinhalb Wochen in Stuttgart-Stammheim ein mutmaßlicher »Reichsbürger« wegen versuchten Mordes zu zehn Jahren Haft verurteilt worden. Der 62jährige war im südbadischen Efringen-Kirchen vor gut einem Jahr zunächst vor mehreren Verkehrskontrollen geflohen und dann auf einen Polizisten zugesteuert, den er mit seinem Wagen erfasste und schwer verletzte. Jenes Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Bundesweit schätzten staatliche Stellen die Zahl der »Reichsbürger« und »Selbstverwalter« für das Jahr 2021 auf rund 21.000. In Baden-Württemberg gehören der Szene laut dem Inlandsgeheimdienst etwa 3.800 Personen an. Zehn Prozent von ihnen gelten als gewaltbereit. Dabei bestehen Verbindungen in die Neonaziszene. So auch im Fall des Angeklagten aus Boxberg. So soll es geheime Treffpunkte mit Reichskriegsflaggen, eine vermutliche Neonazigaststätte am Waldrand und abgelegene Aussiedlerhöfe mit Verbindungen zur »Reichsbürger«-Szene geben, wie der SWR am 20. Mai 2022 online berichtete. Demnach taucht der Name von Ingo K. in Verbindung mit bekannten Größen der Neonazi-, »Querdenker«- und »Reichsbürger«-Szene auf.