Solidaritätskampagne mit Betroffenen rechter Gewalt

Die Bilder und Videos von Faschist*innen, die am 26. August 2018 und den darauffolgenden Monaten in Chemnitz auf offener Straße Jagd auf Migrantisierte und Geflüchtete machten, gingen durch die ganze Welt. Im Nachgang versprachen Politiker*innen eine schnelle Überführung der Angreifer und sprachen ihre Solidarität mit den Betroffenen aus. Passiert ist aber, wie so oft, wenig. Faschist*innen konnten ihre Hegemonie in Chemnitz festigen und rechte Gewalt bleibt in Sachsen Kontinuität. Der parlamentarische Arm der Rechten in Form der AfD liegt aktuell bei den Wahltrends an erster Stelle.

Die Betroffenen von Chemnitz 2018 wurden alleine gelassen. Die sächsischen Gerichte scheinen, in all der Zeit, ein geringes Interesse daran zu haben die Prozesse durchzuführen. Von den 27 angeklagten Faschisten befinden sich zwei auf der Flucht und sind untergetaucht. Circa 30 Betroffene werden als Zeug*innen und in der Nebenklage bei den anstehenden Gerichtsprozessen aussagen müssen.

Fünf Jahre lang mussten die Betroffenen warten. Fünf Jahre voller Unsicherheit und Enttäuschung. Fünf Jahre lang ohne einen Abschluss mit den traumatischen Ereignissen. Und dann, endlich, nach unzähligen Verschiebungen, wurden Ende 2023 überraschend die ersten Prozesstermine mitgeteilt. Im Kontext dieser Erfahrungen haben wir wenig Vertrauen darin, dass juristische Gerechtigkeit erfolgen wird. Wenn sie dies nicht bereits sind, werden sich diese Prozesse als eine Farce heraustellen.

Die Solidaritätskampagne „Chemnitz 2018: Kein Vergeben & Kein Vergessen!“ hat sich zusammengeschlossen, um die Betroffenen nicht alleine zu lassen, die sächsischen Verhältnisse zu kritisieren und bei rechter Gewalt nicht zu schweigen.

Chemnitz 2018: Verharmlost. Verdrängt. Vergessen.

Wir vergeben nicht. Wir vergessen nicht. Wir erinnern.

– Dezember 2023


Prozess verschleppt

Chemnitz: Mehr als fünf Jahre nach rassistischen Ausschreitungen beginnt die Verhandlung gegen sechs mutmaßliche Gewalttäter im Landgericht

Von Henning von Stoltzenberg

Mutet an wie eine Szene aus dem Film »Die Körperfresser kommen« – sind aber nur Teilnehmer des »Trauermarschs« für Daniel H. am 1. September 2018

Gezielte Desinformation und rechte Mobilisierung: Mehr als fünf Jahre sind nach den gewalttätigen rassistischen Ausschreitungen in Chemnitz vergangen. Am Montag begann endlich der erste Prozess vor dem Landgericht Chemnitz, es ging um einen Angriff auf Teilnehmer der »Herz statt Hetze«-Demonstration im September 2018. Die sechs aktuell Angeklagten sollen damals mit der gezielten Absicht, politische Gegner zu attackieren, um die Häuser gezogen sein, so die Anklage. Den Männern im Alter von 26 bis 44 Jahren wird Landfriedensbruch und Körperverletzung vorgeworfen. Doch es gab prompt Schwierigkeiten bei Prozessbeginn: Von den eigentlich sechs Angeklagten erschienen nur vier zum Prozess. Einer sei in einer Psychiatrie untergebracht, ein anderer vor Verbüßen einer Haftstrafe aus einem anderen Verfahren untergetaucht, so die Anwälte. Das Landgericht stimmte deshalb zu Prozessbeginn einem entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft zu, die Verfahren abzutrennen. Für den Prozess hat es zudem erhöhte Sicherheitskontrollen angeordnet.

Der Hintergrund der tagelangen Ausschreitungen war ein Streit mit tödlichem Ausgang am Rande eines Stadtfestes. In der Nacht zum 26. August 2018 wurde Daniel H. mit einem Messer getötet. Angeheizt von Gerüchten und vermutlich gezielter Desinformation in sozialen Netzwerken marodierten daraufhin Neonazis tagelang in den Straßen von Chemnitz und griffen wahllos Menschen an, die in ihrer Wahrnehmung einen migrantischen Hintergrund hatten oder als politische Gegner ausgemacht wurden. Die gewalttätigen Ausschreitungen hatten ihren Höhepunkt am 26. und 27. August sowie am 1. September, nachdem bekennende Neonazigruppierungen und die AfD bundesweit zu einem »Trauermarsch« mobilisiert hatten. Die Hinterbliebenen wehrten sich mehrfach gegen die Instrumentalisierung des Todes von Daniel H. durch die Neonazis.

Eine Gruppe, die aus Marburg zur Gegenkundgebung »Herz statt Hetze« angereist war, soll laut Anklage von der braunen Schlägertruppe an diesem Tag gejagt und verprügelt worden sein. Auf dem Rückweg zu ihrem Reisebus seien sie von einer Gruppe von 20 bis 30 vermummten Personen überfallen worden sein. Einen Mann jagten die Angreifer im Zuge des koordinierten Angriffs durch einen Park. Schon kurz darauf waren 27 Verdächtige ermittelt worden, darunter vorbestrafte Neonazis und Kampfsportler. Mittlerweile sind mehrere Verfahren gegen Geldstrafen eingestellt worden, oder weil die Beschuldigten in einem anderen Verfahren verurteilt wurden.

Dass auch in diesem Fall der Prozess so lange auf sich habe warten lassen, wird neben Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt auch von den Betroffenen kritisiert. Aus Sicht des Landgerichts in Chemnitz sei ein früherer Prozessbeginn nicht möglich, rechtfertigt eine Gerichtssprecherin die Verzögerung. Unter anderem die strengen Auflagen während der Coronapandemie hätten dazu geführt, hieß es in einer Stellungnahme.

Betroffene fühlen sich von den Tatverdächtigen bis heute bedroht. »Man kennt ja nicht nur ihre Namen, sondern sie kennen auch die Namen der Nebenkläger und Zeugen«, sagte einer von ihnen der HR-»Hessenschau«. Laut Berichten hatten manche der Opfer lange juristisch darum streiten müssen, dass ihre Kontaktdaten in den Gerichtsunterlagen aus Schutz vor weiteren Angriffen geschwärzt würden. Die Opferberatung Chemnitz warnt vor der direkten Wirkung auf die Täter, wenn nach Gewalttaten jahrelang keine juristische Aufarbeitung stattfindet. Das gebe ihnen das Gefühl, ihre Taten blieben ohne Konsequenzen.

Das Gefühl der Rechten, die Stadt gehöre ihnen, sei in Chemnitz auch nach 2018 hängen geblieben, befürchtete die Beratungsstelle. Einige Asylsuchende hätten nach der rassistischen Gewalt aus der Stadt wegziehen wollen. Aus den versprochenen Hilfen aus der Bundespolitik sei jedoch bis heute nichts geworden.


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