Prozess verschleppt
Chemnitz: Mehr als fünf Jahre nach rassistischen Ausschreitungen beginnt die Verhandlung gegen sechs mutmaßliche Gewalttäter im Landgericht
Gezielte Desinformation und rechte Mobilisierung: Mehr als fünf Jahre sind nach den gewalttätigen rassistischen Ausschreitungen in Chemnitz vergangen. Am Montag begann endlich der erste Prozess vor dem Landgericht Chemnitz, es ging um einen Angriff auf Teilnehmer der »Herz statt Hetze«-Demonstration im September 2018. Die sechs aktuell Angeklagten sollen damals mit der gezielten Absicht, politische Gegner zu attackieren, um die Häuser gezogen sein, so die Anklage. Den Männern im Alter von 26 bis 44 Jahren wird Landfriedensbruch und Körperverletzung vorgeworfen. Doch es gab prompt Schwierigkeiten bei Prozessbeginn: Von den eigentlich sechs Angeklagten erschienen nur vier zum Prozess. Einer sei in einer Psychiatrie untergebracht, ein anderer vor Verbüßen einer Haftstrafe aus einem anderen Verfahren untergetaucht, so die Anwälte. Das Landgericht stimmte deshalb zu Prozessbeginn einem entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft zu, die Verfahren abzutrennen. Für den Prozess hat es zudem erhöhte Sicherheitskontrollen angeordnet.
Der Hintergrund der tagelangen Ausschreitungen war ein Streit mit tödlichem Ausgang am Rande eines Stadtfestes. In der Nacht zum 26. August 2018 wurde Daniel H. mit einem Messer getötet. Angeheizt von Gerüchten und vermutlich gezielter Desinformation in sozialen Netzwerken marodierten daraufhin Neonazis tagelang in den Straßen von Chemnitz und griffen wahllos Menschen an, die in ihrer Wahrnehmung einen migrantischen Hintergrund hatten oder als politische Gegner ausgemacht wurden. Die gewalttätigen Ausschreitungen hatten ihren Höhepunkt am 26. und 27. August sowie am 1. September, nachdem bekennende Neonazigruppierungen und die AfD bundesweit zu einem »Trauermarsch« mobilisiert hatten. Die Hinterbliebenen wehrten sich mehrfach gegen die Instrumentalisierung des Todes von Daniel H. durch die Neonazis.
Eine Gruppe, die aus Marburg zur Gegenkundgebung »Herz statt Hetze« angereist war, soll laut Anklage von der braunen Schlägertruppe an diesem Tag gejagt und verprügelt worden sein. Auf dem Rückweg zu ihrem Reisebus seien sie von einer Gruppe von 20 bis 30 vermummten Personen überfallen worden sein. Einen Mann jagten die Angreifer im Zuge des koordinierten Angriffs durch einen Park. Schon kurz darauf waren 27 Verdächtige ermittelt worden, darunter vorbestrafte Neonazis und Kampfsportler. Mittlerweile sind mehrere Verfahren gegen Geldstrafen eingestellt worden, oder weil die Beschuldigten in einem anderen Verfahren verurteilt wurden.
Dass auch in diesem Fall der Prozess so lange auf sich habe warten lassen, wird neben Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt auch von den Betroffenen kritisiert. Aus Sicht des Landgerichts in Chemnitz sei ein früherer Prozessbeginn nicht möglich, rechtfertigt eine Gerichtssprecherin die Verzögerung. Unter anderem die strengen Auflagen während der Coronapandemie hätten dazu geführt, hieß es in einer Stellungnahme.
Betroffene fühlen sich von den Tatverdächtigen bis heute bedroht. »Man kennt ja nicht nur ihre Namen, sondern sie kennen auch die Namen der Nebenkläger und Zeugen«, sagte einer von ihnen der HR-»Hessenschau«. Laut Berichten hatten manche der Opfer lange juristisch darum streiten müssen, dass ihre Kontaktdaten in den Gerichtsunterlagen aus Schutz vor weiteren Angriffen geschwärzt würden. Die Opferberatung Chemnitz warnt vor der direkten Wirkung auf die Täter, wenn nach Gewalttaten jahrelang keine juristische Aufarbeitung stattfindet. Das gebe ihnen das Gefühl, ihre Taten blieben ohne Konsequenzen.
Das Gefühl der Rechten, die Stadt gehöre ihnen, sei in Chemnitz auch nach 2018 hängen geblieben, befürchtete die Beratungsstelle. Einige Asylsuchende hätten nach der rassistischen Gewalt aus der Stadt wegziehen wollen. Aus den versprochenen Hilfen aus der Bundespolitik sei jedoch bis heute nichts geworden.
Von Henning von Stoltzenberg in der jungen Welt-Ausgabe vom 13.12.2023
Verschwundener Neonazi-Kader: Wer sucht Steven Feldmann?
Keine Öffentlichkeitsfahndung nach untergetauchtem Neonazi-Kader geplant
Steven Feldmann ist 29 Jahre alt und militanter Neonazi. Vor rund einem Jahr erlangte er auch eine über die Szene hinausgehende Prominenz. Mehrere YouTuber luden den Neonazi in ihre Formate ein. Gangsterrapper und Food-Influencer quatschen freundlich mit dem Rechten. Was er dabei verbreitete: knallharten Rassismus und völkische Ideologie. Die YouTuber freuten sich über die Klicks. Und manche fanden auch Gemeinsamkeiten mit dem Neonazi, etwa wenn es um ihre Bilder von Ehre und Männlichkeit ging. Feldmann erhielt den Spitznamen »Habibi Steven« (Habibi, arabisch für Schatz, Freund, Liebling). Für Aufsehen sorgte auch eine teilweise aus Migranten bestehende Gruppe in Dortmund, die Feldmann als ihr Idol betrachtete. Die Gemeinsamkeit der jungen Männer: eine Leidenschaft für Kampfsport und die Ablehnung jeglicher sexueller Vielfalt. Die Gruppe ist für mehrere gewalttätige Übergriffe verantwortlich, unter anderem im März auf ein besetztes Haus in Bochum. An dem Haus hinterließen sie auch ein Graffiti mit der Forderung nach Freiheit für Feldmann. Dieser saß damals in Untersuchungshaft.
Feldmann kam bald frei und ist es immer noch.
Und das ist ein Problem. Eigentlich sollte der Neonazi nämlich vor einem Monat eine Haftstrafe antreten und seit einer Woche als Angeklagter in Chemnitz vor Gericht stehen. Steven Feldmann beschränkt seine neonazistischen Aktivitäten nicht auf das Ruhrgebiet. Im Spätsommer 2018, als es in Chemnitz rassistische Ausschreitungen gab, reiste Feldmann mit seinen Dortmunder Kameraden nach Sachsen. Gemeinsam mit anderen Neonazis soll er im Anschluss an eine rechte Großdemo versucht haben, Nazi-Gegner*innen anzugreifen. Deswegen sollte nun gegen Feldmann und fünf weitere Neonazis verhandelt werden.
Dass der Dortmunder in Chemnitz auf der Anklagebank sitzen würde, war seit mehreren Wochen unwahrscheinlich. Denn eigentlich müsste Steven Feldmann gerade im Gefängnis sitzen. Gefährliche Körperverletzung, Körperverletzung, Betrug, Beleidigung und Bedrohung haben dem 29-jährigen eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten eingebracht. Doch Habibi Steven trat die Haftstrafe nicht an. Dem Dortmunder »Nordstadtblog« erklärte die Staatsanwaltschaft Ende November, dass man einen Vollstreckungshaftbefehl gegen Feldmann erlassen habe.
Rechte Netzwerke
Habibi Steven ist nicht nur als Gast von anderen in den sozialen Medien aktiv. Bis zu seinem Haftantritt postete er auch selbst fleißig auf Instagram. Von einer Abschiedsfeier im selbsternannten Nazi-Kiez Dortmund-Dorstfeld war in seinen Posts ebenso die Rede, wie von einer letzten Rundreise zu Kameraden in Serbien, Bulgarien und einem Ausflug nach Belgien und Frankreich. Feldmanns letztes Posting, bevor es eigentlich in die Justizvollzuganstalt hätte gehen sollen: »Morgen ist dann der Tag der Tage, dann wird man hier erst mal nichts von mir lesen und hören. Bis bald.«
Was als Abschiedspost ins Gefängnis gelesen werden konnte, muss heute ganz anders verstanden werden. Feldmann ist untergetaucht. Ein Neonazi, mit einer langen Vorstrafenliste und Szenekontakten in ganz Europa ist von der Bildfläche verschwunden. Das bereitet auch der Linke-Bundestagsabgeordneten Martina Renner Sorgen: »Seine gute Vernetzung verdankt Steven Feldmann besonders seiner Rolle im neonazistischen Kampfsport um den »Kampf der Nibelungen« unter Einbindung von alt bewährten Hammerskin-Strukturen.« Es sei anzunehmen, »dass dieses Netzwerk trotz Verbot immer noch tragfähig ist, um Feldmann unter den Augen der Behörden ein Untertauchen zu ermöglichen«. Wohin Feldmann untergetaucht ist, darüber gibt es nur Spekulationen. Dass die Dortmunder Nazi-Szene über Kontakte verfügt, die ein Untertauchen möglich machen, darf allerdings zweifellos angenommen werden. Von Kämpfern in neonazistischen Bataillonen in der Ukraine, über nordeuropäische Rechtsrocker bis zu faschistischen Politikern in Griechenland hat man in Dortmund Kontakte. Auch in der ganzen Bundesrepublik ist man vernetzt. Wozu Neonazis die Illegalität nutzen können, dafür gibt es zahlreiche Beispiele. Sie reichen von der Verbreitung in Deutschland illegaler Propaganda bis zum Kerntrio des NSU und seinen aus der Illegalität begangenen Morden.
Für die Fahndung nach Steven Feldmann ist die Polizei Dortmund zuständig. Von dort heißt es gegenüber »nd«, dass man keine Öffentlichkeitsfahndung nach dem Neonazi plane. Eine internationale Fahndung befinde sich in der »Prüfung«. Auf weitere Fahndungsbemühungen könne man »nachvollziehbarer Weise nicht näher eingehen«, diese dauerten aber an. Für Martina Renner ist der Fahndungsdruck der extremen Rechten gegenüber zu gering. Derzeit gäbe es 780 offene Haftbefehle gegen Neonazis und 212 gegen sogenannte Reichsbürger. »Dagegen steht kein einziger Fall bei dem mir eine Öffentlichkeitsfahndung bekannt ist und obwohl eine nicht unerhebliche Zahl ins Ausland abgetaucht ist und teilweise auch der Aufenthaltsort bekannt ist, passiert zu wenig Richtung europäischer oder internationaler Haftbefehl.« so die Bundestagsabgeordnete gegenüber »nd«. Allzu intensiv scheint auch die Suche nach Steven Feldmann bislang nicht zu sein. Einen Monat hatte er schon Zeit, um sich im Untergrund ein Netzwerk aus Unterstützer*innen aufzubauen.
Von Sebastian Weiermann am 19.12.2023 auf neues deutschland