Schon länger ist es modisch, die revolutionäre Linke als antisemitisch zu diffamieren. In den letzten Jahren ist es mehr daraus geworden: der Begriff ist eine Waffe, mit welcher kriminalisiert und ausgegrenzt wird und die den rechtesten Kräften ermöglicht, politisch korrekt gegen «Islamisierung» zu hetzen.
Antisemitismus existiert und er bleibt bis heute eine gewaltige Kraft, die wie Rassismus erniedrigt, verletzt und diskriminiert und dabei auch noch die reaktionäre Seite stärkt. Für uns Kommunist_innen ist es eine Selbstverständlichkeit, gegen Rassismus und Antisemitismus aufzustehen, die historische Konstruktion von Rasse in der Luft zu zerreißen und für die Überwindung von Stereotypen und Vorurteilen zu streiten.
Zugegebenermaßen sind wir in einer reaktionären Gesellschaft sozialisiert worden und das bringt mit sich, dass in Fragen Rassismus und Antisemitismus Luft nach oben gegeben ist: unbewusste Aussagen, die auf verinnerlichte Vorurteile schließen lassen, sind und waren auch unter Kommunist_innen anzutreffen. Und falsche Zuschreibungen über Juden und Jüdinnen finden sich in der Geschichte der Arbeiter_innenbewegung selbst dort, wo man sich theoretisch reflektiert gibt. Antisemitische Vorurteile können tatsächlich überall auftreten. Diese Banalität ist heute allerdings nicht sehr aussagekräftig, nicht weil um die exakte Definition des Begriffes seit jeher gerungen wird, sondern weil es im Umgang mit Antisemitismus zu verschobenen Wahrnehmungen kommt.
Unser politisches Bekenntnis beinhaltet die Absicht, Vorurteile und Ausgrenzungen zu überwinden. Der Wille zur Selbstreflexion und Reflexion der gesellschaftlichen Bedingungen, ist Grundlage und Ausgangspunkt für Veränderung. Die Frage, ob wir das genügend umsetzen, ist Teil dieser Selbstreflexion. Doch um diese geht es aktuell nur selten. Es ist die Absurdität der Gegenwart, die dazu führt, dass überzeugte Antisemit_innen mit dem Finger auf die revolutionäre Linke zeigen und behaupten können, wir seien die wahren Antisemit_innen und dabei von Politik, Medien und dem Repressionsapparat freudig unterstützt werden.
Während Hass auf Juden und Jüdinnen tatsächlich zunimmt – Verschwörungstheorien, die sich auf Social Media Seiten der Mitglieder der AfD oder SVP täglich manifestieren –, befreit sich die Diskussion über Antisemitismus seit vielen Jahren jeglicher Vernunft. Die politische Diskussion wird verhindert und kriminalisiert. Davon sind Genoss_innen in Deutschland stärker betroffen als in der Schweiz, aber hier ist es auch spürbar. Wer den heute Israel prägenden Zionismus als eine ethno-religiöse Bewegung definiert, der systematisch Menschen mit jüdischen Wurzeln privilegiert und alle anderen rassistisch abwertet, ist davon betroffen. Natürlich gibt es sehr legitime historische Gründe für das Fluchtprojekt, der Holocaust darf nicht verharmlost werden. Der Zionismus als ideologische Grundlage eines Staates ist jedoch die konkrete Umsetzung des Fluchtprojekts, und die kann durchaus in Frage gestellt werden, gerade weil darin der Ausschluss Programm ist.
Ein Begriff zur Läuterung der Rechten
Mit der bedingungslosen Unterstützung Israels wird vor allem Außenpolitik betrieben. Dazu gehört neben der praktischen Unterstützung auch der politische Zuspruch, dass man Israel vor internationalem Recht und moralischer Anklage stützt. Dafür erhält man im Westen die Absicherung, dass sich keine andere Regionalmacht die Situation zunutze macht. Imperialismus geht über Leichen, das ist nicht nur bei Israel der Fall, der Krieg der USA gegen Afghanistan oder den Irak war da nicht anders.
Spezieller ist die innenpolitische Dimension des sog. Nahostkonflikts in den Nato-Staaten. Mit der Bewaffnung des Begriffs Antisemitismus wird der Rechten der Weg auf die verfassungskonforme politische Bühne geebnet. Ausgewiesene Antisemit_innen, die sich durch tiefe Liebe zu Israel auszeichnen, sind zahlreich: Marine Le Pen, Andreas Glarner, Victor Orban oder der US-amerikanische Evangelikale Pat Robertson. Klassische Rassist_innen, die Juden und Jüdinnen dann besonders lieben, wenn sie in Israel leben und nicht in der Diaspora. Israel soll, in bester kolonialer Tradition, die Zivilisation gegen den Islam verteidigen. Weil diese neuen Anti-Antisemit_innen alles brennende Islamophobe sind. So hat beispielsweise die SVP im ersten Communiqué nach dem 7. Oktober nur in zwei Zeilen über den Angriff selbst gesprochen und im ganzen Rest des Textes gegen die verfehlte Einwanderungspolitik der Schweiz gehetzt. Reine Innenpolitik, reine Islamophobie, jedes Ereignis dient als Aufhänger für die gleiche Hetze.
Ähnliches spielt sich in den USA ab, insbesondere bei Trump. Allerdings scheint die Situation in den USA beachtlich wilder als in der Schweiz oder Deutschland, immerhin findet da täglich irgendwo eine Demonstration gegen die Waffenlieferungen der USA nach Israel statt. Vor allem junge Leute scheinen gegen die Propaganda zunehmend immunisiert zu sein. Der Generationenkonflikt spaltet auch die jüdische Community der USA. In den Protesten sind fast immer Leute aus jüdischen Organisationen anwesend. Diese linke, jüdische Kritik hat Tradition, die Zeitung «Jewish currents» existiert seit 1946, definiert sich als links und antizionistisch und denunziert nun schon seit vielen Jahren die Verwendung des Begriffs Antisemitismus als Waffe (the Weaponization of Antisemitism). Doch waren diese Stimmen marginalisiert, erst in den letzten Jahren erhalten sie eine gewisse Aufmerksamkeit, was immerhin leicht hoffnungsvoll stimmen kann.
Kriminalisierung des friedlichen Widerstands
In Deutschland hingegen ist kein Aufbrechen der Widersprüche zu beobachten. Hier erklärt der Bundestag Antizionismus zu Antisemitismus und gebietet, solches in der ganzen EU durchzusetzen. Seit 2019 wird Unterstützer_innen der BDS-Kampagne der Zugang zu öffentlichen Räumen verwehrt, man streicht ihnen Gelder oder blockiert Konten. Nun ließe sich über die BDS-Kampagne diskutieren, doch bewegt sie sich ganz klar im Rahmen des friedlichen Widerstandes und es gibt keine rechtliche Grundlage, sie zu verbieten. Deshalb erließ der Bundestag auch kein Gesetz, sondern eine Handlungsanweisung, die von den Bundesländern brav befolgt wird. Es trat auch keine einzige Person gegen diesen Beschluss auf, nur die AfD kritisierte ihn, allerdings als zu milde.
Dabei gibt es zahlreiche Stimmen, allen voran von Expert_innen des Holocausts, die Kritik an der Verknüpfung von Antisemitismus und Antizionismus üben. In der Konsequenz ist es heute schier unmöglich, sich mit Palästina zu solidarisieren, ohne beschmiert und diskriminiert zu werden, was zu Jobverlust oder zahlreichen Streichungen von Veranstaltungen führt. Beispielsweise Adam Broomberg, ein südafrikanischer Künstler, der von sich selber sagt, er stamme aus der Pfütze eines aschkenasischen jüdischen Genpools aus Litauen, dessen Verwandtschaft in Pogromen ausgemerzt worden ist: «Ich denke, Apartheid ist keine ausreichende Definition für das Ausmaß der Ausgrenzung, des Missbrauchs, der Verletzung der Menschenrechte und des täglichen, kaltblütig verübten Mords, staatlich sanktionierten Mords, der Pogrome und der absoluten Demütigung. So etwas habe ich in den zwanzig Jahren, die ich zur Hochzeit der Apartheid in Südafrika gelebt habe, nicht erlebt.» Doppelt und dreifach Experte und betroffen, würde man meinen, doch Deutschland weiss es besser. Das Ministerium hat sich im Fall Broomberg eingeschaltet und der «hasserfüllte Antisemit» war seinen Job los.
Noch surrealere Dimensionen nahm es kürzlich an, als die hochbetagte Holocaust Überlebende Marione Ingram ausgeladen wurde, an den Schulen Hamburgs über den Holocaust zu sprechen. Sie bekam zu hören, dass die AfD ihr Bild, wie sie vor dem Weißen Haus mit einem «Stop the Genocide»- Schild protestiert, verwenden würde. Wie würde die AfD dieses Bild verwenden können, fragte Ingram zurück und bekam keine Antwort. Vielleicht stimmt sogar, dass die Afd mit Imgrams Bild würde beweisen wollen, dass linke Überlebende des Holocausts die wahre Antisemit_innen sind. Doch geht Ingram davon aus, dass sie in Tat und Wahrheit nicht zu «ihrem Schutz» gecancelled wurde, sondern weil sie den Holocaust-Vergleich wagt: «Ich weiss, was die Kinder in Gaza durchmachen und das sage ich.» Sie seufzt ermüdet: «So viele Diskussionen um die Geschichtsaufarbeitung Deutschlands und das ist das Resultat.»
Misslungene Aufarbeitung der Geschichte
Aber was sich für unsere Seite dramatischer darstellt, als die beschriebene institutionelle Seite, ist die moralisch herausgeforderte revolutionäre Linke in Deutschland. Obwohl die Antideutschen als solche nicht mehr auftreten, haben sie doch tiefe Spuren im Bewusstsein hinterlassen. Samidoun erzählte an einer Aufbau-Veranstaltung vom Versuch, die Palästina-Solidarität aus dem revolutionären 1.Mai-Fest rauszuwerfen. Die Gruppen, die das forderten, argumentierten wie der deutsche Staat mit Antisemitismus und meinten damit die Kritik an Israel. Dabei sollte es eine Kernkompetenz der revolutionären Linken sein, Solidarität mit den strukturell diskriminierten Palästinenser_innen zu üben und die Politik von Staaten zu kritisieren. Wir Kommunist_innen sind nicht bescheiden, wir wollen Gleichheit und eine gerechte Gesellschaft, hier und überall. Vieles steht dem im Weg, auch der Zionismus. Dafür muss man nicht die gegenwärtige Situation des Krieges anschauen, die Zustände in «Friedenszeiten» sind völlig ausreichend.
Die beschriebene Situation in Deutschland können wir als Kampf der Herrschenden gegen die Linke verstehen: Wenn imperialistische Interessenspolitik im Gewand von Solidarität und Kampf gegen Antisemitismus daher kommt, Rechten das Wort gibt und uns Linken sowie den tatsächlichen Opfern den Mund verbietet, dann ist das scharfer, aber gewöhnlicher Teil der reaktionären Politik. Wir sind der Feind und wir wollen der Feind sein. Wenn sich hingegen die revolutionäre Linke daran beteiligt, dann ist das schmerzhaft und die Geschichtsaufarbeitung gründlich daneben gegangen.
Dieser Artikel erschienen in der aufbau-Ausgabe 116 (März/April 2024)
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