Landesweit Aufstände nach Tötung des 17jährigen Nahel. Macron beruft erneut Krisensitzung ein
Die Revolten nach der Tötung des 17jährigen Nahel durch einen Polizisten im Pariser Vorort Nanterre haben in der Nacht zu Freitag eine neue Dimension erreicht. Im ganzen Land kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden – mehrheitlich Jugendliche aus den verarmten Banlieues – und Einsatzkräften, die Tränengas und Gummigeschosse einsetzten. Zahlreiche Rathäuser und Polizeistationen wurden in Brand gesteckt, Supermärkte geplündert, Barrikaden errichtet und Bankautomaten gesprengt. In Pariser Nobelvierteln wurden Boutiquen von Louis Vuitton und weitere Luxusgeschäfte zerstört. Auch im Überseedepartement Guyana kam es zu Ausschreitungen, bei denen laut Franceinfo ein Mann durch eine verirrte Kugel ums Leben kam.
Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin teilte mit, dass etwa 900 Personen verhaftet und 249 Einsatzkräfte verletzt worden seien. In der Nacht zu Freitag waren landesweit 40.000 Polizisten sowie zusätzliche Spezialeinheiten des Militärs mobilisiert worden, um »eine dritte Nacht der Auseinandersetzungen zu verhindern«, erklärte Darmanin. Der Innenminister betonte, dass das Ausmaß der Gewalt derzeit über dem der Unruhen von 2005 liege. Damals hatte es wochenlange Aufstände gegeben, nachdem Zyed Benna und Bouna Traoré in Clichy-sous-Bois ums Leben gekommen waren. Diese Ereignisse führten erstmals zu öffentlichen Debatten über die geographische und soziale Ausgrenzung sowie die rassistische Stigmatisierung der Banlieues. Allerdings blieben konkrete Maßnahmen aus, und die Armut in den Vororten nahm stetig weiter zu.
Angesichts der Ereignisse verließ Präsident Emmanuel Macron am Freitag morgen vorzeitig den EU-Gipfel in Brüssel und berief ein Krisentreffen der Regierung ein. Premierministerin Élisabeth Borne sagte nach dem Treffen, man prüfe »alle Hypothesen mit einem vorrangigen Ziel: die Rückkehr der republikanischen Ordnung im gesamten Gebiet«. Die Verhängung des Notstands sei ebenfalls eine mögliche Maßnahme.
Antoine Léaument, Abgeordneter der linken Partei La France insoumise (LFI), verurteilte im Gespräch mit jW am Freitag die von Macron orchestrierte »staatliche Repression«. Er forderte die sofortige Abschaffung des 2017 eingeführten Gesetzes, das die Regeln für den Einsatz von Schusswaffen durch die Polizei gelockert hat. Léaument bezeichnete das Gesetz als »Lizenz zum Töten für Polizisten«.
Das UN-Menschenrechtsbüro forderte am Freitag die französische Regierung auf, sich um das Rassismusproblem innerhalb der Polizei zu kümmern. »Dies ist der Zeitpunkt für das Land, sich ernsthaft mit den tiefgreifenden Problemen von Rassismus und Diskriminierung in den Strafverfolgungsbehörden auseinanderzusetzen«, sagte eine Sprecherin in Genf.
Die rassistische Dimension des Polizeimordes spielt zweifellos eine bedeutende Rolle bei den Unruhen. Allerdings ist sie nur ein Ausdruck der zunehmenden staatlichen Repression in den Banlieues, die darauf abzielt, das Elend in diesen Vierteln aufrechtzuerhalten. Die aktuellen Ereignisse sind in erster Linie eine Revolte gegen die jahrzehntelange neoliberale Politik, die Macron seit 2017 mit beispielloser Härte gegen die Bevölkerung durchsetzt. Denn Rentenkürzungen und »Arbeitsmarktreformen« treffen vor allem die Jugend in den Banlieues und rauben ihnen jegliche Zukunftsperspektiven.
Kommentar des Autors Raphaël Schmeller (veröffentlicht am 30.06.2023)
Unerträgliche Normalität
Unruhen in Frankreichs Banlieues
Die Wut, die sich nach der Tötung von Nahel durch einen Polizisten in den Banlieues im ganzen Land entlädt, ist legitim und unvermeidbar. Ein 17jähriger wurde während einer simplen Verkehrskontrolle aus nächster Nähe hingerichtet, und das ist nicht der erste Vorfall dieser Art. Seit Jahrzehnten kommt es regelmäßig zu Polizeimorden in diesen Arbeitervierteln, die geographisch und sozial ausgegrenzt sowie rassistisch stigmatisiert werden.
Präsident Emmanuel Macron hat die tödlichen Schüsse des Polizisten als »unerklärlich« verurteilt. Doch sie sind nicht unerklärlich, sondern eine direkte Folge der neoliberalen Politik, die er und seine Vorgänger betrieben haben. Fast zwanzig Jahre nach dem Tod von Zyed Benna und Bouna Traoré in Clichy-sous-Bois im Jahr 2005, der monatelange Aufstände auslöste, hat sich die Situation dramatisch verschlechtert: Die Verarmung und Ausgrenzung der Banlieues hat zugenommen, während die staatliche Repression extrem gewachsen ist. Diejenigen, die wie Macron jetzt die Rückkehr zum Normalzustand fordern, verstehen nicht, dass schon der Normalzustand unerträglich und damit selbst das Problem ist.
Was kann nun getan werden, um diese Gewaltspirale zu durchbrechen? Zunächst müssen der Mörder und sein Kollege, der ihn ermutigt hat, auf den Jungen zu schießen, sofort suspendiert werden. Der Prozess darf nicht wie im Fall von Zyed Benna und Bouna Traoré nach zehn Jahren zu einem Freispruch führen. Die skandalösen Ermittlungen gegen Nahel wegen versuchten Totschlags müssen eingestellt und die Gewerkschaft France Police, die nach dem Vorfall die Kollegen beglückwünscht hat, muss aufgelöst werden. Ebenso muss das Gesetz von 2017, das die Regeln für den Einsatz von Schusswaffen durch die Polizei gelockert hat, abgeschafft werden.
Das sind jedoch nur kurzfristige Maßnahmen. Die Tötung von Nahel sollte dazu führen, die strukturell rassistische Institution der Polizei grundsätzlich zu hinterfragen. Solange die gesellschaftlichen Verhältnisse jedoch so sind, wie sie sind, wird das natürlich nicht geschehen. Denn das Handeln der Polizei in den Banlieues dient vorrangig dazu, das politisch gewollte Elend in diesen Vierteln aufrechtzuerhalten.
Den autoritären Kurs der Regierung kann daher nur eine umfangreiche soziale Bewegung stoppen – und Nahels Tod könnte der Funke sein, der zu ihrer Entstehung führt. Am Mittwoch abend organisierten beispielsweise Klimaschutzaktivisten der erst kürzlich verbotenen Gruppe Les Soulèvements de la Terre landesweite Proteste in Erinnerung an Nahel. Auch die Gewerkschaften haben sich mittlerweile zu dem Vorfall geäußert und eine Verbindung zwischen der Repression in den Banlieues und der Niederschlagung der Rentenproteste hergestellt. Es bleibt also zu hoffen, dass Nahels Tod nicht umsonst war.