Präsidentschafts- und Parlamentswahl in der Türkei

Am heutigen Sonntag, den 14. Mai 2023, findet in der Türkei die Präsidentschafts- und Parlamentswahl statt. Recep Tayyip Erdoğan will auch nach 20 Jahren als Präsident weiter regieren und schürt in gewohnter Manier die Stimmung in der Bevölkerung und überzog politische Gegner:innen mit weiterer Repression, was auch hierzulande zu spüren war.
Der Ausgang für Erdoğan und die AKP-geführte Regierung bei dieser sehr bedeutenden Wahl ist jedoch ungewiss; nach dem Erdbeben im Frühjahr und der anhaltenden Wirtschaftskrise und damit einhergehender Armut, die für immer Menschen existenzbedrohend wird, steht er mehr denn je in der Kritik. Hinzu kommt, dass mit Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) ein ernsthafter Kontrahent im Rennen ist, der von sechs Oppositionsparteien zur Wahl gestellt wird – auch die prokurdische HDP ruft zur Wahl des Herausforderers auf.

In Deutschland, wo mehr als ein Fünftel der Wahlberechtigten außerhalb der Türkei leben ist die Wahl bereits abgeschlossen, in der Türkei sind die Wahllokale heute bis 17 Uhr geöffnet. Die ersten Ergebnisse werden gegen 19 Uhr erwartet. Sollte die Wahl zu knapp für eine Entscheidung über das Präsident:innenamt ausgehen, steht am Pfingstsonntag die Stichwahl an.

Artikel aus der jungenWelt vom 13. Mai 2023:

Erdogan vom Thron stürzen

Endspurt für Linke

Ein Besuch in Türkisch-Kurdistan: Progressive Opposition kämpft vor Präsidentschaftswahlen auf dem Land um Stimmen

Die Stimmung ist aufgeheizt: »AKP, AKP!« ruft die Menschenmenge. Dann betritt Recep Tayyip Erdogan die Bühne, die Wahlkampfhelfer in der Innenstadt der türkisch-kurdischen Millionenstadt Van aufgebaut haben. Der Mann, der gerade hier in Türkisch-Kurdistan von vielen Menschen gehasst wird. Es ist Wahlkampfendspurt an diesem 5. Mai, und Erdogan ist im Feindesland, in einer Stadt, in der die allermeisten Menschen beim Einkaufen oder im Bus kurdisch und nicht türkisch sprechen; in der wie in allen Städten der Türkei aber ausschließlich auf türkisch unterrichtet wird. In Van erreichte die linke HDP (Demokratische Partei der Völker), in der sich viele Leute mit der kurdischen Freiheitsbewegung verbunden fühlen, bei den letzten Wahlen rund 80 Prozent. Um ausreichend Unterstützung für die Wahlkampfveranstaltung zu gewinnen, wurden für Erdogans Auftritt deshalb ganze Schulklassen angekarrt und mit AKP-Fahnen ausgestattet.

Erdogan versteht es bei seinem Auftritt in Van, den Gegner zu attackieren. Es geht wenig um Inhaltliches, wenig um seine eigene Partei, die nationalistisch-islamistische AKP, dafür viel um Feindbilder. An großen Leinwänden wird ein Wahlkampfspot der AKP abgespielt, in dem gegen Homosexualität gehetzt wird. Als der Spot endet, ruft Erdogan in die Menge: »Was bringt uns die CHP?« – »Homosexualität!« schallt es aus der Menge zurück, viele Leute strecken die Hände in die Luft und zeigen das islamistische Rabia-Zeichen oder den Wolfsgruß der türkischen Faschisten. Die sozialdemokratisch-nationalistische CHP ist die größte Oppositionspartei und stellt den einzigen Herausforderer für das Präsidentenamt: Kemal Kilicdaroglu. Er wird auch von den meisten Linken und Kurden unterstützt – wenn auch aus Pragmatismus. Für die Wahl an diesem Sonntag gilt für die meisten Menschen in Van und in anderen mehrheitlich kurdischen Städten: Hauptsache, Erdogan verliert.

Aufklärung und Wahlkampf im Umland der Stadt Van: Eine Unterstützerin der YSP im Tourbus

Erschwerte Bedingungen

Die AKP versucht seit Jahren, der Opposition das Leben so schwer wie möglich zu machen. Die HDP wurde schon im vergangenen Jahr mit einem Verbotsverfahren belegt, um sie im Wahlkampf auszubooten. Mit Erfolg. Denn die HDP hat zwar immer noch Millionen Unterstützende. Mit einer Partei, gegen die ein Verbotsverfahren läuft, zu den Wahlen anzutreten, ist aber freilich riskant. Im März dieses Jahres zog die Partei deshalb die Notbremse und beschloss, künftig auf der Wahlliste der kleineren Yesil-Sol Parti (Linke Grüne Partei, YSP) anzutreten. Was nicht ideal ist, weil die Yesil-Sol eigentlich eher urbane Wählerschichten im Westen der Türkei anspricht und viele Leute gerade im ländlichen Raum Türkisch-Kurdistans die Partei gar nicht kennen.

Seit März versuchen linke Oppositionelle, das zu ändern – bis zuletzt. Wahlkampfauftritt der YSP in einem kleinen Dorf im Umland von Van: Der Kleinbus der Partei wird, als er anhält, sofort von vielen Menschen umringt. In dem Dorf geht es – wie so oft auf dem Land – vor allem darum, die Leute zu informieren, wie das mit dem Wählen funktioniert. Und zu erklären, warum die HDP diesmal nicht antritt und was es mit der YSP auf sich hat. Manche der Dorfbewohner können nicht lesen und schreiben, weil die Region seit Jahrzehnten strukturell benachteiligt ist. Die YSP-Politikerin Leyla Balkan erklärt den Menschen deshalb, dass sie die Partei am Logo mit dem Baum und den grünen Blättern erkennen können, einem ähnlichen Logo, das auch von der HDP genutzt wird. Der Baum mit den Blättern ist für viele hier ein Symbol der Hoffnung.

Es ist eine Hoffnung, die das AKP-Regime schon oft zu zerstören versucht hat. Nachdem 2014 die Baris ve Demokrasi Partisi (Partei des Friedens und der Demokratie, BDP), die später in der HDP aufging, in Van stärkste Kraft geworden war, wurden in vielen Gemeinden der Region autonome Volksräte und Frauenhäuser aufgebaut. So auch in Muradiye, einer Kleinstadt am nordöstlichen Ufer des Vansees, einem der größten Kurdistans. Auch Balkan war damals dabei, sie wurde zur Bürgermeisterin von Muradiye gewählt. Aber wenig später von der türkischen Regierung abgesetzt wie so viele gewählte BDP- und HDP-Politikerinnen und Politiker. Der Vorwurf: Nähe zur bewaffneten Arbeiterpartei Kurdistans, der PKK. Die Menschen in Muradiye grüßen Balkan trotzdem liebevoll mit »Baskanim«, was soviel wie »meine Bürgermeisterin« bedeutet.

Ungewisse Zukunft

Mit ihr gemeinsam besuchen wir das Ayse-San-Frauenzentrum in Muradiye: Auf den Fotos an den Wänden des Zentrums hängen die Konterfeis von Vorkämpferinnen wie Rosa Luxemburg. Hier kamen Frauen aus der Stadt und den umliegenden Dörfern zusammen, um zu diskutieren oder gemeinsam ihre Zeit zu verbringen. Das Frauenzentrum war eine der ersten Einrichtungen, die geschlossen wurden, nachdem die Bürgermeisterin vom Staat abgesetzt worden war. Es ist erklärtes Ziel der YSP, das Zentrum nach der Wahl am Sonntag wiederzueröffnen.

Es ist beachtlich, mit wieviel Zuversicht, fast Trotz, die Aktiven und Kandidatinnen und Kandidaten der YSP die letzten Wahlkampftage bestreiten. Denn auch wenn sie in Van wohl hohe Zustimmungswerte einfahren wird – die Partei rechnet wieder mit rund 80 Prozent –, ist es unsicher, wie es nach der Wahl weitergeht. Denn die AKP hat mit der Absetzung von Bürgermeisterinnen wie Balkan schon einmal gezeigt, dass sie bereit ist, die bürgerlich-demokratischen Spielregeln einfach außer Kraft zu setzen, wenn es dem Machterhalt dient.

Für die Zeit nach der Wahl rechnen Beobachter und viele Menschen vor Ort mit Zwangsmaßnahmen und Gewalt. Bereits in den vergangenen Tagen kam es immer wieder zu Angriffen in verschiedenen Städten. AKP- und MHP-nahe Mobs zogen durch die Straßen, auf der Jagd nach Linken und Kurden. Und wahrscheinlich wird es auch zu weiteren Verhaftungswellen gegen progressive Oppositionelle kommen – nicht zuletzt der ehemalige HDP-Kovorsitzende Selahattin Demirtas sitzt bereits seit 2016 in Haft, in einem Typ-F-Gefängnis, wie Hochsicherheitsgefängnisse in der Türkei genannt werden. Leyla Balkan will sich von der Repression jedenfalls nicht einschüchtern lassen. »Erdogan wird auf jeden Fall verlieren«, sagt die Bürgermeisterin der Herzen und lacht. Dann wird sie ernst: »Die Frage ist nur, wie.«


An dieser Stelle möchten wir auf eine Veranstaltung hinweisen:

Verfolgung der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei

Am 14. Mai 2023 werden in der Türkei die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen abgehalten. Die Wahlen finden unter dem Eindruck des schweren Erdbebens vom Februar und einer wirtschaftlichen Krise statt, die Existenzbedrohung und massive Armut für den Großteil der Bevölkerung darstellt. Erdogan und das AKP/MHP Regime, das maßgeblich zu dieser Krise beigetragen hat, werden massiv in Frage gestellt. Als größter parlamentarischer Oppositionsblock, gestützt von einem breiten Parteienbündnis mit Erfolgsaussichten, hat sich die CHP mit ihrem Präsidentschaftskandidaten Kilicdaroglu in Stellung gebracht.

Diese Wahlphase läuft mit einem andauernden Krieg in Südkurdistan und Rojava, sowie Repression gegen die oppositionellen Parteien der YSP (Yesil Sol Parti) und der HPD (Demokratische Partei der Völker) ab. Die Angriffe auf Wahlkampfbüros und Demonstrationen, die Massenverhaftungen von 150 Politiker:innen, Journalist:innen, Jurist:innen und Aktivist:innen, sowie vereinzelte Entführungen von Aktivisti:innen zeichnen die Tage bis zu den Wahlen aus. Die Regierung – mit Polizei und Justiz – will die Wahlen durch Einschüchterungen und Kriminalisierung beeinflussen.

Die türkische Regierung, die sich seit einem Jahrzehnt in einer Krise befindet, will ihren Machterhalt sichern. Es ist davon auszugehen, dass diese Wahlen, wie in den vergangenen Jahren, repressiv und brutal ablaufen werden. Wie die AKP/MHP Regierung in und nach den Wahlen reagieren wird, wenn diese negativ für sie ausfallen, wird sich zeigen. Ob sich gesellschaftliche Dynamiken entwickeln und wie diese aussehen konnten ebenso.

Um die Wahlen in der Türkei zu verfolgen, laden wir am Wahltag zu einer Liveschaltung mit Diskussionen und Austausch ein, am 14.05.2023 ab 16 Uhr im Linken Zentrum Lilo Herrmann.