Anlässlich der Urteilsverkündung im „Antifa-Ost-Prozess“ fanden in den vergangenen Tagen bundesweit Aktionen gegen die zunehmende Kriminalisierung von Antifaschist:innen statt. Das Mobilisierungspotential war immens, jedoch wurden besonders in Leipzig Versammlungen immer wieder schikaniert und angegriffen. Die Polizei zeigte: für Grundrechte ist hier kein Platz. – Ein Kommentar von Konstantin Jung
Eine Jugenddemonstration am “Internationalen Kindertag” wird wegen Konfetti-Kanonen angegriffen, das Recht auf Versammlung wird kurzerhand für ein ganzes Wochenende faktisch ausgesetzt, hunderte Menschen werden bei sieben Grad Celsius bis zu elf Stunden in einem Kessel ohne Zugang zu Sanitäranlagen zusammengedrängt … Die Liste der polizeilichen Repressionen in den vergangenen Tagen in Leipzig ließe sich beliebig fortsetzen – der Polizeistaat fletscht seine Zähne im Gewand eines vermeintlichen „Rechtsstaats“.
Es sind finstere Zeiten für antifaschistische und revolutionäre Kräfte. Der Prozess rund um die Antifaschistin Lina E. mit all seinen Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten sorgt für legitimen Protest der linken Bewegung und darüber hinaus. Polizei und Behörden nehmen dies wiederum zum Anlass, um genau diesen Protest möglichst stark zu kriminalisieren und junge Demonstrierende abzuschrecken.
Veranstaltungsstarkes Wochenende in Leipzig
Auch abseits der Proteste war es am Wochenende in Leipzig trotzdem rappelvoll: Ein Stadtfest, 40.000 Gäste beim Konzert von Herbert Grönemeyer, Public-Viewing des DFB-Pokalfinales und 12.000 Fußballfans beim sächsischen Pokalfinale im Bruno-Plache-Stadion – so viel nur zu den größten Veranstaltungen am Samstag.
Kurzerhand hatte das sächsische Innenministerium beschlossen, einen 48-stündigen “Kontrollbereich” im ganzen Leipziger Zentrum und über weite Teile der Stadt hinaus zu zu errichten. Mit der Unterstützung von Bundespolizei und Beamt:innen aus elf weiteren Bundesländern konnten Leipziger Polizist:innen damit faktisch an jeder möglichen zentrumsnahen Zufahrtsmöglichkeit Personen willkürlich kontrollieren und Platzverweise verteilen – ein Instrument, von dem sie auch herbe Gebrauch machten.
Grundrechte für ein paar Tage futsch
Diese Maßnahme richtete sich – wie zu befürchten war – vornehmlich gegen diejenigen, die in diesen Zeiten die autoritäre Handlungsweise der deutschen Klassenjustiz nicht mehr ertragen wollen oder können. Schließlich hatte die Stadt noch mehr Grundrechtseinschränkungen parat: mit einer “Allgemeinverfügung” vom Tag VOR der Urteilsverkündung wurden alle ‘thematisch passenden’ Demos, die nicht bis zum Tag darauf angemeldet worden waren, verboten. Das Recht auf (spontane) Versammlungen war dadurch also plötzlich weg.
Während später bei militanten Auseinandersetzungen zwischen autonomen Antifaschist:innen und der Polizei die üblichen Reaktionen folgten, zeigte die Art der Repression bei friedlichen Demonstrationen am Samstag doch eine neue Entwicklung: Die genehmigte Versammlung unter dem Motto “Die Versammlungsfreiheit gilt auch in Leipzig” am Samstag wurde – präventiv wegen des wahrscheinlichen Verbots der ursprünglichen „Tag-X“-Demonstration, die später auch folgte – ordnungsgemäß angemeldet. Sie war bestens vorbereitet, und Szenarien für den Fall, dass doch mehr Leute erscheinen würden als zuvor angekündigt, wurden durchgeprobt und mit den Behörden abgesprochen.
Der Polizei vor Ort war das jedoch egal: Der genehmigte Demonstrationszug wurde bedrängt und mit dem Vorwurf der Vermummung gestoppt. Unter eben diesen Vermummten befanden sich auch mutmaßliche „Tatbeobachter“ des USK Bayern (Unterstützungskommando), die als Zivilpolizist:innen andere Demonstrierende ausspähen oder Situationen auch eskalieren lassen können.
Elfstündige Schikane im „Leipziger Kessel“
Welche Rolle das USK konkret gespielt hat, bleibt unklar. Doch glasklar ist dagegen, dass die Polizei die Menschenwürde an diesem Abend – besser gesagt in dieser Nacht von Samstag auf Sonntag – teils elf Stunden lang mehr als nur angetastet hat. Schätzungsweise 500 Menschen wurden auf engstem Raum eingekesselt, die Message an alle Dagewesenen: “Sowas macht ihr hier nie wieder!”.
Neben entschlossenen Antifaschist:innen befanden sich in dem Kessel auch unbeteiligte Anwohner:innen. Viel wichtiger dabei ist aber der Fakt, dass eine beachtliche Menge an Minderjährigen unter ihnen war. Sie eint jedoch, dass niemand von ihnen Zugang zu Sanitäranlagen hatte und allen von ihnen schwerer Landfriedensbruch vorgeworfen wurde. Beim Lesen des (eigentlich nicht eigenständigen) Tatbestands fallen einem allerdings doch gewisse Diskrepanzen zur Situation vor Ort auf.
Polizeigewalt und mindestens demoralisierendes Verhalten bei Personenkontrollen
Essen und Trinken konnte den Beteiligten nämlich nur durch solidarische Demo-Sanitäter:innen gestellt werden. Abgesehen vom Hunger, Durst und Harndrang dürften jedoch die „Psychospielchen“ der Polizei die Demonstrierenden am stärksten zermürbt haben. Wie mehrere Betroffene berichten, setzten sich die Einsatzkräfte aus Bayern und Nordrhein-Westfalen alle halbe Stunde ihre Helme auf und rückten ein paar Schritte näher, nur um kurz danach wieder entspannt auszusehen. Das Ganze wiederholte sich fortlaufend – eben elf Stunden lang. So etwas wie zur Ruhekommen wurde damit quasi unmöglich – stattdessen gab es Wut und Panikattacken im Kessel.
Gegen 2 Uhr nachts wurde der Kessel dann tatsächlich Stück für Stück aufgelöst. Einzelne Personen wurden nach und nach herausgezogen und beklagten schwere Gewaltanwendung und -androhung, wie auch Perspektive zugetragen wurde. Letztlich verblieb die Polizei dabei, alle Menschen vor Ort zu fotografieren, dazu noch Straftatbestände auszuwürfeln und alle Handys „auf unbestimmte Zeit“ einzufordern. Minderjährige wurden zwar „priorisiert“, was in der Realität jedoch eine stundenlange Trennung von den Eltern bedeutete, welche wiederum völlig im Unklaren über die Situation ihrer Kinder herumtappten. Kein Grund zur Sorge für die Polizei, die Berichten zufolge Kindern sogar in die Unterhose schaute und leuchtete!
Die Lage im Kessel ist angespannt. Allen Menschen, die langsam herauskommen, werden die Handys abgenommen. Minderjährige haben berichtet, dass ihnen sogar in die Unterhose geschaut und geleuchtet wurde!
Leipzig nimmt Platz auf Twitter
Eure Repressionen kriegen uns nicht klein – wir sind auf der Straße im Widerstand vereint!
Die vollständige Aufarbeitung der polizeilichen Schikane, wenn nicht Folter, der vergangenen Tage wird wohl noch einige Jahre in Anspruch nehmen. Zurück bleiben etliche Verletzte, sei es durch Wunden am Körper oder durch traumatische Erfahrungen mit dem Staat und seinen gewaltsamen Repressionsorganen. Deshalb widmen wir in diesem Moment und darüber hinaus unsere vollste Solidarität allen Betroffenen und wünschen baldige Genesung.
Doch so oder so – der Staat wird nicht einfach auf uns warten – die Militarisierung im Inneren schreitet Tag für Tag voran. Die erstarkende Rechte, die zunehmende Einschränkung unserer Grundrechte durch etwaige Polizeigesetze und die sich zuspitzenden Kriege und Krisen machen unseren Widerstand wichtiger und notwendiger denn je. Die schrecklichen Ereignisse in Leipzig sind damit also nicht einfach ein Zufall, sondern sind im Kontext betrachtet ein klarer Angriff auf die Arbeiter:innenklasse und ihre Aussichten auf eine bessere Zukunft, für die es sich zu kämpfen lohnt.
Artikel von nd über die Repression in Leipzig:
»Lina E.«-Demo: Elf Stunden im Polizeikessel
Umstrittener Einsatz in Leipzig und massive Beschränkung von Grundrechten wird Sachsens Landtag beschäftigen
Die »Polizeikessel-Charts« sind keine offizielle Statistik. Die Liste der Gelegenheiten, bei denen die Polizei in der Bundesrepublik eine besonders große Menge an Demonstrationsteilnehmern über rekordträchtig lange Zeit festsetzte, ist also lückenhaft. 1994 bei einem EU-Gipfel traf es einmal 918 Menschen. In einem Kessel bei einer Demonstration von »Blockupy« 2013 in Frankfurt (Main) wurden gar 943 Menschen festgehalten. Ein Teilnehmer, der später beim Bundesverfassungsgericht erfolglos gegen die Maßnahme klagte, war erst nach knapp fünf Stunden aus der Einkesselung freigekommen.
Der Kessel, in dem am Samstag in Leipzig viele Teilnehmer einer geplanten Demonstration für Versammlungsfreiheit festgesetzt wurden, muss in der fragwürdigen Rekordliste weiter oben einsortiert werden. Das gilt sowohl für die Zahl der Betroffenen – die Polizei spricht von »knapp über 1000 Identitätsfeststellungen«, die man wegen des Verdachts des schweren Landfriedensbruchs durchgeführt habe – als auch für die Dauer: Die Maßnahme begann kurz nach 18 Uhr am Samstag und endete nach knapp elf Stunden gegen fünf Uhr am Sonntagmorgen. Dazwischen lagen »Stunden der Schikane«, wie ein Beobachter formuliert. Die Eingeschlossenen, darunter viele Minderjährige, denen jeder Kontakt zu ihren Eltern verwehrt wurde, mussten stundenlang ohne Trinkwasser und Essen ausharren; ihre Notdurft sollten sie im Gebüsch eines Parks verrichten. Auch Decken gab es nicht, obwohl viele Teilnehmer sommerlich bekleidet waren und die Temperaturen auf zehn Grad fielen. Selbst »politische Äußerungen« wurden für unzulässig erklärt.
Der Leipziger Kessel ist der fragwürdigste Aspekt eines Polizeieinsatzes, der den sächsischen Landtag beschäftigen wird. Die Linke beantragte am Montag eine Sondersitzung des Innenausschusses, die aber frühestens kommende Woche stattfinden kann. Auch Grüne und SPD, die gemeinsam mit der CDU im Freistaat regieren, kündigten kritische Nachfragen an Innenminister Armin Schuster (CDU) und die Polizeiführung an.
Ausgangspunkt für den Polizeieinsatz mit rund 3000 Beamten war »Tag X«. Unter diesem Motto hatte die linke Szene nach Leipzig mobilisiert, um nach dem am Mittwoch gesprochenen Urteil im »Antifa Ost«-Verfahren ihre Solidarität mit der zu mehr als fünf Jahren Haft verurteilten Antifaschistin Lina E. und ihren drei Mitstreitern zum Ausdruck zu bringen. Dabei wurde teilweise auch zu Gewalt aufgerufen. Die Stadt untersagte daher eine Demonstration; ihr Verbot bestätigten Gerichte. Auch die aus Protest dagegen angemeldete Demonstration für Versammlungsfreiheit wurde zunächst nur als stationäre Kundgebung erlaubt und dann unter Hinweis darauf, dass Steine, Flaschen, Pyrotechnik und ein Molotowcocktail geflogen seien, eingekesselt.
Für Kritik sorgt zum einen die drastische Beschränkung des Versammlungsrechts in der Stadt. Minister Schuster hatte zur Begründung gesagt, man wolle »kein Leipzig, wo Versammlungen als Gelegenheit für Gewalt und Zerstörung genutzt werden«. Das Bündnis »Leipzig nimmt Platz« kritisierte dagegen, in der bloßen Annahme, es könne zu Gewalt kommen, seien »elementare Grundrechte der Demokratie faktisch ausgesetzt« worden. Der linke Landtagsabgeordnete Marco Böhme merkte an, ausgerechnet eine Stadt, die sich unter Verweis auf 1989 gern mit Bürgerrechten schmücke, sei zur »grundrechtsfreien Zone« erklärt worden. Valentin Lippmann, Innenexperte der Grünen im Landtag, stellte fest, Leipzig habe die Versammlungsfreiheit »durch eine Kombination aus Allgemeinverfügung, Versammlungsverboten, einem Kontrollbereich und konkreten Beschränkungen faktisch entkernt«.
Für Empörung sorgt darüber hinaus der Polizeieinsatz, mit dem die Beschränkungen durchgesetzt wurden. Leipzigs Polizeipräsident René Demmler begründete das Auftreten inklusive Wasserwerfer und Räumpanzer im Interview der »Leipziger Volkszeitung« mit der Einschätzung: »Stärke zu zeigen, kann auch deeskalierend wirken.« Allerdings gibt es Zweifel daran, dass die Polizei die Lage tatsächlich beruhigen wollte. So wird der Innenminister mit dem Satz zitiert: »Wer reinschlägt, wird die Antwort bekommen.« Der Verein »Say it loud«, Veranstalter der gekesselten Demonstration, ist überzeugt, der Einsatz sei von vornherein darauf ausgelegt gewesen, »dass der Staat seine Macht zeigt«. Die Leipziger Jusos sprachen von »Willkür und Härte« und distanzierten sich von SPD-Oberbürgermeister Burkhard Jung, der die Polizei gelobt hatte. Der SPD-Landtagsabgeordnete Albrecht Pallas warf dieser eine »provozierende Herangehensweise« vor. Ihre starke Präsenz und heftige Reaktion auf Kleinigkeiten hätten eine »eskalierende Wirkung« gehabt.
Mancher vermutet, dass es Sicherheitsbehörden und konservativen Politikern ohnehin um mehr ging als ein gewaltfreies Wochenende in Leipzig. Das »amtliche Schmierentheater«, wetterte der Verein »Say it loud«, sei »darauf ausgerichtet, die Zahl vermeintlich linker Straftaten in die Höhe zu treiben und das gesellschaftliche Zerrbild der Gefahr von links zu verschärfen«. Passend dazu forderte Innenminister Schuster ein sächsisches Konzept gegen Linksextremismus und kündigte an, das Thema in die Innenministerkonferenz von Bund und Ländern tragen zu wollen. Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) drängte auf mehr Härte gegen Linksextremisten. Das Bündnis »Leipzig nimmt Platz«, das für Montagabend zu einer Demonstration für Grundrechte aufgerufen hatte, sieht in alldem eine bedenkliche Entwicklung: »Die Exekutive forciert offen die Wandlung in einen autoritären Staat.«