Wie die Union unter Friedrich Merz auf das Konto der AfD einzahlt
Folgt man dem aktuellen ARD-Deutschland-Trend, ist nur ein Drittel der Wahlberechtigten der Meinung, bei der CDU wisse man genau, wofür sie steht. In der Union selbst wäre man mit einem Drittel in diesen Tagen schon recht gut bedient. Seit dem Ende der Ära Merkel sucht die Partei ihre Daseinsberechtigung zwischen AfD und FDP. Es liegen eine Reihe von Grundsatzfragen auf dem Tisch: Wie hält man es mit der Migration? Wie mit dem Klima oder der Sozialpolitik? Und was heißt eigentlich noch Konservatismus? Friedrich Merz, der marktradikale Merkel-Rivale, der im Januar 2022 nach dem dritten Anlauf den Parteivorsitz der CDU übernahm, gibt nun Antwort: »Eine Alternative für Deutschland mit Substanz«, so stellt sich der Parteichef die CDU vor.
Unterdessen dümpelt der Entstehungsprozess eines neuen Grundsatzprogramms, der für die CDU ungewöhnlich basisdemokratisch geplant wurde, seit inzwischen fünf Jahren vor sich hin. Dass Mitte Juni ein Grundsatzkonvent stattfand, hätte vermutlich trotz des Sommerlochs wenig öffentliche Beachtung erfahren, wäre da nicht der bizarre Auftritt der Eisschnellläuferin und Polizistin Claudia Pechstein in Polizeiuniform gewesen, die mit den einschlägigen rechten Talking Points für die CDU aussprach, was auch die AfD gern sagt. Die Causa Pechstein dürfte nicht ganz ungelegen gekommen sein, denn so wurde gut übertüncht, dass man in programmatischen Fragen nicht besonders weit gekommen war.
Das mag auch ein Grund dafür sein, dass die Präsidien von CDU und CSU in ihrer programmatischen Erklärung vom 30. Juni 2023 schonmal ein bisschen präjudizieren. »Agenda für Deutschland« (kurz AfD) ist die Überschrift des bemerkenswert substanzlosen Zehn-Punkte-Papiers, das die Marschroute vorgeben soll.
Inhaltlich sendet es schöne Grüße von Franz Josefs Strauß’ persönlichem Recyclinghof: Ein bisschen Deindustrialisierungsangst, ein bisschen Eigenheim, Steuersenkungen für Unternehmen, Trauer über den Atomausstieg, Ablehnung des Heizungsgesetzes und unter der Überschrift »Klimaschutz statt Klimakleber« die Position »Klimaschutz darf weder zu Deindustrialisierung führen noch das gesellschaftliche Klima vergiften und erst recht nicht Eigentum gefährden«. Hinzu kommt noch etwas gegen »unkontrollierte Migration« und »Clans« und klar: Aufrüsten. Fertig ist das CDU-Rezept.
Doch während seinerzeit rechts von Franz Josef Strauß »nur noch die Wand« war, ist da nun die AfD, und deren Wähler*innen kriegen noch einen kleinen Luftkuss zugeworfen: »Haltung zu zeigen heißt, Themen zu diskutieren, statt Wählerinnen und Wähler zu diffamieren.«
Die AfD nämlich steht in Umfragen derzeit bei 21 Prozent, die Union bei 25 Prozent. Als Friedrich Merz Parteivorsitzender wurde, stand die AfD in Umfragen bei elf, die CDU bei 24 Prozent. Friedrich Merz, der vollmundig verkündet hatte, die AfD halbieren zu wollen, darf nun in seinem Zwischenzeugnis lesen, dass er die AfD verdoppelt hat.
Freiheit statt Moral
Oft wurde Merz als »wertkonservativ« beschrieben. Vielleicht, weil er 2020 im Talk mit der Bild-Zeitung einen Zusammenhang zwischen Homosexualität und Pädophilie herbei assoziierte. Vielleicht, weil er noch 1997 der Auffassung war, Vergewaltigung in der Ehe sei nicht als Straftat zu betrachten und gegen eine Gesetzesreform stimmte. Viele seiner Parteikolleg*innen erwarten von Merz, den konservativen Kern der CDU herauszuarbeiten und zu stärken. Denn eigentlich, so die landläufige Meinung, habe Angela Merkel die CDU entkernt und damit erst Platz für die AfD geschaffen. Wenn die CDU nun also wieder eine echte konservative Partei würde, könnte der AfD das Wasser abgegraben werden.
Zum eigentlichen Kerngeschäft des Konservatismus gehört das Hochhalten von »konservativen Werten«. Das hämmerte Helmut Kohl der Partei in den 1980er Jahren ein. Er rief eine »geistig moralische Wende« aus – die gegen die aus seiner Sicht verkommene 1968er-Generation eingeleitet werden müsse. Moral, Sittlichkeit, Tradition, Familie, Religion, Heimat, Bewahrung der Schöpfung, und nicht zuletzt auch das christliche Menschenbild, das alles sind Dinge, die einst zur DNA der Partei gehörten und von denen sich viele CDU-Mitglieder ein Revival wünschen.
Das allerdings, so geht es aus der programmatischen Erklärung hervor, ist von Merz und Konsorten nicht zu erwarten. Denn die Merz-CDU will mit Moral nichts mehr zu tun haben: »Wir wehren uns gegen eine moralisch überhöhte Einengung des öffentlichen Diskurses. Nicht Kommentarspalten, Ideologien oder Moralvorstellungen sind Maßstab für die individuelle Freiheit, sondern einzig und allein unser Grundgesetz«, heißt es dazu in der Erklärung.
Das ist spannend, denn Merz, der in den 2000er Jahren Vortrommler der Leitkulturdebatte war, hat damals behauptet, dass das Grundgesetz allein nicht ausreiche, um eine deutsche Leitkultur zu bestimmen. In der Welt veröffentlichte Merz im Jahr 2000 einen Artikel, in dem er bedauerte, dass eine »Debatte um Wertmaßstäbe« in der Gesellschaft »versäumt« worden sei. Moral und Ideologie – das sind jetzt Kampfbegriffe, mit denen man den von Merz ausgemachten »Hauptgegner«, die Grünen, belädt und sie als die Bevormundungs- und Verbotspartei, die die Menschen in ihrer individuellen Freiheit beschränken wolle, markiert.
Die Merz-CDU will mit Moral nichts mehr zu tun haben, von Verboten hält sie gar nichts. Es sei denn, sie betreffen diejenigen, die Privilegien infrage stellen oder auch nur einen Teil vom Kuchen abhaben wollen.
Diese individuelle Freiheit meint: Die Leute wissen immer am besten, was für sie gut ist. Sie sollen entscheiden, wie sie heizen, wie schnell sie auf der Autobahn fahren, wie viel Fleisch sie essen und wie oft sie in den Urlaub fliegen. Diese Freiheit gibt dem Individuum das Recht, das zu tun, was es will, ohne sich darum zu scheren, ob sein Handeln Nachteile für andere hat. Ein »Sich-ins-Verhältnis-setzen« zur Außenwelt ist unnötig – das Ich ist der einzige Bezugspunkt.
Diese Freiheit meint auch, dass sie nur für diejenigen gilt, die bereits durch Privilegien diese Freiheit entfalten können. Dieser Liberalismus dient dazu, die Macht der Mächtigen aufrechtzuerhalten. Von Verboten hält man gar nichts.
Es sei denn, sie betreffen diejenigen, die diese Privilegien infrage stellen oder auch nur einen Teil vom Kuchen abhaben wollen. Im Kulturkampf sind Verbote nämlich okay. Gern will man verbieten, Cannabis zu rauchen, die eigene geschlechtliche Identität zu bestimmen oder Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Wäre die CDU immer noch Teil der Regierung, wäre weiterhin das Verbot für Ärzt*innen in Kraft, über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren. Windkraftanlagen kann die Union auch sehr gut mithilfe der bayerischen Mindestabstandsregelung verbieten. Außerdem ist sie für ein Kopftuchverbot an Schulen, für ein Tanzverbot an christlichen Feiertagen und für das Verbot von Fleischnamen für Veggieprodukte.
Unter Friedrich Merz legt die CDU den »Merkel-Maulkorb« ab: Die Freiheit des CDU-Deutschen ist es, wie Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther angesoffen auf einer Bierzelt-Bühne »Layla« zu performen. Und es ist die Freiheit, über »kleine Paschas« (Merz) und »Sozialtourismus« zu ätzen. Man kann Ernst Jünger zitieren (Markus Söder), Migrant*innen mit »Ungeziefer« vergleichen (Peter Ramsauer), man kann die Regenbogenflagge »linksradikal« nennen und ein Verbot vor öffentlichen Gebäuden ins Spiel bringen (Hans-Georg Maaßen).
Unionspolitiker*innen dürfen das individuelle Recht auf Asyl infrage stellen, obwohl das mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist, und auch fordern, Straftäter*innen müssten noch am Tag der Tat verurteilt werden (Carsten Linnemann) und so abermals mit dem Prinzip von Rechtsstaatlichkeit brechen.
Sie dürfen auch Lügen über drohende Blackouts durch den Atomausstieg (Merz) erzählen oder behaupten, der Wirtschaftsstandort sei durch die Abwanderung von Biontech gefährdet (Merz), die gar nicht stattgefunden hat.
Die Gesamtschau dessen, was seitens der CDU in den vergangenen Wochen abgesondert wurde, erinnert fast ein bisschen an die Kommunikationsstrategie des früheren Trump-Wahlkampfmanagers Steve Bannon: »Flood the zone with shit« – also, den öffentlichen Diskurs so sehr mit Falschnachrichten zu überspülen, dass die Wahrheit im Nebel der Desinformation untergeht. Das Projekt, das Friedrich Merz und Co. verfolgen, ist aber viel mehr als eine Vernebelungstaktik und mehr als ein Versuch, mit der AfD in rechter Rhetorik gleichzuziehen.
Im Kulturkampf geeint, im Fernziel gespalten
Friedrich Merz ist kein Idiot. Auch er weiß, dass rechte Parteien Auftrieb bekommen, wenn andere Parteien versuchen, durch inhaltliche Annäherung Wähler*innen zurückzugewinnen. Was ihm aber auch klar ist, ist, dass ein »cordon sanitaire«, insbesondere in Bundesländern wie Sachsen, Brandenburg oder Thüringen – wo nächstes Jahr Landtagswahlen sind –, über die nächsten Jahre eine Ganz-Ganz-Große-Koalition aller »demokratischen Parteien« gegen die AfD bedeuten würde. Und so eine Ganz-Ganz-Große-Koalition würde immer auch bedeuten, Zugeständnisse zu machen, etwa, wenn es um Klimaschutz geht oder um die Rechte von »anderen«, die sich von Merz in Fragen von Klasse und Identität unterscheiden.
Die große Kunst der Merkel-CDU war es, sich in Krisenzeiten als scheinbar klassenübergreifende Volkspartei aufzustellen. Die Erzählung zur Finanzkrise 2008/2009: »Wir sitzen alle im selben Boot« und »Für den Standort Deutschland müssen wir gemeinsam den Gürtel enger schnallen«. Die Message war: Macht euch keine Sorgen, solange »wir« zusammenhalten, wird alles so, wie es einmal war. Das waren die Sternstunden der Merkel-CDU, die ihr stabile 40 Prozent bei Wahlen einspielten.
Da den meisten Menschen in der Bundesrepublik aber inzwischen klar ist, dass es wahrscheinlich nie mehr so wird, wie vor 2008/2009, und die Luft angesichts multipler Krisen dünner wird, schaltet Merz die CDU in einen Modus, in dem sie den Charakter der »Volkspartei« ablegt und ganz offensiv im Interesse ihrer Klasse handelt. Der Kulturkampf, den AfD und CDU führen, ist letztlich ein Verteilungskampf, bei dem, durch verschärfte rassistische und identitätspolitische Ausgrenzung, denen, die sich als Deutsche verstehen, wenn schon nicht materielle, dann zumindest symbolische Teilhabe angeboten wird.
Die CDU will back to 1980 – die AfD will back to 1933.
Was die Merz-CDU dabei unterschätzt: Die AfD ist mehr als eine Übersteigerung konservativer oder reaktionärer Haltungen. Sie will gar nicht mit der CDU koalieren, zumindest nicht als Juniorpartner. Die AfD will die CDU bedeutungslos machen. Der Liberalkonservatismus der CDU stellt nicht die Systemfrage. Sie will Privilegien konservieren und die Stabilität des Staates wahren, sie steht für die Erhaltung des Systems, wenn auch vielleicht in einer radikalisierteren Form.
Die AfD will etwas völlig anderes: Insbesondere, seit der Höcke-Flügel erstarken konnte, verfolgt sie die Vorstellung, dass das Bestehende, das von AfD-Vertreter*innen oft als »System« und »Altparteien« bezeichnet wird, erst zerstört werden muss, um etwas Neues aufzubauen.
Götz Kubitschek, der neu-rechte Stichwortgeber, machte sich im Juni 2023 in der Zeitschrift Sezession Gedanken über das AfD-Umfragehoch und hielt fest: »Wir dürfen den Anspruch nicht aufgeben, ebenfalls einen Umbau im Sinn zu haben, jedenfalls kein bloßes ›Gehe zurück nach der Badstraße‹, die kennt, wer Monopoly spielte und die in den 1980er Jahren des vorigen Jahrhunderts liegt. Jedenfalls: Unser Umbau hat einen völlig anderen Zielpunkt im Blick als denjenigen, den das grüne Milieu fokussiert, zu dem wir pauschal von Söder bis Baerbock alles zählen dürfen.« Kurz: Die CDU will back to 1980 – die AfD will back to 1933. Die Union zahlt unterdessen munter auf das Konto der AfD ein, indem sie den ausgrenzenden Kulturkampf anheizt. Damit dürfte sie bei den 46 Prozent der Wahlberechtigten, die sich laut Umfragen derzeit vorstellen können, der CDU oder der AfD ihre Stimme zu geben, durchaus noch etwas in Bewegung bringen: Weg von der CDU hin zu der AfD, als deren Juniorpartnerin die Konservativen irgendwann aufwachen werden.