Verfahren um Nazi-Angriffe werden eingestellt

Neun Angeklagte und keine einzige Verurteilung: Das ist die Bilanz des ersten Prozesses gegen eine Gruppe von Neonazis, die in Chemnitz Jagd auf politische Gegner gemacht hatte. Unter den Attackierten waren SPD-Mitglieder aus Marburg.

„Ich hatte noch nie so ein Panikgefühl“, erinnerte sich die junge Frau. „So ein krasses Gefühl der Unsicherheit.“ Die Studentin war am 1. September 2018 von Marburg nach Chemnitz gereist, um ein Zeichen gegen rechts zu setzen. Es war der Tag des großen Schulterschlusses von AfD, Pegida und militanter Neonazi-Szene, als nach dem tödlichen Messerangriff eines Geflüchteten Tausende Rechte in der sächsischen Großstadt aufmarschierten.

Die heute 28-Jährige nahm mit anderen Marburgerinnen und Marburgern, für die der SPD-Bundestagsabgeordnete Sören Bartol einen Reisebus gechartert hatte, an einer Gegenkundgebung mit dem Titel „Herz statt Hetze“ teil. Und was sie danach erleben musste, schilderte sie jetzt, fast fünfeinhalb Jahre später, als Zeugin vor dem Landgericht in Chemnitz.

Bedroht, geschubst, geschlagen

Auf dem Rückweg zum Bus sei plötzlich ein „Pulk“ von Neonazis auf sie und ihre Gruppe losgestürmt, berichtete die Frau. Einer habe sich direkt vor sie gestellt, mit einem Holzknüppel ausgeholt, sie beleidigt und Gewalt angedroht.

Ein Mann, der einzige mit Migrationshintergrund in ihrer Gruppe, sei gejagt worden. Andere wurden geschubst und geschlagen. Bereits zuvor hatten die Rechtsextremen auch andernorts in der Stadt Menschen angegriffen und verletzt, die sie für ihre Gegner hielten, begleitet von Schlachtrufen wie „Adolf Hitler Hooligans“.

Anklage: Gefährliche Körperverletzung und Landfriedensbruch

Gegen insgesamt 27 Männer aus verschiedenen Teilen des Landes hat die sächsische Generalstaatsanwaltschaft deshalb Anklage erhoben, wegen gefährlicher Körperverletzung und Landfriedensbruch.

Nach acht Verhandlungstagen endete am Freitag in Chemnitz der erste von drei Prozessen, in die die Anklagebehörde den Komplex aufgeteilt hat – und es konnte nach der Beweisaufnahme mit den erschütternden Aussagen der zahlreichen Betroffenen kein Zweifel mehr bestehen, dass die Hetzjagd so stattgefunden hatte wie von der Staatsanwaltschaft angenommen. Dennoch wurde niemand verurteilt.

Statt ursprünglich neun Angeklagten saßen am Ende gerade noch drei auf der Anklagebank, die Staatsanwalt Thomas Fischer lediglich als „Mitläufer“ einstufte. „Ich gehe nicht davon aus, dass sie Rädelsführer waren oder massiv am Geschehen beteiligt waren“, sagte der Anklagevertreter am Freitag und bot an, das Verfahren gegen Zahlung von Geldauflagen einzustellen.

Einzige Voraussetzung: ein Geständnis. Nach kurzer Bedenkzeit gingen Timo B. (30) aus Braunschweig, Mark B. (26) aus Rostock und Marcel W. (44) aus Chemnitz darauf ein. Über ihre Verteidiger räumten sie in dürren Worten ein, dabei gewesen zu sein, aber selbst nicht zugeschlagen zu haben. Bedauern über die Tat oder Distanzierung von der rechten Szene? Fehlanzeige.

Verfahren gegen Zahlung von 1.000 Euro eingestellt

Marcel W. hatte bei der Polizei noch recht freimütig zugegeben, dass die Gruppe „auf der Suche nach Antifa-Leuten“ gewesen sei und dass er als Ortskundiger den Weg gewiesen habe. Nicht einmal das wiederholte er jetzt. Dem Gericht jedoch reichten diese Geständnisse. Gegen Zahlung von jeweils 1.000 Euro für gemeinnützige Zwecke würden die Verfahren eingestellt, verkündete Strafkammervorsitzender Jürgen Zöllner.

Die gleichen Konditionen hatte das Gericht am zweiten Verhandlungstag schon Rico W. (34) aus dem Erzgebirge gewährt, der von sich aus seine Tatbeteiligung gestanden hatte – verbunden mit der Beteuerung, auf keinen Fall rechtsextrem zu sein: „Ich gehöre zu keiner Neonazigruppe, ich war ein besorgter Bürger.“

Angeklagte fehlen beim Auftakt

Die fünf weiteren Angeklagten hatten bereits beim Prozessauftakt im Dezember gefehlt: zwei, weil ihre Verfahren zuvor ebenfalls eingestellt worden waren, einer, weil er in Bulgarien lebt und nicht geladen werden konnte, und zwei, weil sie für das Gericht nicht greifbar waren.

Der Dortmunder Neonazi-Aktivist, Kampfsportler und Youtuber Steven F.1Steven Feldmann (29) war offensichtlich untergetaucht, jedenfalls erschien er nicht zum Antritt einer anderweitig verhängten Gefängnisstrafe.

Und sein Kampfsportkumpel Pierre B. (31), verurteilter Gewalttäter und gescheiterter Oberbürgermeisterkandidat der neonazistischen Kleinstpartei „Die Rechte“ in Braunschweig, befand sich wegen angeblicher Suizidgefahr in der Psychiatrie. Im Internet sollen zum Jahreswechsel allerdings Bilder aufgetaucht sein, die ihn bei einer Silvesterfeier mit seinem Braunschweiger Gesinnungsgenossen Lasse R. (25) zeigen.

Zeugen erkennen Gesichter

Viel deutet darauf hin, dass Lasse R., der wie viele andere der mutmaßlichen Tatbeteiligten noch auf seinen Prozess wartet, und Pierre B. zu den Haupttätern bei der Hetzjagd 2018 gehörten. An ihre Gesichter konnten sich viele der Zeuginnen und Zeugen beim Prozess vor dem Landgericht erinnern.

Die drei Angeklagten, auf die sie im Gerichtssaal trafen, erkannte dagegen niemand wieder. Was nicht zuletzt an der langen Zeit liegen dürfte, die seit dem Geschehen vergangen ist. So ist aus dem noch sehr jugendlich wirkenden Timo B. von damals ein bärtiger Hornbrillenträger mit Seitenscheitel geworden, der kaum noch Ähnlichkeit hat mit seinem jüngeren Ich.

Studentin: „Ein wahnsinn schleppender Prozess“

Immer wieder beklagten Betroffene bei ihren Zeugenauftritten, dass die sächsische Justiz so viele Jahre hat ins Land gehen lassen, ohne die Neonazi-Angriffe zu verhandeln. Nicht nur, weil das die Erinnerungen trübt. Sondern auch weil die Täter so das Gefühl bekommen konnten, dass ihnen keine ernsthaften Konsequenzen drohen.

Die Marburger Studentin formulierte es so: „Was mich langfristig am meisten belastet, ist der wahnsinnig schleppende Prozess. Ich hätte mir eine konsequentere Verfolgung dieser Straftaten gewünscht.“

Keine Erklärung – keine Entschuldigung

Eine Entschuldigung oder Erklärung bekam weder sie noch irgendein anderer der Betroffenen. Richter Zöllner verlor kein Wort über die lange Verfahrensdauer, auch nicht, als er die Verfahrenseinstellung verkündete. Von einem „demokratischen Totalausfall des Gerichts“ sprach Nebenklageanwältin Kati Lang im Anschluss.

Auch der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) reagierte mit scharfer Kritik. „Die fatale Botschaft dieser verschleppten Strafverfolgung ist leider kein Einzelfall“, erklärte Sprecherin Heike Kleffner. „Hier zeigt sich, dass Menschen, die sich Neonazis und rassistischen Mobilisierungen entgegenstellen, nicht auf eine konsequente Strafverfolgung hoffen können, wenn sie dabei angegriffen werden.“