Brandanschlag Solingen 2024: Braune Spur
Unmut nach Prozess um Brandanschlag in Solingen 2024. Stadt äußert sich verhalten. Ein Rückblick
Ob gerichtlich festgestellt oder eben nicht: Der Solinger Feuermord von 2024 erinnert an den rassistischen Brandanschlag von 1993. Damals setzten Solinger Neonazis das Wohnhaus der Familie Genç in Brand und ermordeten fünf Menschen. Die folgende Ermittlung ließ zu wünschen übrig. Brandschutt wurde nicht gesichert, Fingerabdrücke wurden nicht genommen, Verhörprotokolle nicht vollständig dokumentiert. Immerhin: 285 Zeugen und Sachverständige waren angehört worden, als der Prozess im Oktober 1995 sein Ende fand.
Und beim Brandanschlag im vergangenen Jahr? »Das Umfeld des Täters wurde so gut wie gar nicht durchleuchtet«, sagte Opferberater Jan-Robert Hildebrandt am Montag im jW-Gespräch. In dieser Hinsicht haben die Betroffenen »das Vertrauen in das Justizsystem verloren«, auch wenn der Mörder schließlich zu lebenslanger Haft verurteilt wurde.
Daniel S. ermordete in der Nacht zum 25. März 2024 eine bulgarisch-türkische Familie mit zwei Kleinkindern und verletzte 21 Menschen. Alarm bei Antifas, nicht bei der Staatsanwaltschaft. Die verkündete prompt, kein »fremdenfeindliches« Motiv zu sehen. Dazu Cornelia Kerth, Bundesvorsitzende der VVN-BdA, am 2. April 2024: »Trotz aller gegenteiligen Erkenntnisse (…) wissen Behörden und Politik immer noch vor Beginn der Ermittlungen, dass rassistische Motive (…) nicht erkennbar sind.«

In dieser Manier prozessierte das Landgericht Wuppertal ab Januar 2025 vor sich hin, obwohl stetig Neues ans Licht kam: Zunächst 166 rassistische »Memes« und Hitlerbilder auf einer Festplatte – der Freundin zugeschrieben. Dann Nazibücher – die sollen dem Vater gehören. Ein rassistisches Gedicht in der Garage – Herkunft unklar. Der Bruder sei »ein Nazi«, ein weiterer Kontakt Teil der neurechten »Identitären«-Szene, sagte eine Zeugin laut ND-Bericht. Klare Indizien für ein rechtes Umfeld, könnte man denken; dachte der zuständige Staatsanwalt aber nicht. »Spekulationen ohne echten Beweiswert« nannte er diese und weitere Hinweise. Zuvor hatte die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen die Polizei abgelehnt.
Die aktuelle und eine ehemalige Partnerin des Mörders wurden vor Gericht befragt, resümierte Hildebrandt am Montag, aber nicht der Vater (mutmaßlicher Besitzer der Nazibücher), der Bruder (mutmaßlicher Faschist) oder der Kontakt (mutmaßlich »identitär«). »Es wäre möglich gewesen, sich ein genaueres Bild von dem Angeklagten und seinem Umfeld zu machen, aber das wurde versäumt«, sagte der Opferberater. »Ich glaube, dass die Staatsanwaltschaft aufgrund des Brandanschlags von 93 unter Druck stand, klarzustellen, dass es kein rassistischer Anschlag war.« Ähnliches formulierte Alexandra Mehdi aus dem Solinger Linkspartei-Vorstand. »Man kann gar kein anderes Gefühl haben, als dass die Stadt um jeden Preis einen Imageschaden vermeiden will«, sagte sie jW am Dienstag.
Die Stadt zieht sich indes aus der Verantwortung. Es sei nicht ihre Aufgabe, »Gerichtsverfahren und Gerichtsurteile in Strafprozessen zu beurteilen«, teilte die Pressestelle am Dienstag auf Anfrage mit. Ob es Versäumnisse bei den Ermittlungen gab, kommentiere man nicht. Ohnehin: »Kriminalprävention liegt nur sehr bedingt in den Händen der Stadt. Solingen fördert aber seit Jahrzehnten intensiv das Miteinander, die Integration sowie Vielfalt und Toleranz in der Stadtgesellschaft.«
Ob die Kommune aber die Aufarbeitung des Brandanschlags von 2024 fördert, ist fraglich. Zweifel äußerte Politikwissenschaftler Okan Bektaş. »Als Solinger mit Migrationshintergrund bin ich erschüttert, dass nach dem ersten rechtsextremen Brandanschlag erneut Menschen sterben mussten und dass Polizei wie Politik wieder versagt haben«, sagte er jW am Dienstag. Ein Anwohner, der 2024 vom Feuer im Haus gegenüber geweckt worden war, hatte im April gegenüber jW gesagt: »Ich höre nicht mehr viel vom Thema Brandanschlag.«
Auch wenn die braune Spur nicht verfolgt wurde: Die Tat von Daniel S. schließt nahtlos an den Brandanschlag von 1993 an. »Wir werden nicht zulassen, dass das unter dem Mantel des Schweigens verschwindet«, erklärte Mehdi. »Als Linke werden wir niemals aufhören, diesen Brandanschlag und den von 1993 als rassistische Morde zu bezeichnen – das ist das mindeste, was man den Angehörigen und Opfern jetzt noch geben kann.«
In der junge Welt-Ausgabe vom 6. August 2025 erschien zudem ein Interview des Autors mit Jan-Robert Hildebrandt von der Opferberatung Rheinland, der seit dem Brandanschlag im März 2024 die Hinterbliebenen und mehrere Überlebende begleitet:
Der Prozess um den Brandanschlag in Solingen 2024 ist zu Ende, der Verurteilte hat die Höchststrafe bekommen. Als Opferberatung Rheinland kritisieren Sie das Urteil: Viele Fragen seien nicht beantwortet worden. Welche?
Ein Großteil der juristischen Fragen ist geklärt, der Täter ist verurteilt. Die Frage des rassistischen Tatmotivs ist aber unbeantwortet geblieben. Aus Sicht der Staatsanwaltschaft und des Gerichts liegt kein solches Tatmotiv vor. Gegen diese Einschätzung richtet sich die Kritik der Hinterbliebenen und Überlebenden, die wir als Opferberatungsstelle betreuen.

Sie beklagen, der Staat habe sein Schutzversprechen nicht eingelöst, und sprechen von institutionellem Versagen.
Alle Opferberatungsstellen bundesweit beobachten strukturelle Schwierigkeiten und Fehler, wenn Straftaten gegen Betroffene von Rassismus oder Menschen mit Migrationshintergrund begangen werden. Während des Solingen-Prozesses kam zum Beispiel ans Licht, dass der Angeklagte in Wuppertal im Jahr 2022 wahrscheinlich einen weiteren Brandanschlag verübt hat. Damals hieß es, ein technischer Defekt sei die Ursache gewesen. Jetzt – drei Jahre später – konnte ein Sachverständiger vor Gericht sofort sagen: Das war auch ein Brandanschlag. Das betroffene Haus wurde hauptsächlich von Menschen mit Migrationshintergrund bewohnt. Und das Schlimme ist: Hätte es Ermittlungen in diese Richtung gegeben, hätte der Angeklagte schon damals festgenommen und die Tat 2024 in Solingen verhindert werden können. Das ist etwas, das die Hinterbliebenen der Getöteten wahnsinnig macht. Das ist einfach unfassbar.
Wenn man nach einem Anschlag in Solingen sucht, erscheint der sogenannte Messeranschlag von August 2024 – eine mutmaßlich islamistische Attacke, bei der drei Menschen getötet wurden. Daraufhin hatte die Bundesregierung ihren Antimigrationskurs verschärft und die Kompetenzen der Ermittlungsbehörden erweitert. Der Brandanschlag nur wenige Monate zuvor hatte vier Menschen das Leben gekostet, 21 Menschen wurden verletzt. Politische Konsequenzen blieben aus, obwohl er an den Brandanschlag 1993 erinnert. Können Sie sich einen Reim darauf machen?
Nach kurzer Ermittlungsdauer hat sich der Staatsanwalt vor die Kameras gesetzt und berichtet, es gebe keine Hinweise auf Rassismus – das, wie man später herausgefunden hat, nachdem in den Akten vermerkt worden war, dass die Tat möglicherweise »rechts« einzuordnen sei. Dieser Vermerk wurde handschriftlich gestrichen. Wir fragen uns: Sollte das Tatmotiv verborgen werden? Sollte eine Rufschädigung der Stadt verhindert werden? Es ist bezeichnend, dass der Staatsanwalt in seinem Plädoyer sowohl der Nebenklage als auch der Presse und Zivilgesellschaft Panikmache vorwarf. Das können sich auch die Hinterbliebenen und Überlebenden nicht erklären. Und wie kann es sein, dass mehrere Datenträger gefunden und nicht ausgewertet wurden, nur weil sie der Partnerin des Täters gehören sollen, mit der dieser zusammen in einer Wohnung lebte? Die aus dem NSU-Prozess erfahrene Nebenklagevertreterin Seda Başay-Yıldız sagte in ihrem Plädoyer, dass sie so etwas noch nie erlebt habe. Das sind nur einzelne, beispielhafte Einblicke, viel mehr wäre zu sagen. Da muss man sich wirklich fragen: Ist das nur Ermittlungsversagen, oder will man es sich leichtmachen?
Was haben die Hinterbliebenen nach dem Urteil noch zu Ihnen gesagt?
Der kleinere Teil ist Erleichterung, dass der Prozess jetzt endlich vorbei ist – und damit die Belastung gerade für die Hinterbliebenen aus Bulgarien, immer wieder in das Land anzureisen, in dem ihre Kinder und Enkel getötet wurden. Aber es überwiegen das Unverständnis und die Trauer darüber, dass die Tatmotivation nicht herausgearbeitet wurde. Aus Sicht der Betroffenen ist es ganz klar, dass Rassismus eine Rolle gespielt hat. Vielleicht ist es nicht das alleinige Tatmotiv. Aber dass Rassismus gar nicht benannt wurde, das wiegt schwer. Alle Betroffenen sind sehr frustriert. Sie haben das Vertrauen in das Justizsystem verloren und sind unsicher, ob das in Zukunft noch mal passieren könnte.
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