Der nächste „Dammbruch“ und das Umfragehoch der AfD

Nur 1.573 Stimmen machten den Unterschied: Die Stichwahl um das Landratsamt im südthüringischen Kreis Sonneberg konnte der AfD-Kandidat Robert Sesselmann mit 52,8 Prozent für sich entscheiden, wie aus dem am Sonntag abend vom Thüringer Landesamt für Statistik veröffentlichten, vorläufigen Ergebnis hervorgeht. Der von CDU bis Die Linke unterstützte Kandidat Jürgen Köpper (CDU) kam demnach nur auf 47,2 Prozent der insgesamt 28.411 gültigen Stimmen. Die AfD kann damit einen seit längerer Zeit angestrebten Etappensieg für sich verbuchen und erstmals in ihrer Geschichte ein Landratsamt besetzen – und das ausgerechnet in Ostdeutschland, was als Steilvorlage für Diffamierungen der dort lebenden Bevölkerung diente.

Unterstützung von anderen Parteien half nicht: CDU-Kandidat Jürgen Köpper am Sonntag im Wahllokal in Sonneberg

Die am Sonntag bei der Wahl unterlegene Partei suchte die Verantwortung dafür beim politischen Hauptgegner. »Die Bundesregierung spaltet das Land. Sie hat zu viele Themen und Vorschläge, die im Land eben nicht auf Konsens stoßen«, sagte CDU-Generalsekretär Mario Czaja am Montag gegenüber dem Sender Phoenix. Den Zusammenhang einer von ihm behaupteten Schuld der Ampelkoalition für das Abschneiden in Sonneberg erklärte der CDU-Politiker damit, dass in Südthüringen »bundespolitische Themen« im Wahlkampf »überragend waren«. Tatsächlich setzte die AfD vor allem auf das Wettern gegen die Politik der Bundesregierung, von der Energie- bis zur Asylpolitik.

An der Spitze der Kanzlerpartei zeigte man ebenfalls mit dem Finger auf den politischen Gegner. Die SPD-Kovorsitzende Saskia Esken nahm CDU und CSU für den »Dammbruch« von Sonneberg in Mithaftung. Die Union müsse »endlich verstehen, wer am Ende wirklich profitiert von diesem rechtspopulistischen Kulturkampf, den sie aus vielen Themen machen«. Eskens Selbstkritik begrenzte sich auf die Einsicht, dass die Ampelkoalition »ihre Politik in letzter Zeit zuwenig erklärt« habe.

Sonneberg zählt zu den kleinsten Landkreisen der Bundesrepublik. Ende 2022 lebten dort 56.922 Menschen, wie die Nachrichtenagentur AFP am Montag berichtete. Allerdings hatte der Kreis seit 1990 vor allem durch Wegzüge mehr als 15.000 Einwohner verloren. Mit einer Bevölkerungsdichte von 123 Einwohnern je Quadratkilometer sei Sonneberg eine eher dünn besiedelte Kommune. In der gleichnamigen Kreisstadt erhielt der AfD-Kandidat in absoluten Zahlen die meisten Stimmen (5.874). In der Ende 2021 nur 367 Einwohner zählenden Gemeinde Goldisthal vereinte Sesselmann allerdings mit 61 Prozent den höchsten Stimmanteil dieser Wahl auf sich. Demografisch ist der Trend in dem Landkreis rückläufig. Laut Zahlen des Statistischen Bundesamtes von 2021 lag das Verhältnis von Lebendgeburten zu Todesfällen im Kreis Sonneberg bei rund 1:3. Die Zahl der Gestorbenen überstieg in jenem Jahr die Geburtenzahlen um mehr als das Doppelte.

Laut AFP-Bericht entspricht die Wirtschaftsleistung im Kreis Sonneberg mit rund 28.400 Euro je Einwohner im Jahr 2020 in etwa dem Landesdurchschnitt. Die Erwerbslosenquote lag demnach zuletzt im Mai allerdings bei 5,1 Prozent. Der Landkreis wirbt für sich mit einem stabilen Mittelstand vor allem in der Glas-, Kunststoff-, Keramik- oder Metallbranche sowie im Handwerk. Bekannt ist Sonneberg als Spielzeugregion, aber auch durch Glasbläsereien. Der Thüringer Wald ist zusätzlicher Touristenmagnet. Nicht wenige Lohnabhängige pendeln allerdings in benachbarte Landkreise, vor allem nach Oberfranken in Bayern. Allein rund 5.800 Erwerbstätige pendeln nach Coburg, Kronach und in den Landkreis Coburg.

Sesselmann, einst DDR-Skilangläufer und von Beruf Arbeitsrechtler, muss die Wahl noch formal annehmen, bevor er aus den Reihen der AfD-Landtagsfraktion unter Führung von Björn Höcke in das Sonneberger Landratsamt wechseln kann. Dort wird er für die Dauer seiner Amtszeit gemäß der thüringischen Kommunalordnung die Beschlüsse des Kreistages und der Ausschüsse umsetzen müssen. Allerdings räumt Paragraf 113 ihm die Möglichkeit ein, Vorhaben auszubremsen, die er für rechtswidrig hält. Von der Möglichkeit des sogenannten Beanstandungsverfahrens könnte der AfD-Mann beispielsweise bei der Unterbringung von Geflüchteten Gebrauch machen.

Artikel aus der jungenWelt-Ausgabe vom 27.06.2023

Der nächste »Dammbruch«

Thüringen: AfD-Kandidat gewinnt Stichwahl um Landratsamt in Sonneberg. Ampelparteien, Union und Linke um Erklärungen bemüht

Von Marc Bebenroth


AfD-Umfragehoch: Nicht einer, sondern acht Gründe

Die AfD liegt derzeit bundesweit bei 18 Prozent – und damit zusammen mit der SPD auf Platz zwei hinter CDU/CSU. In den vergangenen Tagen ist in Politik und Medien eine Debatte über die Ursachen für das aktuelle Umfragehoch entbrannt.

Von Sebastian Friedrich

Dabei dominieren Erklärungsansätze, die durch die Brille der eigenen politischen Agenda nach dem einen Grund für die Zustimmung der AfD suchen: Die einen sehen im Regierungshandeln der Ampel-Koalition die Hauptursache, andere wollen das Phänomen zuvorderst zu einem ostdeutschen erklären. Wiederum andere sind der Ansicht, eine angeblich um sich greifende „Wokeness“ sei verantwortlich.

Es mag verführerisch sein, die aktuelle Stärke der in weiten Teilen rechtsradikalen AfD auf einen Begriff bringen zu wollen. Bei genauerer Betrachtung zeigen sich aber verschiedene Ursachen für das Umfragehoch der Partei. Acht Gründe fallen dabei ins Auge:

1. Schwäche der Ampel-Koalition

Zunächst einmal profitiert die AfD tatsächlich von der schlechten Stimmung gegenüber der Ampel-Koalition. Laut dem Umfrageinstitut infratest dimap ist die Unzufriedenheit mit der Bundesregierung so hoch wie seit fünf Jahren nicht mehr. Damals – im Sommer 2018 – stand die schwarz-rote Koalition unter Angela Merkel ähnlich stark in der Kritik. Und auch damals konnte vor allem die AfD davon profitieren, sie stand im September 2018 in Umfragen schon einmal bei 18 Prozent.

Aktuell sind vier von fünf Wahlberechtigten weniger oder gar nicht zufrieden mit der Arbeit der Ampel-Koalition. Am unzufriedensten sind AfD-Wähler, bei denen die Quote bei 98 Prozent liegt. Zwei Drittel der AfD-Wähler wollen ihre Stimme der Partei geben, weil sie von den anderen Parteien enttäuscht sind, nur ein Drittel, weil es von der AfD überzeugt ist. Es scheint der Partei also zu gelingen, einen Teil der von der Regierung Enttäuschten an sich zu binden.

2. Ängste vor Krieg, Rezession und Inflation

Den größten Sprung in den Umfragen konnte die AfD nicht in den vergangenen Wochen machen, sondern schon im vergangenen Sommer. Im Juli 2022 lag die Partei noch bei elf Prozent, im September 2022 bereits bei 15 Prozent. Damals standen Ängste vor einer Ausweitung des Kriegs gegen die Ukraine, vor einer Rezession und vor unbezahlbaren Heizkosten im Mittelpunkt der politischen Debatte. Der AfD scheint es zu gelingen, überdurchschnittlich von diesen Ängsten zu profitieren.

Darauf deuten auch die infratest-Zahlen hin. Die Wählerschaft der AfD schätzt ihre eigene soziale Situation schlechter ein als die Anhänger anderer Parteien: 46 Prozent der AfD-Anhänger bewerten die eigene wirtschaftliche Lage als „weniger gut“ oder „schlecht“. Bei den Anhängern der Union sind es 29, bei denen der Grünen gerade einmal 14 Prozent.

3. Nationalistische Antworten auf die soziale Frage

Obwohl in der Bundespartei formal ohne Ämter, prägt er die AfD maßgeblich: Björn Höcke.

Gleichzeitig zeigen die Daten von infratest dimap, dass das Thema Zuwanderung für AfD-Wähler mit Abstand die größte Rolle spielt – das muss aber kein Widerspruch zum gerade genannten Grund sein. Die AfD versucht seit Jahren, sozioökonomische Themen zu kulturalisieren, indem sie etwa Probleme wie Ungleichheit mit Migrationspolitik koppelt. Sie begreift die soziale Frage also nicht als eine „zwischen oben und unten“, sondern als eine „zwischen innen und außen“, wie es AfD-Politiker Björn Höcke selbst schon häufiger ausgedrückt hat. Das scheint bei einem Teil der Bevölkerung zu verfangen.

4. Unterstützung durch die Union

Unterstützung bei der Kulturalisierung sozialer Probleme erfährt die AfD dabei in letzter Zeit von der Union. Vielleicht inspiriert durch die Strategie der US-Republikaner positioniert sich die stärkste Oppositionspartei verstärkt gegen Gendersternchen, „Wokeness“ und „politische Korrektheit“. CDU-Chef Friedrich Merz erklärte im vergangenen Sommer „Cancel Culture“ zur größten Bedrohung für die Meinungsfreiheit und machte erst vor wenigen Tagen angeblich gendergerechte Sprache im öffentlich-rechtlichen Rundfunk für das Erstarken der AfD verantwortlich.

Merz wollte die Stimmen der AfD halbieren, damit war er im Wahlkampf um den CDU-Parteivorsitz angetreten. Er verfolgt offenbar die Strategie, der AfD im Kampf gegen vermeintliche „Wokeness“ nicht das Feld überlassen zu wollen. Doch das scheint nicht zu funktionieren: CDU und CSU stehen zwar in den Umfragen momentan auf Platz eins, stagnieren aber seit langem und können von der schlechten Stimmung gegenüber der Ampel-Koalition kaum profitieren. Anstatt die AfD mit ihrer Strategie zu schwächen, scheint die Union die rechte Konkurrenz eher zu stärken, indem sie diskursiv deren Feld bestellt. Die Ernte fährt allerdings die AfD ein, deren Kerngeschäft nationalistische Identitätspolitik, also der rechte Kulturkampf, ist.

5. Alleinstellungsmerkmal „Friedenspartei“

Ein weiter Grund ist in der öffentlichen Diskussion um den Krieg gegen die Ukraine zu suchen. 55 Prozent sind laut infratest dimap aktuell der Ansicht, dass die Bundesregierung auf diplomatischem Wege zu wenig tue, um den Krieg zu beenden. Zugleich finden immer weniger, dass die bisherige Unterstützung der Ukraine mit Waffen nicht ausreiche. Die AfD profitiert offenbar davon, denn auch bei der Frage nach dem Umgang mit dem Krieg unterscheidet sich die AfD-Wählerschaft stark von denen der Ampel-Parteien und der Union: Bei SPD, Grünen, FDP und CDU/CSU sind zwischen 32 und 43 Prozent dafür, dass Deutschland Kampfflugzeuge an die Ukraine liefern soll – bei der AfD sind es nur sieben Prozent.

6. Erfolgsmeldungen aus Ostdeutschland

Besonders stark ist die AfD im Osten, wo sie inzwischen sogar mit Abstand auf Platz eins liegt. Dennoch wäre es falsch, die AfD primär zu einem hauptsächlich ostdeutschen Phänomen zu erklären, denn auch bei der Bundestagswahl hatte sie bereits überdurchschnittlichen Erfolg im bevölkerungsarmen Osten – dennoch kamen zwei von drei Wählerstimmen aus den westdeutschen Bundesländern.

Es gelingt der AfD im Osten deutlich besser als im Rest des Landes nicht nur Wähler anzusprechen, sondern auch in den vorpolitischen Raum vorzustoßen, in Vereinen und Initiativen vor Ort präsenter zu sein. Ostdeutschland fungiert als Kraftzentrum für die besonders rechtsstehenden Vertreter der Partei, aber inzwischen auch für die AfD insgesamt. Hier kann sie sich als stärkste Kraft der Region beständig im Gespräch halten. Hinzu kommt: Jeder einzelne bundesweite Beitrag, der sich in den vergangenen Wochen mit der Rolle der AfD im Osten befasst hat, ist für die Partei allen voran eines: eine Erfolgsmeldung.

7. Machtkämpfe nicht mehr auf offener Bühne

Der Partei kommt außerdem zugute, dass nach dem Austritt von Ex-Parteichef Jörg Meuthen und der Neuwahl des Bundesvorstands vor einem Jahr, deutlich weniger von den parteiinternen Macht- und Richtungskämpfen nach außen dringt. Das heißt nicht, dass es nicht weiterhin Streit gibt, nur findet dieser disziplinierter, leiser und subtiler statt. Für die Kernwählerschaft der AfD mag für die Wahlentscheidung nachrangig sein, wie geschlossen die Partei auftritt. Für Wechsel- oder Nichtwähler aber dürfte das Bild, das die Partei nach außen abgibt, einen deutlich höheren Stellenwert einnehmen.

8. Normalisierung

Die AfD wird zunehmend als normale Partei wahrgenommen. Das zeigen etwa Erhebungen zur Frage, ob man die AfD auf keinen Fall wählen würde. Laut dem Meinungsforschungsinstitut INSA hatten 2020 diese Frage noch 74 Prozent bejaht. Heute sind es nur noch 55 Prozent. Dem stehen laut INSA 24,5 Prozent gegenüber, die sich grundsätzlich vorstellen könnten, die AfD zu wählen.

Ein weiteres Indiz für die Normalisierung der Partei: Immer mehr Menschen halten die AfD für eine „normale demokratische Partei“: Heute sind es laut dem Institut für Demoskopie Allensbach 27 Prozent, im Jahr 2016 waren es noch 17 Prozent. Dabei findet diese Normalisierung zu einem Zeitpunkt statt, an dem die Partei so weit rechts steht wie nie zuvor.

Es ist es auch nicht ausgeschlossen, dass die Werte für die AfD noch weiter steigen werden. Einerseits zeigen Umfragen seit Gründung, dass die Partei ein maximales Wählerpotenzial von – je nach Umfrage – 20 bis 25 Prozent hat. Demnach hätte sie ihr Potenzial bereits weitgehend ausgeschöpft. Aber sollte der Normalisierungsprozess anhalten, könnte auch das Wählerpotential für die in weiten Teilen rechtsradikale Partei zunehmen.