Das Demonstrationsgeschehen rund um den Tag X zum Antifa-Ost-Verfahren
Die Aktionen und Proteste rund um die Urteilsverkündung im so genannten Antifa-Ost-Verfahren treten abermals Debatten rund um das Ausmaß polizeilicher und staatlicher Repression los. Darin die Visionen einer befreiten Gesellschaft zu markieren und vermittelbar zu machen, sollte nach Ansicht der Autor*innen zentral gesetzt werden.
Was ist passiert?
Wir haben über mehrere Tage erlebt, dass die Behörden versucht haben, jede politische Meinungsäußerung auf der Straße rabiat zu verhindern. Angefangen mit der Demo in Leipzig am Tag der Urteilsverkündung, die am Platz der Auftaktkundgebung gekesselt und zerschlagen wurde. Weiter mit der Repression gegen die Demo »Tag der Jugend« am Weltkindertag, den 1. Juni 2023. Ebenso wurden beim Massencornern am Freitag, den 2. Juni 2023, Genoss*innen verhaftet. Samstag, am 3. Juni 2023, dann der 11-Stunden-Kessel, die langandauernde Schikane und eine vorbereitete Eskalation: Minderjährige Kinder wurden aus dem Kessel nicht zu ihren Eltern gelassen; Menschen, die medizinische Versorgung benötigten, mussten von Demosanitäter*innen im Kessel behandelt werden; der Zugang zu sanitären Anlagen wurde in Einzelfällen gewährt, jedoch war unklar, ob Menschen dafür direkt in die Gesa müssen. Hunderte Handys wurden eingesackt und Menschen, bei denen Wechselklamotten vermutet wurden, wurden aufgrund dessen in die Gesa gebracht, anstatt aus dem Kessel entlassen zu werden. Tags drauf ein weiterer Kessel und die Personalienfeststellung für den Gesa-Support und das Demoverbot für die angemeldete Versammlung gegen die Polizeigewalt der nächsten Tage.
Was sticht heraus?
Dass der Staat nur selten eine Gelegenheit auslässt, Linke zu drangsalieren, überrascht uns nicht. Jedoch scheint das Vorgehen der Cops von langer Hand geplant worden zu sein. So wurde nicht nur in Leipzig die Demo am 4. Juni 2023 für Solidarität mit den Verurteilten von den Cops attackiert, auch in anderen Städten reagierten sie ähnlich. In Bremen beispielsweise sollte die Demo auf keinen Fall laufen. Wir betrachten das Agieren der Behörden auf der Straße als Ausläufer des Prozesses. Auch im Gerichtssaal sollte Stärke demonstriert und die antifaschistische Linke ruhiggestellt werden. Ebenso draußen. Und wir sehen, dass sich so viele Menschen bereits durch den aufgefahrenen Polizeiapparat aus Angst vor Polizeigewalt und Repression gar nicht erst auf die angemeldete Demonstration am Samstag getraut haben, geschweige denn eine Möglichkeit des Ausdrucks über den Gerichtsprozess und das Urteil finden konnten. Und die am Samstag, den 03.06. eingesetzte Repression wirkt, denn sie wird Menschen auch von der Teilnahme an zukünftigen Demonstrationen und Aktionen, die von einer erhöhten Repression betroffen sein mögen, abhalten.
Lasst uns dabei aber nicht vergessen: Trotz der Repressionsszenarien im Vorfeld, trotz der Größe des aufgefahrenen Polizeitaufgebots, trotz der Befürchtung, dass sich das »nicht lohnt«, sind so viele Menschen am Samstag auf die Straße gegangen, um ihrer Wut über das Urteil und über die Demoverbote Ausdruck zu verleihen. Und so viele der Eingekesselten sind auch am Montag wieder auf die Straße gegangen, um wiederum ihrer Wut gegenüber der erlebten Repression und Gewalt Ausdruck zu verleihen. Und so viele Genoss*innen haben im Hintergrund und im Nachgang Unterstützungsarbeit für die Eingekesselten und Inhaftierten geleistet und tun es noch. Lasst uns das nicht vergessen, denn das zeigt unsere Kraft und unser Zusammenhalten, auch in beschissenen Zeiten.
Ob friedlich oder militant?
Wir wissen, Militanz war, ist und bleibt notwendig – gerade, wenn wir die Welt grundlegend verändern wollen, werden wir nicht um sie herumkommen. Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, dass es möglich wäre, einfach friedfertig und geordnet aufzutreten, um solche Reaktionen staatlicherseits zu vermeiden. Jedoch halten wir es ebenso für falsch anzunehmen, dass wir gar keinen Einfluss auf folgende Repressionen haben könnten. Die Aufrufe im Vorfeld, die die Cops zu einer quasi-militärischen Konfrontation auffordern, sind eine Möglichkeit Einfluss auf den öffentlichen Diskurs und die staatlichen Reaktionen zu nehmen. Wir denken, dass es allen vorher hätte klar sein können, dass der offene Straßenkampf mit einer militarisierten, gepanzerten Polizei für die Linke nicht zu gewinnen ist.
Gleichzeitig müssen wir einräumen, dass wir selbst die letzten eineinhalb Jahre keine gute praktische Antwort gefunden haben, wie mit dem Antifa-Ost-Komplex umzugehen ist. Dabei war die Öffentlichkeitsarbeit im Vorfeld der WirSindAlleLinx-Demo im September 2021 ein Beispiel dafür, wie eine andere Haltung bei der Verteidigung von konsequentem Antifaschismus transportiert werden kann. Aus unserer Sicht ist diese kein Stück weniger radikal als die sich gegenseitig überbietenden Aufrufe der vergangenen Wochen. Sie zielt aber eher auf gesellschaftliche Verbreiterung als auf Abgrenzung, eher auf Gemeinsamkeiten als auf Unterschiede. Sie sucht, Verständnis zu schaffen bei den Antifaschist*innen, die in der Militanzfrage mehr Zwiespalt fühlen. Daran hätten wir anknüpfen müssen, das hätten wir ausbauen sollen. Wir sind überzeugt davon, dass wir es den Behörden dadurch schwerer gemacht hätten, gesellschaftliche Zustimmung für ihr Handeln zu schaffen. Der politische Schaden hätte dadurch für die Verantwortlichen wesentlich höher sein können, auch wenn er nicht in Euros zu messen gewesen wäre.
Besonders bedrückend ist für uns, dass auf der WSAL-Demo 2021 der Spielraum für Militanz viel größer war, eben weil es diese offene Arbeit im Vorfeld gab. Dass das so viele Autonome nicht sehen wollen, werden die offenen Konfrontationen weiterhin im Desaster für die Linke enden lassen. Ein weiteres Beispiel dafür stellen die Dresden-Nazifrei-Proteste Anfang der 2010er Jahre dar. Gerade die Breite der Aktionsformen ermöglichte Spielraum für Autonomie: Dass Zehntausende bunt demonstriert haben, und tausende Sitzblockaden veranstaltet haben, ermöglichte einigen Hunderten, mit Riot-Aktionen zur Verhinderung der Naziaufmärsche beizutragen.
Und nun?
Wir stehen vor dem Dilemma, dass die radikale Linke sich weiter ins Aus geschossen hat, weil sie es bisher nicht geschafft hat, mit der staatlichen Repression einen offensiven Umgang zu entwickeln. Das muss so schnell wie möglich gestartet werden. Ebenso müssen wir unsere Kanäle benutzen, um die Rechtswidrigkeit vieler Maßnahmen und die Rolle der Polizei als politische Akteurin anzukreiden. Das Versammlungsrecht und weitere Grundrechte wurden blutig erstritten, und wir sollten sie nicht preisgeben, selbst wenn sich der Bezug auf Paragraphen bieder anfühlt.
Als radikale Linke sollten wir dabei aber auch nicht den Fehler begehen, eine Anrufung eines reinen, guten bürgerlichen Rechtsstaates auszuführen. Wir alle wissen, dass es ihn nie gab, nicht gibt und nie geben wird. Die Gewalt ist der bürgerlichen Gesellschaft, der westlichen Demokratie und dem Kapitalismus grundsätzlich innewohnend. Vielmehr sollten wir durch die Skandalisierung von Polizeigewalt vermitteln, dass zur DNA des bürgerlichen Staats gehört, gewalttätig und repressiv zu sein (vgl. auch den Artikel der iL Frankfurt im Nachgang zu Lützerath). Und wir sollten uns stattdessen auf unsere Visionen einer befreiten Gesellschaft beziehen, um Menschen zu vermitteln, was emanzipatorische Alternativen zu der bürgerlichen Gesellschaft sind in der wir leben. Was wir mittelfristig aufbauen müssen, ist eine Strategiefähigkeit in der radikalen Linken. Wir sind alle scheiße wütend über das Urteil und die staatliche Repression, aber sich ausschließlich davon leiten zu lassen, macht uns berechenbar und damit leichter zu schlagen.
Wir wünschen uns eine ehrliche Auswertung der letzten Tage, Wochen und Monate auch in anderen Zusammenhängen, um daraus zu lernen. Gerne mit einem Anteil, der in der Öffentlichkeit stattfindet, gerne gemeinsam. Ihr wisst, wie ihr uns erreichen könnt. Wir hoffen, ihr seid dabei!
von Antifa AG von prisma/IL Leipzig zu „Krise der radikalen Linken“