Genau eine Woche nachdem Ertekin Ö. am 23.12. in Mannheim-Schönau auf offener Straße und vor den Augen von Freund_innen und Familienangehörigen von Polizeibeamten getötet wurde, organisierte die Initiative 2.Mai am 30.12. eine Kundgebung am Plankenkopf in Mannheim. Mehr als 300 Personen haben daran teilgenommen, um ihrer Anteilnahme Ausdruck zu verleihen sowie die öffentliche Aufmerksamkeit auf diesen erneuten Fall von tödlicher Polizeigewalt in Mannheim aufrecht zu erhalten und Kritik an der Polizei zu erheben.
In mehreren Redebeiträgen (u.a. DIDF, Initiative 2.Mai, Mannheim sagt Ja,…) wurden die Geschehnisse vom 23.12. noch einmal aus Perspektive von Zeug_innen und Angehörigen geschildert und Fragen an die Polizei gerichtet. Beispielsweise warum Angehörige vor Ort von der Polizei nicht in die Nähe von Ertekin gelassen wurden, was ihn hätte beruhigen können? Oder warum sich die betroffenen Polizeibeamt_innen nicht von Ertekin entfernt und damit versucht hätten die Situation zu deeskalieren, da deutlich gewesen sei, dass er keine Gefahr für andere darstellte? Diese und noch mehr Fragen würden Freund_innen und Angehörige von Ertekin Ö. seither nicht mehr schlafen lassen.
Als Tonaufnahmen wurden die Erfahrungen der Mutter des in den Niederlanden von Polizist_innen getöteten Sammy Baker (Justice for Sammy) und Aktiven der Initiative Justice4Mouhamed wiedergegeben, die sich anlässlich der Tötung von Mouhamed Dramé gründete, der 2022 in Dortmund von Polizist_innen erschossen wurde. Beide machten in inhren Botschaften darauf aufmerksam, dass es wichtig sei, sich in solchen Situationen zusammenzuschließen, das Andenken an die Getöteten zu bewahren und den Druck auf die Verantwortlichen hoch zu halten.
Weiterhin wurde auch auf die Verantwortung des Jugendamtes hingewiesen, das der Familie öfter Probleme bereitet haben soll. Auch Fehlentwicklungen im Gesundheitssystem wurden angesprochen, die dazu führen, dass Menschen, die Hilfe brauchen viel zu lang auf eine angemessene Behandlung warten müssten. Mit dem Hinweis, dass daraus resultierende Auswirkungen vor allem in Stadtteilen mit einem hohem Anteil an Bewohner_innen mit geringen ökonomischen Ressourcen und dichten Wohnverhältnissen auftreten, wurde die Kritik über individuelles Fehlverhalten der Polizei auch auf die gesellschaftlichen Verhältnisse gerichtet, die dafür sorgen, dass diese Stadtteile überwiegend von Arbeiter_innen und/oder Migrant_innen bewohnt werden. Diese Verhältnisse würden zudem dazu führen, dass Polizeibeamte mit einer anderen Einstellung und anderen Verhaltensweisen in benachteiligten Stadtteilen agieren würden, als beispielsweise in der Oststadt oder auf dem Lindenhof. Darin verbinden sich strukturelle Rassismen in der Gesellschaft und Vorurteile in Polizeibehörden. Deshalb wurde immer wieder auch auf die Frage verwiesen, ob die Polizei im Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen überhaupt die geeignete Institution darstelle oder ob der Einsatz einer bewaffneten Staatsgewalt nicht zwangsläufig immer wieder zu solchen tragischen Verläufen führt, wie bereits am 02.05. des vergangenen Jahres oder eben am 23.12.23.
Wie schwierig der Umgang mit solchen Fällen auf einen gemeinsamen politischen Nenner zu bringen ist, deuteten die beiden Redebeiträge von Vertretern der Gemeinderatsfraktion LiParTie und des Offenen Antifaschistischen Treffens Mannheim (OAT) an. Während der Mannheimer Stadtrat auf die vielen offenen Fragen verwies und forderte, dass nun endlich Konsequenzen folgen müssten, um das Vertrauen in die Polizei wieder herzustellen, stellte der Redner des OAT in Frage, ob das Vertrauen in weiten Teilen von Politik und Gesellschaft in eine bewaffnete Staatsgewalt nicht die eigentliche Ursache für gewaltvolle Auseinandersetzungen sei. Diese würden dann nicht aus Versehen und im Einzelfall, sondern zwangsläufig auch zu Todesfällen führen. Statt besserer Ausstattung, was schließlich eine umfangreichere Bewaffnung bedeuten würde, wurde von einer weiteren Redner_in der Interventionistischen Linken (IL) gefordert, eigene Macht und Möglichkeiten zur Bearbeitung von Konflikten zu schaffen, statt auf eine Staatsgewalt zu setzen, da Konflikte, die aus sozialen Problemen entstehen mit Waffen und Gewalt nicht gelöst, sondern lediglich unterdrückt werden können.
Auch wenn nicht absehbar ist, welche Folgen nun zu erwarten sind und ob Probleme hauptsächlich auf der individuellen oder institutionellen Ebene verortet werden, dürfte klar sein, dass sich viele Menschen in Mannheim nicht mehr damit abfinden wollen, dass die Polizei für sie und ihre Mitmenschen eine ernsthafte Gefahr darstellt. Auch der am 12.01. beginnende Gerichtsprozesses gegen die Polizeibeamten, die für den Tod von Ante P. am 02.05.22 in Mannheim verantwortlich sind, dürfte Anlass bieten das Thema Polizeigewalt in Mannheim weiterhin als eines der brisantesten politischen Themen derzeit zu erhalten.
Die öffentliche Beisetzung von Ertekin Ö. findet am Dienstag den 02.01.2024 um 15:00 Uhr auf dem Muslimischen Feld des Hauptfriedhofes Mannheim statt. Die Angehörigen haben alle dazu eingeladen, die ihrer Anteilnahme Ausdruck verleihen und die Familie unterstützen möchten.
Text: DeBe / Bilder: Alexander Kästle
Rede des OAT Mannheim
Es ist schwierig, anlässlich eines Mordes eine politische Rede zu halten. Man läuft Gefahr, die Trauer und die Wut der Angehörigen und Freund*innen zu instrumentalisieren, ihnen nicht gerecht zu werden. Immerhin wurde ein geliebter Mensch aus dem Leben gerissen und großspurige ‚Einordnungen‘ und ‚Analysen‘ warum und in welchem Kontext das passiert ist, können die Trauer nicht mildern – ändern nichts daran. Wir möchten an dieser Stelle unser ganzes Mitgefühl mit den Hinterbliebenen von Ertekin Ö. zum Ausdruck bringen, auch in dem Wissen, dass unsere politische Arbeit den Schmerz nicht lindern kann. Dennoch wollen wir erklären, warum wir sie für notwendig erachten.
Jedes Mal, wenn es darum geht, dass die Polizei schon wieder jemanden umgebracht hat, hört man einen Satz sehr häufig: „Das war kein Einzelfall!“ Er stimmt. Aber warum eigentlich? Nicht selten wird anhand etlicher Fälle aus der Vergangenheit, in denen die Polizei oder andere Sicherheitsbehörden Leben nicht geschützt, sondern bis aufs äußerste bedroht oder beendet haben – Oury Jalloh, Halit Yozgat, A.P. in Mannheim – gezeigt, dass es nicht das erste Mal ist und vermutlich auch nicht das letzte Mal sein wird. Statistiken von tödlichen Schüssen auf Menschen in psychischen Ausnahmesituationen werden herangezogen und auf umfassende Probleme wie aufgedeckte Nazi-Chatgruppen hingewiesen. Das ist ein Muster, aber noch keine Erklärung für dieses Muster. Wenn man es bei dieser Art von Aufklärungsarbeit belässt, dann werden die Exzesse und Skandale als Ausnahmefall eines sonst vermeintlich guten Normalzustandes dargestellt. Das ist ein Fehler.
Die polizeilichen Morde und Verfehlungen weisen nämlich auf einen viel weitreichenderen Umstand hin; dass das Verhältnis vom Staat zu seinen Bürger*innen ganz grundsätzlich ein Gewaltverhältnis ist. Dieses ist im Begriff Gewaltmonopol sogar rechtlich verankert. Jedes Gesetz, das im Bundestag beschlossen wird, ist nur insofern gültig, als dass es unter glaubwürdiger Androhung von Gewalt durchgesetzt werden kann. Wie vernünftig diese Gesetze im Einzelfall sind, ist egal – die eigene Zustimmung ist nicht gefragt, ob sie erfolgt, ist unerheblich. Diese staatliche Souveränität setzt die Polizei tagtäglich durch – und dafür braucht sie eben jede Menge Gewalt. Sie muss ständig überall einsatzbereit und allen potenziellen Anfechter*innen der staatlichen Souveränität gewaltmäßig absolut überlegen sein. An Gewalt und den dafür notwendigen Gewaltmitteln mangelt es daher nie. Das ist der Normalzustand und der ist ganz im Interesse des Staates. Wirklich erklärungsbedürftig sind erst die Einschränkungen des Gewaltmonopols.
Die wichtigste Einschränkung, die der Staat seiner Schlägertruppe in dieser Hinsicht auferlegt, ist es, die hoheitliche Gewaltanwendung im Dienst nicht zur Privatsache zu machen. Ausländer, Fusballfans oder Demonstrant*innen sollen doch bitte nur dann verprügelt werden, wenn sie eine Straftat begehen und nicht etwa, weil sie aus Sicht des Polizisten für die falsche Sache demonstrieren, Fans einer rivalisierenden Mannschaft sind, weil der Beamte vielleicht ein Rassist ist oder sich einfach nicht im Griff hat.
Doch hier hören die Einschränkungen für die Polizei nicht auf: auch auf die Verhältnismäßigkeit soll doch bitte geachtet werden! „Schmerzgriffe und Pfefferspray: okay, aber Gebrauch der Schusswaffe nur wenn es wirklich nicht anders geht!“
Diese Einschränkungen haben einen großen Vorteil für den Staat: kommt es zu einem Polizeimord wie am 23. Dezember auf der Schönau, dann wird das automatisch zu einer Frage der persönlichen Umstände des Schützen oder zu einer Frage der Verhältnismäßigkeit; dann wird gefragt ob der Beamte der Situation psychisch vielleicht nicht gewachsen und ob ein tödlicher Schuss wirklich notwendig war oder ob man nicht besser verbal deeskaliert oder sich zurückgezogen hätte. Die eigentlich interessante Frage, warum es überhaupt solche Menschen, mit tödlichen Schusswaffen braucht, wird nicht gestellt. Hier müsste eine radikale Polizeikritik, die nicht bloß auf die Wiederherstellung des guten Ansehens dieses Gewaltapparats in der Bevölkerung abzielt, ansetzen.
Genau daran kranken alle politischen Vorschläge, die unabhängige Kontrollstellen, lückenlose Aufklärung, mehr Diversität in der Polizei oder Sensibilisierungstrainings fordern. Sie alle laufen letztlich darauf hinaus, dass man dem in Verruf geratenen Freund und Helfer endlich wieder vertrauen können möchte. Daran, dass Gewalt – im Zweifelsfall auch tödliche, wie wir auf der Schönau sehen konnten – nicht nur in Kauf genommen, sondern für den Vollzug demokratischer Herrschaft vorgesehen und notwendig ist – daran kratzen diese konstruktiven Vorschläge kein bisschen.
Polizeigewalt ist eben kein Einzelfall, sondern hat System. Und wer diesen Satz ernst meint, der muss das ganze System Polizei in den Blick nehmen, nicht nur den Einzelfall.