„Ich nenne das Hyperpolitik“

Ob gegen rechts, gegen Polizeigewalt oder für das Klima: Warum blieben die großen politischen Proteste zuletzt so folgenlos? Der Historiker Anton Jäger hat eine Antwort.

Interview: Julia Lorenz und Ann-Kristin Tlusty

Kurz vor der Europawahl sind in vielen deutschen Städten Demonstrationen gegen rechts angekündigt. Die Zivilgesellschaft ist auf den Beinen, wieder einmal. Dabei scheint sie das im Grunde ständig zu sein: Alles ist heute hochpolitisch, sei es der Instagram-Auftritt oder die Wahl des richtigen Fortbewegungsmittels, und doch scheint sich wenig ernsthaft zu ändern in den Gesellschaften des Globalen Nordens. Warum? Dieser Frage geht der belgische Historiker Anton Jäger in seinem Buch „Hyperpolitik“ nach.

Anton Jäger
Anton Jäger, geboren 1994, wurde 2020 in Cambridge promoviert und ist derzeit Postdoctoral Research Fellow an der Katholieke Universiteit Leuven. In seinen Arbeiten beschäftigt er sich vor allem mit der Geschichte des ökonomischen Denkens. Sein Buch „Hyperpolitik – Extreme Politisierung ohne politische Folgen“ erschien letztes Jahr bei Suhrkamp.

ZEIT ONLINE: Herr Jäger, Anfang Januar veröffentlichte das Recherchenetzwerk Correctiv einen Bericht über ein Geheimtreffen zwischen AfD-Politikern und Rechtsextremen. Im Anschluss gingen deutschlandweit Hunderttausende gegen rechts auf die Straße. Viele erhofften sich nicht weniger als die Rettung der Demokratie. Heute gibt es nur noch vereinzelt Massenproteste, und recht stark ist die AfD noch immer. Wie erklären Sie sich das?

Anton Jäger: Es gibt eine breite Schicht in Deutschland, die sich gegen den Aufstieg der Rechtsextremen engagieren will. Aber wie wir jetzt wieder beim AfD-Protest sehen, ist es schwierig, dieses Engagement zu institutionalisieren. Zwar haben sich Gewerkschaften und Parteien eingebracht, aber diese organisatorische Infrastruktur ist größtenteils zu schwach. Ich nenne das Hyperpolitik.

ZEIT ONLINE: Was meinen Sie mit diesem Begriff?

Jäger: Eine Politisierung ohne Institutionalisierung, ein Engagement ohne robuste Organisation. Menschen sind zwar politisch engagiert, aber gleichzeitig ist es schwierig geworden, dieses Engagement dauerhaft zu konsolidieren. Es bleibt unstrukturiert und spontan.

ZEIT ONLINE: Immer wieder liest man, die Demokratie leide unter Politikverdrossenheit. Leidet sie am Ende gar nicht unter Verdrossenheit, sondern unter einer Mitmachkrise?

Jäger: Verdrossenheit und Hyperpolitik schließen sich nicht aus, sondern können sich auf gefährliche Weise abwechseln: Menschen, die sich aktiv mobilisieren, um sich dann wieder aus der politischen Arena zurückzuziehen. Hier spielt das heutige Tempo von Politik eine Rolle. Durch die Digitalisierung erleben wir kürzere Aufmerksamkeitszyklen, die dazu führen, dass Menschen schneller verdrossen werden. Das heißt nicht, dass sie sich nicht mehr einbringen, aber sie erleben Politik eher als erschöpfend denn als befriedigend.

ZEIT ONLINE: Sind Menschen heute also zu faul oder müde, um sich einzubringen?

Jäger: Nein, aber die Alternativen zu institutionalisiertem politischem Engagement sind heute vielfältiger als noch vor fünfzig Jahren. Es ist wesentlich leichter, eine Onlinepetition zu unterzeichnen oder einen Instagram-Post zu teilen als sich dauerhaft in einer Partei oder Gewerkschaft zu engagieren – die ihre ersten Gewinne vielleicht erst nach zehn Jahren erzielt. Die Einstiegs- und Ausstiegskosten für Engagement sind wesentlich geringer.

ZEIT ONLINE: Wie und wann kam diese Hyperpolitik auf?

Jäger: Man kann Hyperpolitik schwer ohne den Kontrast zu anderen Politikformen begreifen. Ich verwende dafür zwei gedachte Achsen: Wie stark sind Menschen politisiert – und wie stark sind sie institutionalisiert? Nehmen wir die Massenpolitik der 1920er- und 1930er-Jahre in der Weimarer Republik: Da war die Politisierung sehr hoch, und es gab durch Parteien wie die SPD, die KPD und auch die NSDAP eine starke Institutionalisierung. Politisches Engagement bedeutete damals: Man war Parteimitglied. Außerhalb von Parteien, Gewerkschaften und anderen Organisationen gab es sehr wenig Engagement. Als Reaktion auf die Wirtschaftskrise der 1970er-Jahre lösten Parteien und Wirtschaftsinteressen die Überreste dieser Massenpolitik nach und nach auf. So kamen wir in die Zeit der sogenannten Postpolitik: Die Institutionen waren schwach und die Menschen wenig politisch. Jetzt, in der Phase der Hyperpolitik, sind die Institutionen zwar immer noch schwach, aber die Stimmung ist wieder politischer.

ZEIT ONLINE: Ist breiter zivilgesellschaftlicher Protest tatsächlich wirkungslos, solange nicht mehr Menschen in Parteien, Organisationen und Gewerkschaften eintreten?

Jäger: Man kann schwer ohne Infrastruktur, ohne Institutionen dauerhaften Protest organisieren. Zugleich gibt es dabei ein ideologisches Problem: Die Anti-AfD-Proteste haben gegen die AfD mobilisiert, ohne die Umstände anzuklagen, die der Partei zum Aufstieg verholfen haben.

ZEIT ONLINE: Bei den Anti-AfD-Protesten vor einigen Monaten stellten sich die Demonstrierenden zwar gegen rechts, erhoben aber wenig konkrete politische Forderungen. Ist das auch Ausdruck des hyperpolitischen Zeitgeists: gegen etwas sein, sich empören, aber keine positive Vision anbieten können?

Jäger: Teilweise sicher. Bei hyperpolitischen Formen von Politik gehen Institutionalisierung und Visionen nicht zusammen. Ein Programm gibt es nur, wenn es Parteien gibt. In einer Bewegung ohne Vertretung gibt es so viele Meinungen, wie es Menschen gibt, die sich engagieren. Und wenn man diese Meinungen konkretisieren will, braucht man Institutionalisierung. Zur Zeit der Massenpolitik war das ziemlich autoritär, die Massenparteien haben ihre Mitglieder indoktriniert und deutlich gemacht: Das ist unser Programm, das ist unsere Weltanschauung.

ZEIT ONLINE: Trotzdem wirkt es so, als würden Sie sich auch heute wieder mehr und stärkere Parteikader wünschen.

Jäger: Kader gibt es in den heutigen Parteien zuhauf. In der Tat bestehen die meisten Parteien mittlerweile ausschließlich aus Kader. Das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass die Kader und die Basis nicht mehr zusammenfinden. Abgeordnete müssten wieder eine engere Verbindung zu den Leuten haben, die sie wählen, und die Bürgerinnen und Bürger müssten wieder das Gefühl haben, dass die Menschen an der Spitze die Macht auch in ihrem Sinne ausüben.

ZEIT ONLINE: Aber auch Bewegungen können Forderungen erheben, auf die sich alle einigen können. Die Black-Lives-Matter-Bewegung beispielsweise war getragen von der Forderung, der Polizei ihre Finanzmittel zu entziehen: „Defund the Police“. Trotzdem hat sich an der Situation in den USA wenig geändert. Warum ist die Bewegung wieder verebbt?

Jäger: „Defund the Police“ ist im Gegensatz zu „Gegen die AfD“ eine sehr konkrete Forderung. Und vereinzelt hat sie sich auch eingelöst: Einzelne US-amerikanische Polizeidepartements haben Geld verloren, aber es ein Jahr später wieder zurückbekommen. Und letztlich sind die hohen Polizei- und Gefängnisbudgets in den Vereinigten Staaten eine Folge der niedrigen Sozialausgaben. Diese sind nicht spektakulär angestiegen im Vergleich zu Europa. Daran sieht man: Um Herrschaftsformen dauerhaft zu ändern, um die soziale Machtbalance einer Gesellschaft zu stören, braucht es dauerhafte Organisation.

ZEIT ONLINE: Hat Black Lives Matter wirklich nichts weiter verändert?

Jäger: Natürlich, aber auf diskursiver Ebene: In den USA lässt sich beobachten, dass sich die Einstellungen zu Ehen zwischen Schwarzen und Weißen stark zum Positiven gewandelt haben, das hat sicher mit den Black-Lives-Matter-Protesten zu tun. Aber obwohl alltäglicher Rassismus zunehmend tabuisiert ist, bleiben die strukturellen Ungleichheiten weiterhin enorm, sitzen beispielsweise unheimlich viele Schwarze in US-amerikanischen Gefängnissen. Das ist ein grausames Paradox.

ZEIT ONLINE: Gibt es im europäischen Raum ein ähnliches Paradox zwischen diskursiver und struktureller Ebene?

Jäger: Ja, im Bereich der Klimapolitik. Parteien und Politiker brauchen heute ein Klimaprogramm, selbst auf rechter Seite. Das haben auch die Schulstreiks und Klimaproteste bewirkt, ohne sie wäre die Klimafrage heute lange nicht so prominent. Aber auf global-ökonomischer Ebene tut Europa lächerlich wenig, um die Gesellschaft im Sinne des Klimas zu transformieren.

ZEIT ONLINE: In Ihrem Buch erwähnen Sie Max Webers berühmten Ausspruch, Politik sei das „starke und langsame Bohren von dicken Brettern“. Das klingt nach Qual – und schrecklich uninteressant. Was muss passieren, damit sich Menschen wieder für diese Prozesse interessieren?

Jäger: Wann bohrt man dicke Bretter gern? Wenn man ein Haus baut. Das dauert lang, bedeutet viel Arbeit – aber wenn dann am Ende das Haus steht, ist man vielleicht euphorisch. Übersetzt bedeutet das: Es braucht eine Strategie der Geduld. Man darf nicht erwarten, dass der nächste Streik, die nächste Demonstration direkt etwas ändert. In unserer heutigen politischen Kultur gibt es einen short termism, eine Kurzfristigkeit von Einsatz und erwartetem Ertrag, der für viele attraktiv ist, aber schnell an seine Grenzen stößt.

ZEIT ONLINE: Sie haben eingangs selbst gesagt, dass die Massenpolitik, wie man sie vor hundert Jahren kannte, auch etwas Autoritäres hatte. Ist es vor diesem Hintergrund nicht fatal, sich Massenorganisationen zurückzuwünschen?

Jäger: Klar, die NSDAP war auch Massenpolitik, und wir sollten sehr froh sein, dass es solche Organisationen nicht mehr gibt. Ich weiß natürlich, dass Massenpolitik ein eiserner Käfig sein konnte. Die Frage ist heute: Wie kann man Menschen remobilisieren und reinstitutionalisieren, ohne zu erwarten, dass sie jeden Sonntag in die Kirche gehen oder glauben, dass der Parteikommissar allmächtig ist?

ZEIT ONLINE: Vielleicht sind die Bedingungen für Massenpolitik einfach nicht mehr gegeben. Die Welt war vor hundert Jahren ja eine völlig andere.

Jäger: Massenpolitik war mit einem wirtschaftlichen Regime verbunden, mit der industriellen Arbeitsorganisation. Es gab die gleichen Hierarchien in der Fabrik wie in der Partei. So könnte man Politik heute nicht mehr organisieren. Das wäre, wie einen Dinosaurier zu klonen: ein interessantes Experiment, aber nicht langlebig. Aber abgesehen von dem Historikerklischee, dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigen kann, sehe ich nicht ein, warum die politischen Institutionen nicht auch wieder stärker werden könnten. Schwierig heißt schließlich nicht unmöglich.

ZEIT ONLINE: Kennen Sie denn – abseits etablierter Volksparteien – Beispiele für gesellschaftliche Organisationen oder Parteien, denen es zuletzt gelungen ist, langfristig viele Menschen hinter sich zu versammeln?

Jäger: In Belgien gibt es die PTB, die Partei der Arbeit, fast die einzige linke Partei in Europa, die gerade ziemlich stark ist – neben der österreichischen KPÖ. Und auf der rechten Seite gibt es in Flandern die Partei Vlaams Belang, die auch stark institutionalisiert ist. Beide Parteien kombinieren ihr massenpolitisches Moment mit einer digitalen Strategie.

ZEIT ONLINE: Was genau machen diese Parteien richtig?

Jäger: Weder die KPÖ noch die PTB oder die Vlaams Belang leben nur im Internet. Sie sind lokal sehr stark, haben etwa Volkshäuser gekauft. Das ist nur ein Detail, aber die Vlaams Belang führt in den Regionen, wo sie am stärksten ist, eine Liste mit den Geburtstagen ihrer Mitglieder. Und dann kriegt jeder einen Geburtstagsgruß. Solche Maßnahmen sind nicht autoritär, aber sie binden die Mitglieder an die Partei. Die PTB hält enge Beziehungen zu den Gewerkschaften und stellt gleichzeitig kostenlose Arztpraxen für die Bürger zur Verfügung. Diese Parteien erfüllen konkrete Wünsche ihrer Wähler und machen ihnen konkrete Versprechungen. Sie sind ihre Dienstleister, so wie andere Parteien selbstverständlich Dienstleister der Reichen sind.

ZEIT ONLINE: Nette Gesten können ja nicht alles sein, um die Menschen wieder stärker zu politisieren. Steckt in der Hyperpolitik generell ein Potenzial?

Jäger: Es war Bertolt Brecht, der vom „politischen Analphabetismus“ gesprochen hat. Er meinte damit, dass es Menschen gibt, die auf die Politik schauen, wie sie auch aufs Wetter schauen: So ist das halt, man kann nichts daran ändern. Die Hyperpolitik hat eine neue politische Alphabetisierung mit sich gebracht. Das genügt noch nicht, aber es ist sicher ein Anfang.