Die Wahlen in Europa offenbaren Verschiebung. Die Ursachen werden kaum verhandelt.
Die linke Allianz rettete die Französische Republik. Am 7. Juli konnte sich die »Nouveau Front Populaire« (Neue Volksfront, NFP) als stärkste Fraktion etablieren. Am Sonntagabend stand fest: Die NFP um Jean-Luc Mélenchon liegt bei den Stichwahlen für das Parlament vor den Macronist*innen und Lepenist*innen. Der »Rassemblement National« (Nationale Sammlungsbewegung, RN) um Jordan Bardella erreichte nicht die erhoffte Mehrheit, wurde drittstärkste Kraft. Nach dem Erfolg von Marine Le Pen bei der Europawahl wurden viele besorgte Stimmen laut. Eine von ihnen: Kylian Mbappé. Auf einer Pressekonferenz der französischen Fußballmannschaft vor dem Viertelfinale der Europameisterschaft (EM) in Deutschland sagte Mbappé, das anstehende Spiel sei »extrem wichtig«, aber »wesentlich wichtiger« wäre die Wahl. Und der Mannschaftskapitän der »Bleus« führte weiter aus: »Wir müssen uns doch mit unseren Werten identifizieren, mit der sozialen und kulturellen Vielfalt, mit Toleranz und Respekt.« Das »Land dürfe nicht in die Hände dieser Leute« fallen, schob er später nach. Der RN hörte die Absage an sie nicht gern. Bardella blieb jedoch anfänglich freundlich, lobte die sportlichen Leistungen des Fußballstars und meinte nur, der Star kenne das Leben der einfachen Leute nicht. Später, am Wahltag, schimpfte Le Pen über den Torschützenkönig der Weltmeisterschaft 2022: »Die Franzosen haben es satt, belehrt und beraten zu werden, wie sie wählen sollen.« Viele der französischen Spieler bei dieser EM haben allerdings selbst rassistische Anfeindungen erleben müssen. Sie kommen aus den berüchtigten Banlieues von Paris, Marseille oder Lyon. Nach der Europawahl war die Mannschaft in der Kabine vom RN-Wahlergebnis schockiert gewesen, berichtete Mbappés Sturmpartner Marcus Thuram. Der RN hatte die Wahl mit 32,4 Prozent gewonnen.
Bei der EM möchte die »Union of European Football Associations« (UEFA) nicht so gern politische Signale sehen. »Sport ist Sport und Politik ist Politik« ist eine Selbstlüge des Sports. Schon ein Handzeichen des türkischen Nationalspielers Merih Demiral widerlegte auch dieses Mantra. Demiral zeigte das Symbol der »Grauen Wölfe« (GW) nach seinem zweiten Tor gegen Österreich im Achtelfinale.
Beides, die Statements und die Geste, empfanden die Sportfunktionär*innen als unpassend und die Spiele belastend. Unpassend für eine EM sollte allerdings nicht die Warnung vor Rechtsradikalismus sein, sondern allein das Werben für Rechtsradikalismus. Die UEFA rang sich aber letztendlich doch zu einer Reaktion durch. Für zwei Spiele suspendierte sie Demiral. Der öffentliche Druck dürfte mit entscheidend gewesen sein. Dieser Disput führte zu diplomatischen Verstimmungen. Kein Geringerer als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan kam zum Viertelfinale der Türkei gegen die Niederlande nach Berlin. Er wolle der türkischen Mannschaft den Rücken stärken, da die Reaktion übertrieben sei. »Sagt jemand etwas darüber, dass auf den Trikots der Deutschen ein Adler ist? Sagt jemand etwas darüber, dass auf den Trikots der Franzosen ein Hahn ist und warum sie sich wie Hähne aufspielen?« fragte Erdo?an rhetorisch. Nein, darf dennoch geantwortet werden, denn weder der Adler noch der Hahn stehen für eine rechtsradikale Organisation. Den Sieg konnte Erdoğan mit der Mannschaft dann aber nicht feiern.
Das »Sommermärchen« ist zwar durch das Ausscheiden der deutschen Mannschaft nicht mehr so ergreifend, doch das Image eines weltoffenen Landes soll nicht getrübt werden. Schon bei der WM 2006 wurden für das Märchen die angestiegenen rassistischen Übergriffe ausgeblendet. Diese Ausblendung verklärt die Tatsache, dass ein »Party-Patriotismus« zu verstärktem nationalistischen Denken führt. Patriotische Wenden sind aber europaweit wahrzunehmen. Die Wahlen in Europa spiegeln die Folgen.
In den Niederlanden konnte Geert Wilders am 2. Juli, sechs Monate nach der Parlamentswahl, eine Regierung bilden. Mit der Wahl wurde am 22. November vergangenen Jahres die »Partei für die Freiheit« (PVV) von Wilders zur stärksten Fraktion. Die PVV ist mit der vorherigen konservativ-liberalen Regierungspartei, die »Volkspartei für Freiheit und Demokratie« (VVD) sowie den Parteien »Neuer Sozialvertrag« (NSC) und »Bauer Bürgerbewegung« (BBB) nun Regierungspartei. Diese Allianz mit Rechtsradikalen löste bisher kein lautes kritisches Echo aus. Leise wird sie in Europa zur Kenntnis genommen. Vielleicht auch, weil manche Politiker*innen an solche Entgrenzungen denken, um die Macht zu halten oder zu erhalten? Sag niemals Nein könnte das neue Ja werden. Flirtete nicht eine Ursula von der Leyen leicht mit einer Giorgia Meloni? Möchte doch die alte Präsidentin der Europäischen Kommission die neue Präsidentin werden. Ein vermeintlicher Fakt ist jetzt aber sicher, Meloni an der Macht ist nicht Meloni im Wahlkampf, was suggeriert wird. Diese Annäherungen führen zur Anerkennung, zur Relativierung der Radikalität. Die Erfolge des RN sind der Normalisierung ihrer Partei mit ihren Positionen geschuldet. Spätestens mit der Namensänderung 2018 gelang es Marine Le Pen nach und nach, die Entdämonisierung voranzutreiben. Der Cordon Sanitaire, das heißt die Abgrenzung zu einer solchen Partei, schwindet. In Österreich liegt schon seit Jahren um die FPÖ kein »Isolationsgebiet«. Solche Tendenzen spielen der AfD zu.
Bei der Landtagswahl in Hessen sagten 80 Prozent der AfD-Wähler*innen: »Es ist mir egal, ob sie in Teilen als rechtsextrem gilt, solange sie die richtigen Themen anspricht.« Diese Aussage hätten vielleicht einige Parteiforscher*innen im Osten erwartet, aber nicht im Westen. Jene geografische Verortung ist stets eine Projektion aus den alten Bundesländern. Verkürzte Wahlanalysen zu Europa- und Landeswahlen verzerren Diskussionen. Das gilt auch für den durchgängigen Ton, »die Jugend« wähle rechts. In Deutschland stimmten bei der EU-Wahl auch erstmals 16 Prozent der 16- bis 24-Jährigen für die AfD. Ohne den starken Einbruch bei den Grünen auszublenden, erreichten diese dennoch elf Prozent dieser Altersgruppe. Werden Die Linke mit sechs Prozent und Volt mit neun Prozent mitgezählt, so wählte 26 Prozent »der Jugend« grün-links-liberal – für Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit und Seenotrettung. In Frankreich zeichnete sich beim ersten Wahlgang ebenso ab, dass von »der Jugend« schwer zu sprechen ist. 33 Prozent der 18- bis 24-Jährigen wählt den RN, aber 48 Prozent NFP.
Die Entwicklungen in den Ländern sind schwer zu vergleichen. Sowohl die geschichtlichen Prozesse als auch die gegenwärtigen Situationen sind in Nord und Süd, Ost und West unterschiedlich. Ein Aspekt könnte eventuell grenzübergreifend tragen. »Die Jungen piepen, wie die Alten pfeifen«, schrieb Heinrich Heine 1824 in »Die Harzreise«. Der rechte Wahlzuspruch »der Jugend« könnte der rassistischen Atmosphäre in den europäischen Ländern geschuldet sein. Diese Ressentiments hegen und pflegen »die Erwachsenen«. Die Studie »Being Black in the EU« der European Union Agency for Fundamental Rights in 13 EU-Staaten stellte im Oktober 2023 fest: »45 % der Befragten gaben an (…), Opfer von Rassismus geworden zu sein.« In Deutschland und Österreich gaben 70 Prozent der Befragten an, abgelehnt oder angefeindet zu werden. Vor allem bei der Arbeits- oder Wohnungssuche würden sie diskriminiert. In ihrem Grundrechte-Report 2024 schreibt die Agency, »in ganz Europa« nehme die »Intoleranz zu und würde »viele Gruppen« treffen: Muslime, Menschen afrikanischer Abstammung, Roma, Migrantinnen und Migranten«. Der Antisemitismus sei ebenso alarmierend. Bei den Wahlen spiegelten sich die Einstellungen gerade bei den arbeitenden Wähler*innen in ihrer Wahl wider. Die sozialdemokratischen und linken Parteien haben ihre Bindungskraft schon lange verloren. Die Arbeitenden driften nach rechts. Ein Aspekt: Die Industriearbeiter*innen in den reichen Staaten sind die Hauptverlierer*innen der Globalisierung, wie Klaus Dörre in »Stolz, Arbeiter:in zu sein« feststellt. Im Essay aus dem aktuellen Sammelband, von Matthias Quent und Fabian Virchow »Rechtsextrem, das neue Normal?« herausgegeben, führt der Professor für Wirtschaftssoziologie aus, die Arbeiter*innenschaft werde politisch marginalisiert durch Ignoranz der Lebens- und Arbeitswelt. Das »Klassenbewusstsein« sei zudem einer »Klassenahnungslosigkeit« gewichen. Der europaweit vorherrschende Neoliberalismus in der Wirtschafts- und Sozialpolitik verstärke die Konkurrenz unter den Ärmsten der Armen um Arbeit und Wohnen. Statt »spontane Klassenerfahrung in exklusiver (…) Solidarität« zu versuchen, erfolge vielmehr eine »ausgrenzende Solidarität«, so Dörre. Nicht allein durch Rechtsradikale, die von »dem Volk« sprechen.
»Ein guter Mensch sein? Ja, wer wär’s nicht gern? (…) Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so«, dichtete Bertolt Brecht in der »Dreigroschenoper« 1928. Die beklagten Verhältnisse haben sich nicht geändert. In der Pandemie wurden die Ärmsten ärmer und die Reichen reicher. Édouard Louis schildert vor COVID-19 in »Wer hat meinen Vater umgebracht?«, wie ein körperlich arbeitender Mann 2016 durch die Lockerung des Kündigungsschutzes und der Verpflichtung zu Überstunden mehr und mehr ausgebeutet wird, bis er körperlich nicht mehr kann und so die rassistischen und homophoben Dispositionen langsam zu den vorherrschenden Einstellungen werden. Louis führt aus: 2017 hat Emmanuel Macron öffentlich von »Faulpelzen« gesprochen und den »ärmsten Franzosen fünf Euro pro Monat« bei der Wohnungshilfe weggenommen. »Am selben Tag oder so gut wie am selben, unwichtig; kündigte er eine Absenkung der Vermögenssteuer an (…). Macron stiehlt dir das Essen direkt vom Teller«, schreibt Louis 2019 an seinen Vater, der ihn wegen seiner Homosexualität lang verachtete. Louis’ Vorbild Didier Eribon legte 2024 mit »Eine Arbeiterin« nach, als er die Entwertung des Lebens seiner arbeitenden Mutter beschrieb, bis ihr nur »Stolz (…) weiß« zu sein blieb.
Die Anhänger*innen des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) mögen hier eine Abkehr von der ausgemachten Wokeness sehen. Louis und Eribon fordern aber keine Grenzen für Geflüchtete oder Förderung des Mittelstands. Die »Klassenflüchtigen« wollen ein divers libertäres Klassenbewusstsein. Sie wollen nicht mit rechten Ressentiments rechten Wähler*innen hinterherlaufen, um sie wieder zu gewinnen.
Diese Politik hat den Erfolg der Rechten bei der Europawahl mit ermöglicht. Sie haben mehr Mandate gewinnen können. Rechte Programme nicht aufgreifen, eigene politische Alternativen benennen kann allerdings zu parlamentarischen Erfolgen führen. In Finnland, den Niederlanden und Portugal konnten Linke, Grüne und Sozialist:innen die Wahlgunst für sich gewinnen. Die Botschaft der Wahl in Frankreich ist eindeutig: Stoppt die neoliberale Entsolidarisierung. Ein Macron hört sie nicht. Für Louis gehört er zu den Mördern seines Vaters.
Dieser Artikel stammt vom antifaschistischen Magazin der rechte rand. Wir können euch nur wärmstens ans Herz legen dort einmal zu stöbern! „der rechte rand“ veröffentlicht Recherchen und Analysen sowohl über historische Ereignisse als auch über aktuelle Themen. Alle zwei Monate erscheint das Magazin, einzelne Artikel daraus werden auf der Website veröffentlicht.