Der absurde Verfolgungseifer gegen Antifaschist:innen

Ungarn: Hate Crime gegen Neonazis? Antifas in Haft.

Die Gruppe „Budapest Solidarity Berlin“ gibt einen Überblick über die Situation nach den Verhaftungen von zwei Antifaschist:innen aus Deutschland und Italien im Februar 2023 in Budapest.

Budapest Solidarity Berlin (Gastbeitrag beim antifaschistischen Infoblatt)

Seit über einem halben Jahr sitzen Tobi, ein Berliner Genosse, und eine Mailänder Genossin in Budapester Untersuchungs-Haft.1Um die Wünsche der Inhaftierten zu berücksichtigen, wird im Artikel nur ein Name genannt. Sie harren dort nicht nur unter besonders schlechten Bedingungen, Teilisolation und Schließer:innenwilkür aus – etwas, dass wir2„wir“ meint die Autor*innen von „Budapest Solidarity Berlin“ vom Knastsystem nicht anders erwarten, sondern sie sind darüber hinaus inhaftiert in einem rechtsautoritären Staat, der ein besonderes politisches Interesse an der Verfolgung westeuropäischer Antifaschist:innen hat.

Ungefähr ebenso lang werden mindestens sechs weitere Genoss:innen durch einen europäischen Haftbefehl im gleichen Zusammenhang in Budapest gesucht. Deutsche Behörden unterstützen und haben selbst Ermittlungen aufgenommen.

Ein von der ungarischen Polizei „@PoliceHungary“ produzierter Videoclip inszenierte die Festnahme von Tatverdächtigen und trägt auf deren Youtube-Kanal den tendenziösen Titel „Gewalt gegen ein Mitglied der Gemeinschaft“ („Közösség tagja elleni erőszak“).

Dass die beiden Genossen:innen nach einem legalen europäischen SS-Gedenken in einer ungarischen Zelle sitzen und nicht einer der zahlreichen und gewaltausübenden Neonazis, spricht Bände darüber, wen die ungarischen Behörden als politische Gegner:innen verstehen. Es weist wenig darauf hin, dass die Haftbefehle fallen gelassen und die inhaftierten Genoss:innen frei gelassen werden.

Dass die ungarischen Polizeibehörden die Verhaftung der ursprünglich drei Genoss:innen nicht als eine ,gewöhnliche‘ Straftat behandeln werden, zeigte die ausgreifende und im TV ausgestrahlte Pressekonferenz der Budapester Polizei. Darin bemühten sich zwei Polizeioffiziere die angegriffenen Neonazis als unbescholtene Opfer darzustellen, während die Verhafteten als besonders gefährliche Gewalttäter:innen erscheinen sollten.

Kein Wunder in einem Land, dass sich mitten im autoritären Umbau der Öffentlichkeit und des Staates befindet. Der Rechtsruck von Victor Orban und der Fidesz-Partei3Fidesz – Magyar Polgári Szövetség („Fidesz – Ungarischer Bürgerbund“) bringt nach und nach die Medienlandschaft unter Kontrolle und behindert kritische Stimmen. Die Arbeit der Opposition und NGOs, die sich beispielsweise für die marginalisierte Roma-Bevölkerung oder Anerkennung sexueller Vielfalt einsetzen, wird immer weiter eingeschränkt. Kriminalisierung und Repression gegen Aktivist:innen sind dabei zentraler Teil des politischen Programms. Das wird auch durch die wachsende politische Kontrolle der Fidesz-Exekutive gegenüber dem Justizapparat und Richter:innenschaft ermöglicht, wie bspw. der Amnesty International Bericht „Status of the Hungarian Judiciary“ (2021) dokumentiert.

Darüber hinaus ist es für uns wegen sehr sparsamer Behördeninformationen und Sprachbarrieren schwierig die Situation vor Ort einzuschätzen. Trotzdem ist klar: Die Auswirkungen des rechten Staatsumbaus prägen die Ermittlungen und sind auch in den zukünftigen Gerichtsprozessen zu erwarten. Die ungarischen Anwält:innen haben uns gegenüber geäußert, dass es nur noch wenige Richter:innen gibt, die nicht auf Orbans Linie sind.

Was wird den Genoss:innen bisher vorgeworfen?

Zuerst standen die Verhafteten in Verdacht „Gewalt gegen Mitglieder einer Gemeinschaft“ in besonders schweren Fällen (mehrfach, in einer Gruppe und bewaffnet) ausgeübt oder geplant zu haben. Dass die Staatsanwaltschaft diesen Strafrechtsparagraphen 216 anwendet ist absurd und verrät etwas über deren Bewertung darüber, was es heißt Neonazi zu sein. Der Paragraph 216 des ungarischen Strafgesetzbuches anerkennt die besondere Schwere einer Gewalttat gegen gesellschaftlich diskriminierte Gruppen wie LGBTQI-Personen, ethnische ,Minderheiten‘  oder Personen mit Behinderung. Unterm Strich unterstellt die Budapester Staatsanwaltschaft, Neonazis wären eine diskriminierte Minderheit und die Genoss:innen hätten ein Hate Crime gegen Neonazis begangen. Eine weitere bittere Ironie begleitet den Vorwurf: Diese Hate-Crime-­Regelung ist erst auf Druck der Europäischen Union für stärkere Antidiskriminierungsgrundsätze ins ungarische Strafrechtssystem aufgenommen worden.

Zur Zeit wird die direkte Tatbeteiligung nur noch gegen die Mailänder Genossin aufrecht erhalten. Es drohen ihr dafür eine über zehnjährige Haftstrafe. Für den Vorwurf gegen Tobi scheinen die Ermittler:innen nicht ausreichend Indizien präsentieren zu können. Seit April 2023 wird er „nur noch“ beschuldigt, Mitglied in einer kriminellen Vereinigung zu sein, die hinter den Angriffen auf Neonazis in Budapest im Februar 2023 stünde. Dafür drohen ihm ein bis fünf Jahre Haft. Wir vermuten, dass hinter dieser Änderung auch das Interesse steht, Tobi trotz mangelnder Indizien weiter im Knast festhalten zu können. Die Erkenntnislage scheint so dünn zu sein, dass die ungarische Staatsanwaltschaft sich Akten aus dem „Antifa Ost-Prozess“ schicken ließ, um ihre Vorwürfe zu unterfüttern.

Doch die deutschen Behörden tauschen nicht nur Akten mit dem ungarischen Justizapparat aus. Sie sind auf eigene Faust tätig geworden: Am 15. Februar 2023 wurden in diesem Zusammenhang zwei Wohnungen in Berlin durchsucht. Einen Tag später haben die Generalstaatsanwaltschaft Dresden und die Staatsanwaltschaft Berlin Ermittlungen gegen sieben Personen wegen gefährlicher Körperverletzung in Budapest aufgenommen – wieder mal unter der Federführung des LKA Sachsen.

Seit Ende Februar 2023 sucht die ungarische Polizei mit Haftbefehlen nach drei weiteren Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit. Am 15. März 2023 gab es auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Dresden drei Razzien in Leipzig und fünf in Jena. In Thüringen wurde diesbezüglich offenbar eine Sonderkommission des Staatsschutzes im LKA gebildet.

Auf „Anti-Antifa“-Internetseiten, rechten Blogs und in Teilen der ungarischen und deutschen (rechten) Presse werden diese Fahndungen, inklusive Fotos und Namen der Betroffenen, vielen Spekulationen und auch massive Hetze geteilt und bejubelt.

Der Zustand des Rechtsstaates spiegelt sich auch in den Haftbedingungen in Ungarn als den härtesten in Europa wieder. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied schon 2015, dass Ungarn präventive und entschädigende Maßnahmen einführen sollte. Auch die BRD ist sich diesen Verhältnissen bewusst, so werden bei einer Verrechnung ein Tag Freiheitsentzug in ungarischen Gefängnissen als drei Hafttage in Deutschland gezählt.

Die Informationen, die uns die Genoss:innen zutragen, bestätigen dieses Bild der miserablen Bedingungen: Besonders die Isolation macht den Inhaftierten zu schaffen. In den ersten Wochen hatten sie keinen Kontakt zur Außenwelt, außer zu ihren ungarischen Anwält:innen. Die italienische Genossin wurde mehrere Wochen in Isolationshaft festgehalten. Es war nicht möglich Briefe, Geld und Pakete in die Gefängnisse zu senden. Den Genoss:innen fehlte es so nicht nur am sozialen Austausch, sondern auch am Nötigsten. Über Wochen hatten sie nur die Kleidung zur Verfügung, die sie bei der Inhaftierung mit sich trugen. Die Ernährung der Inhaftierten ist darüber hinaus kaum ausreichend, wenn man die miserable Essensausgabe nicht durch Einkäufe des gefängniseigenen Ladens aufstocken kann. Jene Einkäufe, die oft willkürlich gestrichen werden, waren ohne Kontakte, die Geld auf das Haftkonto überweisen, lange Zeit gar nicht möglich.

Der Nahrungsmangel ist jedoch nicht der einzige Angriff auf die Gesundheit der Inhaftierten. Hofgänge sowie das Recht auf eine Duschmöglichkeit hängen vom Gutdünken der Wärter:innen ab und werden auch mal für zwei Wochen entzogen. Im Sommer haben sich die Räume bis auf über 40 Grad erhitzt, während gleichzeitig die Möglichkeit, Fensterklappen zu öffnen, verboten wurde. Es sind vereinzelt Mithäftlinge aufgrund der Hitze kollabiert. In ungarischen Gefängnissen wimmelt es von Bettwanzen und anderen Insekten. Krankheiten können sich fast ungehindert ausbreiten. Leider macht sich die kaum vorhandene medizinische Versorgung immer stärker bemerkbar. Mehrmals wurde bei Verhören und richterlichem Anhörungen ,vergessen‘, den Rechts­beistand der Genoss:innen über  die Termine zu informieren oder vorher ausreichend mit Informationen zu versorgen.

Die Verhaftungen und Verfolgungen sind als Angriffe auf die antifaschistischen Bewegungen in Ungarn und Deutschland zu verstehen. Der Kontext ist die erfolgreiche Mobilisierung durch die Kampagne ,NS-Verherrlichung stoppen‘ und ungarischer linker Gruppen gegen das neonazistische Gedenken zum „Tag der Ehre“ in Budapest, welches zu den wichtigsten Vernetzungstreffen der europäischen Neonaziszene zählt.

Wir erwarten einen politischen Prozess, der die autoritären Tendenzen weiter stärken und gegen jedweden progressiven Aktivismus mobil machen soll. Wir stellen uns auf ein langwieriges Verfahren und auf eine lange Zeit der Unsicherheit mit Tobi und der italienischen Genossin in Untersuchungs-Haft ein. Die Isolation der Genoss:innen von ihren Freund:innen und Gefährt:innen erschwert die Solidarität. Sie macht sie jedoch nicht unmöglich. Wir freuen uns über Unterstützung jeder Art – Öffentlichkeit, Geld, politischen Druck und gute Einfälle, wie wir unsere Genoss:innen aus dem Knast kriegen.

Nachtrag:

In der Nacht vom 20. auf den 21. November 2023 wurde Gabriele aus Mailand verhaftet und ins Gefängnis von San Vittore gebracht. Nach der ersten Anhörung wurde ihm am Mittwoch, den 22. November 2023, Hausarrest mit allen Einschränkungen gewährt, wo er sich derzeit befindet. Ein von Ungarn ausgestellter Europäischer Haftbefehl lastet auf ihm wegen der Ereignisse vom Februar 2023, als einige Neonazis in Budapest anlässlich des „Tages der Ehre“ angegriffen wurden. In Berlin wurde am 11. Dezember 2023 eine weitere Person im Zusammenhang mit dem Budapest-Komplex verhaftet und in Untersuchungshaft genommen.

Mehr Informationen unter:

www.budapest-solidarity.net

www.basc.news

Spenden bitte an:

Rote Hilfe e.V.

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Stichwort: Budapest

 

Dieser Artikel ist ein Gastbeitrag beim antifaschistischen Info-Blatt. Schaut gerne mal dort vorbei! Dort gibt es immer wieder gute Rechercheartikel über die rechte Szene, aber auch politische Analysen und Berichte rund um das Thema Anitfa und darüber hinaus.


Aktenzeichen XY abgetaucht

Die ungarische Polizei fahndet international nach Antifaschist*innen – in Deutschland basteln sich die Behörden eine neue RAF

Von Carina Book (analyse & kritik)

Der Aktenzeichen XY Preis für die wildeste Überreaktion des Jahres geht an: Ungarn. Foto: Atamari/Wikimedia , CC BY-SA 4.0 DEED

Was bedeutet es, wenn ein rechtsautoritärer Staat wie Ungarn mit internationalen Haftbefehlen nach Antifaschist*innen fahndet? Was ist die Konsequenz, wenn deutsche Strafverfolgungsbehörden gemeinsam mit rechten und rechtskonservativen Medien eine neue RAF konstruieren? Diese Geschichte beginnt vor rund zehn Monaten, am 9. Februar 2023, in Budapest – kurz vor dem sogenannten Tag der Ehre. Wo und wie sie endet, hängt davon ab, ob es gelingt, die massive Repressionsspirale in Deutschland zu durchbrechen.

Tag der Ehre

Jedes Jahr am 11. Februar versammeln sich hunderte Neonazis aus ganz Europa in Budapest, um in geschichtsrevisionistischer Manier den tausenden deutschen Nazisoldaten und ihren ungarischen Kollaborateuren zu huldigen, die 1945 versuchten, die Belagerung der Roten Armee zu durchbrechen, was einem Selbstmordkommando gleichkam.

Darauf basiert ein rechter Heldentod-Mythos, der neonazistische Gruppen alljährlich zum massenhaften kollektiven Abhitlern motiviert – weitgehend ungestört von den ungarischen Behörden. In diesem Jahr blieben die Neonazis allerdings nicht ungestört. Schon zwei Tage vor dem Tag der Ehre kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Antifaschist*innen und Neonazis und mehreren direkten Angriffen auf Neonazis.

Die ungarische Polizei bildete umgehend eine Sonderkommission, um nach den Antifaschist*innen zu fahnden. Sechs Personen wurden verhaftet, drei der Festgenommenen kamen wieder frei, gegen die drei anderen, darunter zwei aus Deutschland und eine Person aus Italien, wurden Haftbefehle erlassen. Nach wenigen Tagen wurde eine Antifaschistin aus Deutschland aus der Haft entlassen. Doch seit nunmehr zehn Monaten sitzen die italienische Antifaschistin Ilaria S. und der deutsche Antifaschist Tobias E. unter extrem widrigen Bedingungen, über die später noch zu sprechen sein wird, in ungarischer Haft. Ilaria S. wird dabei vorgeworfen, sich an Angriffen auf Neonazis beteiligt zu haben.

Der Solidaritätsgruppe Budapest-Solidarity zufolge wird der deutsche Antifaschist Tobias E. offenbar nicht mehr der Körperverletzung beschuldigt, sondern wegen einer angeblichen Mitgliedschaft in einer internationalen kriminellen Vereinigung festgehalten, deren Existenz die Ermittler*innen nun nachweisen wollen. Bei einer Verurteilung drohen jahrelange Haftstrafen. Der Prozess gegen die beiden soll voraussichtlich am 29. Januar 2024 in Budapest beginnen.

Internationale Haftbefehle

Unterdessen fahndet die ungarische Polizei mit europäischen und internationalen Haftbefehlen nach weiteren Antifaschist*innen aus mehreren Ländern, darunter zehn Personen aus Deutschland, die die ungarischen Behörden in den Zusammenhang mit dem Antifa-Ost-Komplex bringen. Als Gründe für die Haftbefehle nennt die ungarische Polizei Körperverletzung bzw. schwere Körperverletzung.

Die zehn deutschen Antifas gelten seither als abgetaucht. Bei einer Ergreifung stünde eine Auslieferung nach Ungarn zu befürchten. In Deutschland wird kein Stein auf dem anderen gelassen, um die Antifas zu finden. Dirk Münster, Leiter der Soko Linx des LKA Sachsen, teilte der Bild-Zeitung mit: »Wir fahnden in einem eigenen Spiegelverfahren mit der Generalstaatsanwaltschaft nach den gesuchten Personen. Dazu haben wir innerhalb der Soko Linx einen Einsatzabschnitt Zielfahndung neu gebildet.«

Bereits am 15. Februar 2023 kam es zu zwei Hausdurchsuchungen in Berlin. Die sächsische Landesregierung teilte in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der AfD mit, dass bei der »Generalstaatsanwaltschaft Dresden, Zentralstelle Extremismus Sachsen, seit dem 16. Februar 2023 ein Ermittlungsverfahren« anhängig sei. Mit den polizeilichen Ermittlungen in Sachsen sei das polizeiliche Terrorismus- und Extremismus-Abwehrzentrum des LKA Sachsen betraut. Außerdem habe auch die Staatsanwaltschaft in Berlin die Ermittlungen aufgenommen.

Seit dem 7. März stehe die Generalstaatsanwaltschaft Dresden überdies mit den ungarischen Strafverfolgungsbehörden in Kontakt. Ab März folgte Hausdurchsuchung auf Hausdurchsuchung. Seit September wird nach Johann G., der gemeinsam mit Lina E. und weiteren im Antifa-Ost-Komplex beschuldigt und seit 2020 für die Behörden nicht greifbar ist, mit einer Öffentlichkeitsfahndung gesucht. Ende November flimmerte G. für Millionen deutsche Hilfssheriffs in der Sendung Aktenzeichen XY ungelöst über die TV-Bildschirme. Doch bislang konnten sich die Antifaschist*innen den Behörden entziehen.

Keine Auslieferung an Ungarn

Anders als Gabriele M. aus Italien: Nachdem die ungarischen Behörden am 8. November einen europäischen, sowie einen internationalen Haftbefehl gegen ihn ausgestellt hatten, wurde er am 22. November in Mailand festgenommen und unter Hausarrest gestellt. Laut der linken Tageszeitung il manifesto wird ihm die Beteiligung an zwei Angriffen auf Neonazis vorgeworfen. Der erste Angriff soll sich am 12. Februar gegen 10 Uhr morgens ereignet und zu Verletzungen bei einem Mann geführt haben, die innerhalb von acht Tagen abgeheilt seien.

Im zweiten Fall geht es um einen Angriff gegen 23 Uhr desselben Tages. Hierbei wurden zwei Neonazis vor ihrem Haus angegriffen und erlitten »mehrere Prellungen an Kopf und Beinen«. Wie wesentlich Gabriele M. an den Angriffen beteiligt gewesen sein soll, hätten die ungarischen Ermittler nicht ausdrücklich angegeben. Nun droht Gabriele M. die Auslieferung nach Ungarn. Der italienische Journalist Mario Di Vito wies darauf hin, dass die vorgeworfenen Straftaten in Italien als normale Körperverletzungen gelten und lediglich dann strafrechtlich verfolgt würden, wenn es zu einer Anzeige durch das Opfer komme. In diesem Fall könne eine Höchststrafe von vier Jahren verhängt werden. In Ungarn drohe M. allerdings eine Haftstrafe von bis zu 16 Jahren.

Dass eine Auslieferung nach Ungarn vor diesem Hintergrund als unverhältnismäßig zu bewerten sei, folgerte am 5. Dezember auch der mailändische Generalstaatsanwalt Cuno Tarfusser, der die Auslieferung von Gabriele M. ablehnte. Der ausgestellte internationale Haftbefehl sei »zu invasiv« angesichts des Zwecks der Ermittlungen, schließlich könne M., falls erforderlich, auch via Videoschalte befragt werden. Bemerkenswert ist, dass Generalstaatsanwalt Tarfusser in seiner Begründung außerdem auf den politischen Charakter der ungarischen Ermittlungen verwies. Und noch etwas anderes hatte offenbar Einfluss auf diese Entscheidung, die am 12. Dezember einem Berufungsgericht standhalten muss: die Haftbedingungen.

Haftbedingungen in Ungarn

Die Anwälte der sich seit Februar in ungarischer Haft befindenden Ilaria S. hatten dem Berufungsgericht in Mailand einen 18-seitigen Brief der Gefangenen vorgelegt, in dem sie ihre Haftbedingungen schildert. Darin ist von Bettwanzen, Kakerlaken und Mäusen in den Zellen und Fluren die Rede. Außerdem klagt S. darin über Unterernährung und schildert, dass sie mehr als sechs Monate nicht mit ihrer Familie hatte kommunizieren dürfen. Zudem sei sie während des einzigen Verhörs, das ohne Anwalt stattfand, gedemütigt worden.

Dass ungarische Gefängnisse eher den Namen Kerker verdienen, ist keine Neuigkeit. Schon 2018 hob das Bundesverfassungsgericht zwei Beschlüsse des Oberlandesgerichts (OLG) München auf, die eine Auslieferung an Ungarn ermöglichen sollten. Auch das OLG Bremen lehnte 2020 eine Auslieferung nach Ungarn aufgrund der dortigen Haftbedingungen ab. Dass Ungarn unter Victor Orbán alles andere als eine lupenreine Demokratie ist, stellte auch das EU-Parlament fest, und die EU-Kommission sieht große Mängel im ungarischen Rechtsstaat. Der einzig richtige Schluss für die deutschen Strafverfolgungsbehörden müsste also sein, eine Auslieferung der zehn Antifaschist*innen an Ungarn auszuschließen.

Warum sich ein RAF-Vergleich verbietet

Hierzulande blüht stattdessen etwas auf, das nur als RAF-Fetisch bezeichnet werden kann. So füttern die Behörden die Presse regelmäßig mit neuen Takes, warum es sich bei den gesuchten Antifas um eine Art neue RAF handeln würde. Im Mai wusste die Leipziger Volkszeitung zu berichten, dass das BKA davon ausgehe, dass die Gesuchten längerfristig untergetaucht sein könnten und sich mit Geld sowie Falschpapieren ausgestattet hätten. Ein derartig professionelles Vorgehen sei »bei Linksextremisten letztmalig zu Zeiten der RAF feststellbar« gewesen.

Auch der sächsische Innenminister Armin Schuster (CDU) verglich die Abgetauchten mit der RAF. Die Bild-Zeitung titelte: »Innenminister vergleicht Hammerbande mit RAF.« Sogar die Bezeichnung »Hammerbande« ist eine Anleihe an die RAF, die zunächst Baader-Meinhof-Bande genannt wurde. Ein Vergleich, der völlig absurd ist: Denn die RAF verfolgte das Konzept Stadtguerilla, das 1971 veröffentlicht wurde. Darin hieß es: »Wir behaupten, dass die Organisation von bewaffneten Widerstandsgruppen zu diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik Deutschland und Westberlin richtig ist, möglich ist, gerechtfertigt ist.«

Allein das zeigt, warum sich ein Vergleich verbietet. Im Antifa-Ost-Komplex ging es nie um eine bewaffnete Stadtguerilla, sondern um Körperverletzungsdelikte gegen Neonazis, die über Jahre ungestört No-Go-Areas aufbauen und ganze Stadtgesellschaften terrorisieren konnten. Diese Körperverletzungsdelikte hätten unter normalen Umständen vor einem ganz normalen Landgericht verhandelt werden können. Es war die Generalbundesanwaltschaft, die den Fall an sich zog und Lina E. nach ihrer Festnahme mit einem Helikopter nach Karlsruhe fliegen ließ, wo gut informierte Fotografen warteten, die Lina E. wie eine Terroristin in Szene setzten.

Es war die Generalbundesanwaltschaft, die trotz einer äußerst wackeligen Indizienlage maßlose acht Jahre Haft für Lina E. forderte. Und es war das Oberlandesgericht Dresden, das es nicht als seine Aufgabe ansah, die Unabhängigkeit der Ermittlungen der Soko Linx zu prüfen, obwohl zwei als Geschädigte auftretende Neonazis ausgesagt hatten, dass rechte Dossiers über Linke an die Soko Linx weitergereicht worden waren, wo sie als Ermittlungsgrundlage dienten.

Diese gravierenden Fehler von Justiz und Strafverfolgungsbehörden haben dazu geführt, dass die Situation so ist, wie sie ist: Zehn junge Menschen sind abgetaucht, weil sie fürchten müssen, entweder nach Ungarn abgeschoben zu werden oder, wie Lina E., vor einem deutschen Gericht als Terrorist*innen vorgeführt und zu langen Haftstrafen verurteilt zu werden, teilweise für Straftaten, bei denen es außer vagen Indizien keinen Beweis für ihre tatsächliche Täter*innenschaft gibt.

So ist am Ende vielleicht doch ein RAF-Vergleich erlaubt: Der ehemalige Bundesanwalt und RAF-Ankläger Klaus Pflieger sagte 2014 gegenüber dem Spiegel »Der Staat hat überreagiert« und 2022 gegenüber dem Medium Schwäbische: »Das habe ich in meinen 38 Berufsjahren gelernt: Wir dürfen nicht die Nerven verlieren und nicht überreagieren.«

 

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    Um die Wünsche der Inhaftierten zu berücksichtigen, wird im Artikel nur ein Name genannt.
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    „wir“ meint die Autor*innen von „Budapest Solidarity Berlin“
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    Fidesz – Magyar Polgári Szövetség („Fidesz – Ungarischer Bürgerbund“)