Menschenverachtende Staatsraison – 19. Todestag von Oury Jalloh

Heute vor 19 Jahren wurde Oury Jalloh, in einer Gewahrsamszelle der Dessauer Polizei an eine Matratze gefesselt, von Polizist:innen mit Benzin oder einem anderen Brandbeschleuniger übergossen und verbrannt. Offenbar wurde er zuvor verprügelt. Es ist gut möglich dass er zu dem Zeitpunkt als er angezündet wurde bereits tot war und das feuer dazu diente den Mord zu vertuschen. Das geht ohne vernünftigen Zweifel aus mehreren unabhängigen Gutachten hervor. 1Knochenbrüche vor dem Tod: https://initiativeouryjalloh.wordpress.com/2019/10/28/neues-forensisch-radiologisches-gutachten-im-fall-oury-jalloh-pressemitteilung-initiative-in-gedenken-an-oury-jalloh-vom-28-10-2019/2Brandgutachten (Warnung: enthält Bilder des Toten) https://initiativeouryjalloh.files.wordpress.com/2013/11/report-full-matt-test-petrol.pdf3Video-Dokumentation und Einordnung des Brandgutachten (Warnung: enthält Bilder des Toten) https://initiativeouryjalloh.wordpress.com/brandgutachten/video-brandgutachen-fire-investigation/4Weiteres Brandgutachten im Auftrag der Staatsanwaltschaft: https://initiativeouryjalloh.wordpress.com/feuershow-der-staatsanwaltschaft-in-sachsen-im-august-2016/ Zudem ist der Tod Oury Jallohs nicht der erste auffällige Todesfall im Zusammenhang mit dem Polizeirevier in Dessau.

Wir haben den Verlauf der staatlichen „Ermittlungen“ sowie der unabhängigen Ermittlungen in unserem Artikel von letztem Jahr ausführlicher dokumentiert und uns selbst an einer politischen Einordnung versucht.5Oury Jalloh – Das war Mord – Antifa-Info 2023: /2023/01/07/oury-jalloh-das-war-mord/

Im Februar letzten Jahres hat das Bundesverfassungsgericht eine Klage der Familie Oury Jallohs abgelehnt.6Bundesverfassungsgericht hat nach drei Jahren entschieden: Schutz der Täter steht über dem Recht der Angehörigen https://initiativeouryjalloh.wordpress.com/2023/02/27/bundesverfassungsgericht-hat-nach-drei-jahren-entschiedenschutz-der-tater-steht-uber-dem-recht-der-angehorigen/. Kurz darauf hat sich die Familie an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt.7Die Familie Oury Jallohs reicht Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ein https://initiativeouryjalloh.wordpress.com/2023/07/05/klage-vor-dem-europaischen-gerichtshof/

Die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh kämpft von Anfang an an der Seite der Familie um Gerechtigkeit und Aufklärung und solidarisiert sich auch mit den Betroffenen und Angehörigen anderer Fälle von tödlicher, rassistischer Polizeigewalt. Neben der Verbreitung der Botschaft und der Teilnahme an Demonstrationen zum Thema, bittet die Initiative auch um finanzielle Unterstützung, zum Beispiel zur Finanzierung von Gutachten und Gerichtskosten.8Kontinuierliche Aufklärungsarbeit braucht Eure kontinuierliche Unterstützung! https://initiativeouryjalloh.wordpress.com/2024/01/02/kontinuierliche-aufklarungsarbeit-braucht-eure-kontinuierliche-unterstutzung/

Anlässlich des 19. Todestages und des erneuten Gipfels der Verweigerung des bürgerlichen Staates sich an seine „rechtsstaatlichen Prinzipien“ zu halten, diesmal vor dem Verfassungsgericht, möchten wir hier einen Gastbeitrag der Initiative in der Rote-Hilfe-Zeitung vom Februar 2019 mit dem Schwerpunkt Oury Jalloh9https://rote-hilfe.de/rote-hilfe-zeitung/heftarchiv?download=193:rote-hilfe-zeitung-2-2019 spiegeln, der insbesondere die Vertuschung seitens der Justiz hervorhebt, welche das politische Ziel hat die Täter:innen in der Polizei und die Institution Polizei in Schutz zu nehmen.

Auch wenn wir die legalen Mittel, die die liberale Demokratie uns eröffnet, voll ausschöpfen – in Form jeder juristischen Instanz, der öffentlichen Skandalisierung oder der Demonstration – dürfen wir nie vergessen: Staaten sind niemals neutrale Instanzen. Sie sind Gewaltapparate zur politischen Interessenvertretung und sie haben eigene politische Interessen. Dieser Staat ist die Interessenvertretung unserer Klassenfeinde. Er hat im Zweifel ein größeres Interesse daran, sein eigenes Gesicht zu wahren, als sich auch nur an seine eigenen liberalen Prinzipien zu halten und uns die Rechte zu gewähren, die er uns offiziell einräumt – gerade weil wir nicht die Klasse sind, die er vertritt.

Am Ende des Beitrags findet ihr außerdem Termine zu Protest- und Gedenkveranstaltungen.


Menschenverachtende Staatsraison

Die Generalstaatsanwaltschaft Sachsen-Anhalt hat die Beschwerde der Anwältinnen der Familie gegen die Einstellung des Ermittlungsverfahrens im Fall Oury Jalloh durch die Staatsanwaltschaft Halle am 29. November 2018 „als unbegründet zurückgewiesen“ – insbesondere bestehe kein „Tatverdacht […] gegen Polizeibeamte des Polizeireviers Dessau“.10https://rote-hilfe.de/rote-hilfe-zeitung/heftarchiv?download=193:rote-hilfe-zeitung-2-2019 S.25-30

Neben der durch die Strafprozess ordnung gegebenen Zuständigkeit der Generalstaatsanwaltschaft für die Bearbeitung und Prüfung der Beschwerde durch die Familie besteht zusätzlich eine Anweisung der Justizministerin AnneMarie Keding (CDU) vom 7. Dezember 2018 zur Über nahme der Ermittlungen, nachdem das politische Magazin „Monitor“ am 16. und 30. November 2017 über den „Justizskandal ohne Ende“ berichtet11„Monitor“ vom 30. November 2017, „Der Fall Oury
Jalloh: Justizskandal ohne Ende“, https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/oury-jalloh-110.html
, der Sachsen-Anhaltinische Landtag Einsicht in die Verfahrensakten beschlossen12LandtagsDrucksache 7/2143 vom 24. November
2017: Vorlage der Akten im Fall Oury Jalloh, unter: https://www.landtag.sachsen-anhalt.de/dokumente/
und unsere Initiative am Morgen dieses 7. Dezember erneut eine Strafanzeige wegen Mordes bei der Generalbundesanwalt schaft gestellt hatte.13https://www.ouryjallohcommission.com/

Die Generalstaatsanwaltschaft in Naumburg gehört zum Geschäftsbereich des Landesministeriums für Justiz und Gleichstellung und übt die Personal und Fachaufsicht über die vier Staatsanwaltschaften des Landes aus. Im Rahmen der Fachaufsicht prüft sie sowohl Rechtmäßigkeit als auch Zweckmäßigkeit des Handelns der Bediensteten der Staatsanwaltschaften.

Im Fall Oury Jalloh war sie über das Lageinformationszentrum beim Innenministerium von Beginn an informiert und eingebunden. Angesichts der Brisanz des Falles – Verbrennungstod eines Menschen in einer Gewahrsamszelle der Dessauer Polizei – kann und muss eine intensive „Fachaufsicht“ des Generalstaatsanwaltes als notwendig vorausgesetzt werden. Auch aufgrund der frühzeitigen überregionalen Berichterstattung in Printmedien und TV14SpiegelTV“ am 6. März 2005 (nicht online verfügbar) und „Monitor“ vom 17. März 2005, „In der Polizeizelle verbrannt: Die Geschichte eines fatalen Einsatzes“, https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/in-der-polizeizelle-verbrannt-100.html war eine solche Fachaufsicht zur Deutungshoheit über den Fall unaus weichlich.

Nachweislich hat die Generalstaats anwaltschaft die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau mit Blick auf die damals zunehmenden öffentlichen Proteste und Anfragen im Landtag zur Anklageerhebung angewiesen und deren Beschwerde gegen die Nichtzulassung einer Anklage vor dem Oberlandesgericht Sachsen-Anhalt vertreten. Sie war darüber hinaus in beiden Revisionen vor dem Bundesgerichtshof (2010 und 2014) gemeinsam mit dem Generalbundesanwalt in Karlsruhe federführend sowie deren unmittelbare Ansprechpartnerin nach den beiden Strafanzeigen unserer „Initiative in Gedenken an Oury Jalloh“ im Namen der Familie von 2013 zum Brandgutachten Maksim Smirnous15https://initiativeouryjalloh.wordpress.com/brandgutachten/ sowie nach der Einstellung des Ermittlungsverfahrens im Jahre 201716https://initiativeouryjalloh.wordpress.com/initiative-in-gedenken-an-oury-jalloh-stellt-strafanzeige-wegen-mordes/.

Deutungshoheit der Staatsanwaltschaften

Die Behauptung von der angeblichen Entzündung der feuerfesten Matratze durch Oury Jalloh selbst wurde bekanntlich schon vor der Aufnahme irgendwelcher Ermittlungshandlungen in der Todeszelle aufgestellt und bis heute gegen alle Fakten und Beweise aufrechterhalten.

Gleich zu Beginn des spärlichen Restes der weitgehend gelöschten Videodokumentation zur Tatortuntersuchung des LKA Magdeburg behauptet der Videograf Wübbenhorst gleich zweimal, dass sich der „schwarzafrikanische Mitbürger […] selbst angezündet“ habe. Vor Gericht wollte er sich später nicht mehr erinnern können, von wem genau er diese zentrale Information erhalten haben will …

Auch der erst nach dem Mord an Oury Jalloh in Dessau zum Leitenden Oberstaatsanwalt berufene Folker Bittmann erklärte dann bereits fünfeinhalb Wochen nach der Tat in einer öffentlichen Presse konferenz am 15. Februar 2005, „dass es bisher keinerlei Anhaltspunkte, keinerlei Tatsachen gibt, die dafür sprechen, dass Oury Jalloh vorsätzlich getötet worden wäre“.

Dieser Deutungshoheit des Täterkollektivs widersprechende Fakten, Hinweise, Aussagen und Gutachten wurden über ein Jahrzehnt von sämtlichen befassten Institutionen des Rechtsstaates – also von Staatsanwaltschaften (Dessau-Roßlau, Halle, GenStA Naumburg, GBA Karlsruhe) und Gerichten (Dessau 2008, Magdeburg 2012, BGH Karlsruhe 2014) – konsequent ignoriert bzw. ausgeblendet.

Während dem Opfer des Verbrechens reihenweise entweder unmögliche oder höchst unwahrscheinliche, aber dennoch „theoretisch vorstellbare“ Handlungen und abstruse Motivationen unterstellt werden, seien Motivationen der nach weislich und serienmäßig rechtswidrighandelnden Polizeibeamt*innen trotz offensichtlicher Falschaussagen – auch vor Gericht – angeblich zu keiner Zeit erkennbar.

Der blindwütigen Erkenntnisverweigerung im Namen einer Staatsraison der Schadensbegrenzung auf Kosten der Opfer und Hinterbliebenen hat unsere Initiative von Anfang an eine zivilgesellschaftlich organisierte Aufklärungsarbeit entgegengesetzt. Die solidarisch finanzierten Gutachten im Auftrag der Initiative von 2005 (ZweitObduktion), 2013 (Brandgutachten), 2015 (Aktengutachten) und 2016 (Einschätzung zum Brandversuch im Auftrag der Staatsanwaltschaft) und die Pressekonferenz der „Internationalen Unabhängigen Kommission zur Aufklärung der Wahrheit über den Tod von Oury Jalloh“17https://www.ouryjallohcommission.com/ haben belastbare Beweise für die strukturell vertuschten Gewaltverbrechen im Dessauer Polizeirevier etabliert.

Die vermeintliche „Wende“

Die Beweiskraft unserer gutachterlichen Fakten und die wiederholte kritische Medienöffentlichkeit 18Monitor“ vom 15. Oktober 2015, „Tod in der Polizeizelle – Warum starb Oury Jalloh?“, https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/tod-in-der-polizeizelle-100.html hat die Deutungshoheit der Staatsraison in einem Ausmaß erschüttert, dass sich die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau letztlich dazu genötigt sah, einen eigenen Brandversuch in Auftrag zu geben. Obwohl die Versuchsaufbauten dieses Versuchs vom 18. August 2016 im sächsischen Dippoldiswalde in wesentlichen Punkten abweichend von den tatsächlichen und aktenkundlichen Gegebenheiten der Tatortsituation in der Todeszelle 5 des Dessauer Polizeireviers am 7. Januar 2005 manipuliert wurden 19https://initiativeouryjalloh.wordpress.com/feuershow-der-staatsanwaltschaft-in-sachsen-im-august-2016/, kamen die Gutachter des Versuchs zu vergleichbaren Ergebnissen wie die vorher durch unsere Initiative beauftragten Expert*innen. Hierdurch sah sich der Leitende Oberstaatsanwalt Bittmann nach über sieben weiteren Monaten der Auswertung und Prüfung dazu veranlasst, Anfang April 2017 eine zunächst lange geheim gehaltene Mordermittlung gegen Polizeibeamte einzuleiten. In seinem Aktenvermerk zur Mordermittlung erkannte Bittmann auch erstmals eine Verbindung zu zwei weiteren ungeklärten Todesfällen in dem Polizeirevier aus den Jahren 1997 (HansJürgen Rose) und 2002 (Mario Bichtemann), auf die unsere Initiative bereits in den Jahren zuvor immer wieder hingewiesen hatte. 20https://initiativeouryjalloh.wordpress.com/2013/01/07/pressemitteilung-der-initiative-in-gedenken-an-oury-jalloh-e-v-07-01-2013/

Der kurz vor seiner Pensionierung und wegen seiner täterfreundlichen Öffentlichkeitsarbeit im Fall des Mordes an der chinesischen Studentin Yangjie Li durch einen Polizistensohn unter Druck stehende Bittmann hatte seine Rechnung jenseits der  jahrelang von ihm selbst verteidigten Täter-Opfer-Umkehr allerdings ohne Generalstaatsanwalt Jürgen Konrad gemacht. Dieser leitete seinen Aktenvermerk umgehend an den Generalbundesanwalt zur Information und mit der Bitte um Übernahme der Ermittlungen weiter.

Der dort ebenfalls kurz vor der Pension stehende Bundesanwalt Walter Hemberger – der für sein Abstreiten der Aktenmanipulationen des Verfassungsschutzes im RAF-Mordfall Siegfried Buback (1977) sowie seine Verantwortung für die Asservatenvernichtung im lange Jahre eingestellten Ermittlungsverfahren zum Oktoberfestattentat von München (1980) fragwürdige Berühmtheit erlangte – lehnte eine Übernahme der Ermittlungen postwendend und mit einem nur einseitigen Vermerk einschließlich der Bitte um Übersendung einer Einstellungsver fügung ab.

Die Wiederherstellung der Staatsraison, Teil 1 – Staatsanwaltschaft Halle

Generalstaatsanwalt Konrad entzog der Staatsanwaltschaft DessauRoßlau daraufhin umgehend die Zuständigkeit für die Ermittlungen und übertrug diese der Staatsanwaltschaft Halle. Begründet wurde dieser Eingriff mit der angeblichen „Überlastung“ in Dessau und dem bisher „unbelasteten“ Blick der Staatsanwaltschaft Halle auf den Fall.21https://www.sachsen-anhalt.de/index.php?cmd=get&id=886130&identifier=dbb693479b24f5c32225b33b70d03375

In nur drei Monaten Bearbeitungszeiterstellte der Hallenser Staatsanwalt Hendryk Weber von Anfang Juni bis zum 30. August 2017 einen Einstellungsvermerk „nach Aktenlage“ und ohne weitere Rücksprachen mit den zuletzt für die Mordermittlungen ausschlaggebenden Gutachtern. Die nun Leitende Oberstaatsanwältin Geyer nahm sich dann selbst noch 42 weitere Tage Zeit, diese Verfügung „nachzuvollziehen“ und für „zweck und rechtmäßig“ zu befinden. Sie teilte dann am 12. Oktober 2017 in einer Pressemitteilung mit, dass sie nach „sorgfältiger Prüfung der vorliegenden Erkenntnisse […] die Ermittlungen zum Tod des Oury Jalloh eingestellt“ habe, weil sich angeblich „keine ausreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Beteiligung Dritter an der Brandlegung“ ergeben hätten. Zudem sei weitere Aufklärung nicht zu erwarten, da „eine Vielzahl an Möglichkeiten denkbar“ sei „und mithin eine Brandlegung durch ihn selbst nicht aus geschlossen werden kann.“22https://www.sachsen-anhalt.de/index.php?cmd=get&id=887297&identifier=692c4dc3227558b23e7c4d64fd7a69de Im Zuge dieser Bearbeitung wurde die bis dahin nur mit der Leitung beauftragte Oberstaatsanwältin übrigens am 28. August 2017 offiziell zur Leitenden Oberstaatsanwältin der StAW Halle ernannt.

Eine Information der Anwältinnen der Familie darüber erfolgte allerdingserst am 1. November 2017 mit einer eigens gesäuberten Ausgabe der Aktenlage mit geschwärzten Namen der seitens der Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau zuvor beschuldigten Polizeibeamt*innen sowie unter Auslassung („Weißung“) jenes Teils des Dessauer Mordermittlungsvermerkes, der sich auf die möglichen Tathandlungen dieser Polizist*innen bezog. Hierdurch wurde eine umfänglich sachbegründen de Beschwerde der Rechtsbeistände der Familie vorsorglich wie grundsätzlich ein geschränkt.

Im „Monitor“Beitrag vom 30. November 2017 kommentiert Prof. Thomas Feltes (Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik, Polizeiwissenschaft an der juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum) die Einstellungsverfügung wie folgt: „Offen gesagt politische Einflussnahme. Es gibt für mich keinen anderen Grund, warum die Staatsanwaltschaft in Halle das Verfahren einstellt. Sie hat offensichtlich entweder die formelle Weisung bekommen oder den informellen Hinweis – beides ist in der Sache letztendlich das Gleiche – dass man politisch nicht wünscht, dass dieses Verfahren weiter vorangetrieben wird.“23„Monitor“ vom 30. November 2017, „Der Fall Oury
Jalloh: Justizskandal ohne Ende“, https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/oury-jalloh-110.html

Diese Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Halle führte also endlich auch zur ganz grundsätzlichen Entscheidung des Sachsen-Anhaltinischen Landtags, dass sich der Rechtsausschuss zur Wahrnehmung einer parlamentarischen Kontrolle mit dem Fall befassen solle. Zur Vermeidung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses wurde nach der Akteneinsicht in der Geheimschutzstelle des Landtags auch die Bestellung zweier Sonderberater – nicht einmal Sonderermittler! – für den Rechtsausschuss beschlossen. Diese Sonderberater (Jerzy Montag, Grüne, zuvor Sonderermittler NSU und Manfred Nötzel, Generalstaatsanwalt a.D., München) hängen jedoch seit über einem Jahr in der Warteschleife zur Akteneinsicht, da zunächst die Einschätzung der Generalstaatsanwaltschaft und nunmehr die Entscheidung des Oberlandesgerichts Naumburg zum Klageerzwingungsantrag der Familie abgewartet werden soll24http://www.presse.sachsen-anhalt.de/index.php?cmd=get&id=898922&identifier=5f27b8e4c1f6f4b6b9e67d5b4b383ca3. Vor dem Hintergrund dieser nunmehr auch politischen Verschleppung der Aufklärung der längst offensichtlichen Versäumnisse und Manipulationen im Oury-Jalloh-Komplex mit drei „ungeklärten Todesfällen“ in ein und demselben Polizeirevier in Dessau ist die erneute Absage an einen umfänglich befugten Parlamentarischen Untersuchungsausschuss am 28. Februar 2019 ein leider wenig überraschender politischer Offenbarungseid im Namen einer menschenverachtenden Staatsraison.

Die Wiederherstellung der Staatsraison, Teil 2 – Generalstaatsanwaltschaft

Nach der Anweisung der Justizministerin Keding an die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg zur Übernahme der Ermittlungen zum Zwecke der „Beschleunigung und Konzentration“ des Verfahrens ließ sich jene im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft Halle deutlich länger Zeit zur Prüfung. Ihre Einstellungsverfügung präsentierte sie knapp ein Jahr später am 29. November 2018 mit markigen Worten des Generalstaatsanwaltes Jürgen Konrad persönlich:

Beweistatsachen für eine Fremdtötung des Ouri Jallow oder gar für ein Mordkomplott sind nicht vorhanden. Es mangelt sowohl an einem Motiv als auch an der zeitlichen Gelegenheit dafür. Beider These ,Ouri Jallow das war Mord‘ handelt es sich um eine rein spekulative Mutmaßung, die nicht geeignet ist, einen Tatverdacht im Sinne der §§ 170 Absatz 1, 203 StPO zu begründen und deren Richtigkeit nicht angenommen werden kann. Ein auf Tatsachen – und nicht nur auf Vermutungen – basierender Beweis für ein aktives Handeln Dritter, welches kausal zum Tode des Ouri Jallow geführt haben könnte, existiert nicht. Ebenso ist die Unterstellung eines ,institutionellen Rassismus‘ aus der Luft gegriffen. Irgendgeartete Hinweise darauf, Ouri Jallow könnte aus rassistischen Gründen getötet worden sein, liegen evident nicht vor. Schließlich existieren auch keine genügenden Beweisanzeichen dafür, dass Dessauer Polizeibeamte an zwei weiteren Todesfällen, die sich in den Jahren 1997
und 2002 vor bzw. im Revier ereignet hatten, in irgendeiner Art und Weise ursächlich beteiligt waren. 25https://www.sachsen-anhalt.de/index.php?cmd=get&id=898922&identifier=5f27b8e4c1f6f4b6b9e67d5b4b383ca3

Die Verfügung selbst umfasst wahnwitzige 208 Seiten und behauptet in ihrem ersten Abschnitt „A. Methodik“, dass die Bearbeiter des Falls, LOStA Jörg Blank (bis 2005 Staatsanwaltschaft DessauRoßlau) und Gerhard Wetzel (bis 2002 Richter am Landgericht Halle – danach Staatsanwaltschaft Halle/Zweigstelle Naumburg), die Akten „chronologisch“ und trotz ihrer behördeninternen Zuständigkeit für die „Personal und Fachaufsicht“ (siehe Absatz 2) quasi in Unkenntnis über die Abläufe, Entscheidungen und Urteile im Fall Oury Jalloh gelesen haben sollen:

Die in den Akten befind lichen Urteile und Bescheide sind dann erst zum Schluss der Aktendurchsicht gelesen und die dortigen Feststellungen mit den eigenen Ergebnissen abgeglichen worden. Damit sollte vermieden werden, dass die Angaben von Beschuldigten und Zeugen und die Ausführungen von Sachverständigen bereits im Lichte späterer Feststellungen eingeengt betrachtet werden könnten. 26https://live0.zeit.de/infografik/2018/MEDIEN_Pruefbericht.pdf

Diese Behauptung schließt ein, dass die zuständige Abteilung der Generalstaatsanwaltschaft Naumburg ihre Facaufsicht zur Zweck und Rechtmäßigkeit der handelnden Staatsanwaltschaften im Oury-Jalloh-Komplex über ein Jahrzehntlang entweder gar nicht oder zumindest nicht kenntnisreich genug nachgekommen sein soll! Die Glaubwürdigkeit die ser Schutzbehauptung unterstellt, bedeutete diese entweder ein öffentliches Eingeständnis der Vernachlässigung der eigenen Dienstaufsichtspflichten, der Ignoranz gegenüber wesentlichen Meilensteinen in einem Strafverfahren mit bundesweiter Öffentlichkeit oder schlicht und ergreifend Inkompetenz.

Im Abschnitt „C. Sachverhalt“ entwickeln die Generalstaatsanwälte dann einen – ihrer „unbelasteten Meinung“ nach – „wahrscheinlichsten, zumindest aber nicht widerlegbaren Geschehensablauf“ 27https://live0.zeit.de/infografik/2018/MEDIEN_Pruefbericht.pdf S.9 mit einer Vielzahl sachgrundloser Behauptungen, die jeweils mit „möglicherweise“ beginnen und weitreichende Unterstellungen zu angeblichen Motivations lagen des späteren Todesopfers beinhalten. Diese Spekulationen der Aktenprüfer gipfeln dann in der vollständig haltlosen Tatsachenbehauptung: „Jedenfalls steht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest, dass Ouri Jallow nach seiner Fixierung unentdeckt ein Feuerzeug aus rotem Kunststoff bei sich führte.“

Nach „unabhängiger Bewertung“ kommen die „Ermittler“ also nach alternativer Addition mehrfacher unbelegbarer Unterstellungen in der „Summe“ zu einer vermeintlichen „Sicherheit“ – weil eine „Selbstentzündung“ ohne jenes ominöse rote Feuerzeug, das erst nachträglich und ohne Tatortspuren auftauchte, eben schlicht und ergreifend unmöglich ist.

Bezüglich ihrer Spekulationen zur verräterischen Spurenlage am manipulierten Feuerzeug Beweismittel sind die juristischen Experten deutlich weniger einfallsreich. Die Abwesenheit notwendiger Tatortspuren ignorieren sie vollständig, obwohl sie doch unterstellen,

dass das Feuerzeug sich während des Brandes unter dem Körper Ouri Jallows oder in einer seiner hinteren Hosentaschen befunden haben muss[sic!].28https://live0.zeit.de/infografik/2018/MEDIEN_Pruefbericht.pdf S.61

Für die mehrfach nachgewiesene, äußerst komplexe, tatortfremde Spurensituation hingegen haben sie dann auch eine ausgesprochen abenteuerliche Erklärung:

Aus dem Umstand, dass unversehrte farblose oder hellgraue Polyesterfasern den verkohlten Fasern aufgelagert waren, spricht eher für eine nachträglich eingetretene Verunreinigung der Spuren durch vorangegangene Untersuchungen [beim LKA Sachsen Anhalt]. […] Dies aber schließt auch die beiden Tierhaar Faserfragmente (Wollhaarfasern) einer nicht näher spezifizierbaren Tierart ein. Möglicherweise kann es schlicht auch Schafwolle (evtl. von einem Pullover) sein, eine weitere Aufklärung ist indes nicht möglich.29https://live0.zeit.de/infografik/2018/MEDIEN_Pruefbericht.pdf S.67/68

Falls die Generalstaatsanwalt damit ausdrücken will, dass sie es für problemlos vorstellbar hält, dass das Spurenlabor am LKA SachsenAnhalt zu einer derart komplexen Verbringung von Fremdspuren an ein zentrales Beweismittel in einem Tötungsdelikt fähig wäre, sollte sie allerdings auch gleich eine nicht ausschließbare generelle Unfähigkeit des LKA zur Aufklärung von schweren Straftaten im Lande feststellen. Andererseits bezichtigen die Generalstaatsanwälte hierdurch offiziell das LKA SachsenAnhalt einer notwendigen Beweismittelmanipulation, ohne dass sie hieraus Konsequenzen irgendeiner Art schlussfolgern.

Zynische „Logik“ der Staatsraison

Die Krone setzen sich die Prüfbericht erstatter dann allerdings bei der Einschätzung „möglicher Handlungsweisen“ der polizeilichen Täter auf:

Wenn Ouri Jallow tatsächlich durch das Verhalten eines oder mehrerer Polizeibeamten zu Tode gekommen wäre [… die] sich entschlossen hätten, ihr Fehlverhalten zu vertuschen, wäre ein Anzünden der Leiche eine der kriminalistisch denkbar schlechtesten Möglichkeiten, dieses Ziel zu erreichen. Eine derartige Brandlegung würde nämlich immer größte Aufmerksamkeit erregen und entsprechend umfangreiche Ermittlungen nach sich ziehen, wie der konkrete Fall hier gerade auch zeigt. Diese Ermittlungen würden sich zudem gerade von Anfang an auf den Kreis der Polizeiangehörigen konzentrieren, da Außenstehende von vornher ein nicht als Täter in Betracht kommen dürften. 30https://live0.zeit.de/infografik/2018/MEDIEN_Pruefbericht.pdf S.51

Abgesehen von der Tatsache, dass gerade der Oury-Jalloh-Komplex ein ein drücklicher Beweis dafür ist, dass gegen Polizeibeamte von vornherein eben nicht ermittelt wurde, ziehen diese Herren dann sogleich einen finalen, sich selbst begründenden Zirkelschluss:

Da auch einfachere und unauffälligere Möglichkeiten in diesem Fall zur Verfügung gestanden hätten, beispielsweise die Leiche aus dem Polizeirevier zu schaffen und an einem geeigneten Ort abzulegen [Anm.: wie im ebenfalls ungeklärten Todesfall Hans-Jürgen Rose?!], ist davon auszugehen, dass bereits aus diesem Grund ein solcher Geschehensablauf aus schließbar ist.

Der Kriminologe Prof. Tobias Singelnstein (Lehrstuhl für Kriminologie an der Juristischen Fakultät der RuhrUniversität Bochum) beurteilt die Ausführungen des Prüfberichtes der Generalstaatsanwälte von Naumburg im MonitorBeitrag vom 17. Januar 2019 denn auch wie folgt:

Das halte ich für eine ziemlich weitgehende Interpretation, für einen ziemlich gewagten Schluss. Und wenn man das dann so gegenüberstellt – auf der einen Seite die Polizeibeamten, bei denen sehr pauschal gesagt wird, die haben gar keine Motivation und auf der anderen Seite bei Oury Jalloh, wo relativ stark an einer Motivation interpretiert wird. Das passt nicht gut zusammen.

Und:

Wenn man den Prüfvermerk liest, hat man eigentlich durch die Bank weg den Eindruck, dass es von dem Wunsch getragen ist, dieses Verfahren endgültig zu beenden und vom Tisch zu bekommen.31Monitor“ vom 17. Januar 2019, „Der Fall Oury Jalloh: Ermittlungen sollen ausbleiben“, https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/oury-jalloh-112.html

Einzelfälle oder systemische Verweigerung rechtsstaatlicher Prinzipien?

Schon der OuryJallohKomplex ist in sich eine Kette von Tötungsdelikten mit Bezug zum Dessauer Polizeirevier, der eine adäquate Fehlerkultur schmerzlich und offensichtlich vermissen lässt. In dem die Täter*innen strafrechtlich weder verfolgt noch zur Verantwortung gezogen wurden und werden, sendet die Staatsraison ein so deutliches wie fatales Signal in die uniformierten Täterkreise: Egal wie dreist und rassistisch Ihr mordet – der Rechtsstaat steht hinter Euch!

Über den OuryJallohKomplex und SachsenAnhalt hinaus sind mordende Polizist*innen in Deutschland noch nie wegen Mordes verurteilt worden… wir erinnern an die Fälle von Halim Dener über Kola Bankole und Aamir Ageeb, von Mareame Ndeye Sarr über Dominique Koumadio und Laye Alama Conde bis Christy Schwundeck!

Offensichtliche Rechtsbrüche uniformierter Beamter in Polizei, Justizvollzug und Bundeswehr scheinen pauschal von angemessener Strafverfolgung freigestellt zu sein. Zuletzt mussten und müssen wir die unglaublichen Vorgänge im Fall des unter manipulativen Rechtsbeugungen unschuldig in der JVA Kleve einsitzen den und dort verbrannten Kurden Amad Ahmad zur Kenntnis nehmen. Nicht eine der Verlautbarungen der zuständigen Minister und ihrer Behörden zu den angeblichen Abläufen war das Papier wert, von denen sie abgelesen wurden.

Die Beteiligung und Förderung der rechtsextremistischen Mordserie des NSU durch staatliche Behörden ist ein weiteres unsägliches Beispiel für falsche Versprechungen und mutwillige Vertuschung im Namen einer menschenverachtenden Staatsraison. Und schließlich wollen wir auch die brutalen und rechtswidrigen Polizeirazzien bei den solidarisch gegen Abschiebungen protestierenden Geflüchteten in Ellwangen, Donauwörth und anderswo nicht vergessen.32https://rote-hilfe.de/rote-hilfe-zeitung/heftarchiv?download=193:rote-hilfe-zeitung-2-2019 S.15

Aufklärung und Gerechtigkeit kann in jedem einzelnen dieser Fälle nur durch unseren gemeinsamen solidarischen Widerstand gegen die Logik der Vertuschung und TäterOpferUmkehr erstritten und hergestellt werden. Lasst uns also gemeinsam die dafür notwendigen, von staatlicher Deutungshoheit unbeeindruckten Strukturen schaffen, mit denen wir der Staatsraison der Täter*innen Strukturen wirkungsvoll entgegentreten können!

Die Zeit ist gekommen – Es reicht!