Antifa-Prozess beginnt in Budapest

Behörden wollen Deal

Eltern von Gesuchten machen deutsche Geheimdienst-Kampagne öffentlich

Matthias Monroy (neues Deutschland)

Nachdem die ungarische Staatsanwaltschaft Anklage erhoben hat, beginnt am Montag vor dem Stadtgericht in Budapest der Prozess gegen drei Aktivisten aus Deutschland und Italien. Sie sollen im vergangenen Jahr in der Hauptstadt am Rande des Neonaziaufmarschs »Tag der Ehre« in vier Fällen insgesamt neun Personen verletzt haben. Diese Angriffe am 11. Februar seien nach Darstellung der Polizei mit Pfefferspray, Gummihämmern und Schlagstöcken erfolgt.

Kurz darauf hat die ungarische Polizei vier Verdächtige festgenommen. Die Italienerin Ilaria S. und der deutsche Staatsangehörige Tobias E. sitzen seitdem in Budapest in Untersuchungshaft, die ebenfalls aus Deutschland stammende Anna M. erhielt Haftverschonung und durfte ausreisen, muss jedoch am Wohnort Meldeauflagen befolgen. Auch die Verdächtige aus Ungarn wurde entlassen.

Am ersten Verhandlungstag am Montag prüft das Stadtgericht, ob die Angeklagten in einem verkürzten Verfahren verurteilt werden können, hierzu müssten sie Einlassungen machen und sich schuldig bekennen. Das ist kaum zu erwarten, denn ihnen drohen immens hohe Strafen.

Ilaria S. wird lebensgefährliche Körperverletzung vorgeworfen, was mit bis zu 24 Jahren Haft geahndet werden kann. Ihre deutschen Mitangeklagten wurden zunächst wegen schwerer Körperverletzung verdächtigt. Vor Gericht stehen sie aber nur wegen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, worauf bis fünf Jahre Gefängnis stehen.

Tobias E. soll laut der Anklage zum Dunstkreis der Gruppe um Lina E. gehören, die zusammen mit drei weiteren Aktivisten Ende Mai im sogenannten Antifa-Ost-Verfahren in Dresden verurteilt wurde. Die Ermittlungen in dem Komplex führt die ungarische Polizei deshalb zusammen mit dem Landeskriminalamt aus Sachsen in einem »Spiegelverfahren«. Eine sächsische »Soko Linx« fahndet dazu mit Fotos nach 14 weiteren Personen; vier von ihnen sollen auch beim »Tag der Ehre« in Budapest dabei gewesen sein. Nur drei aller Gesuchten ließen sich jedoch dem Umfeld von Lina E. zurechnen, will der MDR herausgefunden haben.

Nach einem europäischen Haftbefehl aus Ungarn hat die Berliner Polizei im Dezember eine weitere beschuldigte Person in Berlin festgenommen, die von ihrem Unterstützerkreis Maja J. genannt wird. Sie sitzt seitdem in Dresden in Untersuchungshaft, das Auslieferungsverfahren wird nach einigem Hin und her von der Berliner Staatsanwaltschaft geführt. Hierüber muss nun das Kammergericht entscheiden.

Die Festnahme von Maja J. ist der bislang einzige Fahndungserfolg der Behörden in Deutschland, die in den Ermittlungen bereits zahlreiche Hausdurchsuchungen und Überwachungsmaßnahmen bei Angehörigen und mutmaßlichen Kontaktpersonen durchgeführt haben.

Eine weitere Festnahme im Budapest-Komplex erfolgte in Mailand, dort sitzt seit November Gabriele M. im Hausarrest und wartet auf die Entscheidung zur Auslieferung. Sogar die Staatsanwaltschaft hat jedoch angesichts des hohen Strafmaßes und der zu erwartenden, menschenunwürdigen Haftbedingungen Bedenken.

Diese Bedingungen im Budapester Gefängnis kennt auch eine Solidaritätsgruppe von Ilaria S., die von massivem Befall der Zellen mit Ungeziefer, Gewalt durch Wärter und Mitgefangene, einer sechsmonatigen Kontaktsperre sowie einem 23 Stunden währenden Einschluss auf 3,5 Quadratmetern berichtet. In Italien hat sich deshalb ein Bündnis gegen die Auslieferung formiert, das mit großen Demonstrationen und einer Petition auf den Fall aufmerksam macht. Am Wochenende hatte diese bereits 49 000 Unterstützer.

Im Prozess haben Ilaria S., Tobias E. und Anna M. ungarische Verteidiger. Im Auslieferungsverfahren nach Ungarn wird Maja J. von Anwälten aus Deutschland vertreten. Einer von ihnen ist Sven Richwin, der zusammen mit dem Vater von Maja S. am Samstag auf einer Pressekonferenz in Berlin Details zu den Ermittlungen mitgeteilt hat.

Der Anwalt fordert, die Auslieferung nach Budapest abzulehnen und begründet dies mit den ungarischen Haftbedingungen. Der Strafprozess könne auch in Deutschland stattfinden, so die Argumentation. Juristisch wäre das möglich; selbst den Betroffenen in Ungarn vorgeworfene Körperverletzungen könnten in Deutschland verhandelt werden.

Unterstützung kommt aus dem ehemaligen Bündnis »Wir sind alle LinX«, das sich gegen die Verurteilung im ersten Antifa-Ost-Verfahren gegründet hatte. In einem neuen Aufruf fordert eine dreistellige Zahl von Unterzeichnern, auf eine Auslieferung weiterer Beschuldigter nach Ungarn zu verzichten und die dort Angeklagten nach Deutschland zu überstellen.

All dies geschieht zu einer Zeit, in der Faschist:innen europaweit an Land gewinnen, in der auch in Deutschland eine faschistische Partei bald wieder mit einer Mehrheit in Parlamente einziehen könnte und sich mit gut vernetzten Neonazis organisiert, um die Deportation großer Teile der Bevölkerung zu planen. Es muss sich wieder bewusst gemacht werden, welchen Stellenwert Antifaschismus in unserer Gesellschaft haben sollte

heißt es in dem Aufruf.


Proteste gegen den Neonazi-Aufmarsch am 11. Februar 2023 in Budapest.
Foto: IMAGO / EST&OST

Am Samstag haben sich erstmals Eltern mehrerer Personen, nach denen in den deutsch-ungarischen Ermittlungen gefahndet wird, zu Wort gemeldet und eine »zu Hetzkampagnen ausartende Berichterstattung« kritisiert: Neben rechtsextremen Online-Plattformen hatte unter anderem die Tageszeitung »Bild« Fotos sämtlicher Verdächtiger veröffentlicht und diese ungeachtet der Unschuldsvermutung als »Hammerbande« denunziert. Das Recherchezentrum Correctiv hat außerdem berichtet, dass der AfD-Abgeordnetenmitarbeiter Mario Müller bei der Weitergabe sensibler Informationen eine Rolle gespielt haben könnte.

Die Elterninitiative fordert, auch ein etwaiges Verfahren gegen die Gesuchten statt in Ungarn in Deutschland durchzuführen. »Mit Haft und Urteil sind schwere psychische und körperliche Haftschäden zu befürchten«, heißt es in der gemeinsamen Erklärung.

Deutsche Behörden sind in dieser Richtung bereits aktiv, berichtet Anwalt Richwin und spricht von einer »Drohkulisse«: Die Behörden nutzten die Berichte über die harten Haftbedingungen in Ungarn und setzten die 14 Gesuchten unter Druck mit dem Ziel, einen Deal mit der Staatsanwaltschaft einzugehen und sich zu stellen.

Als »Vermittler« hat sich hierzu das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) ins Spiel gebracht. Mehrere Angehörige der Gesuchten seien von dem Geheimdienst in einer konzertierten Aktion aufgesucht und zur Zusammenarbeit bewogen worden, bestätigte diese dem »nd«. Ansprachen seien demnach in Sachsen, Thüringen, Berlin und Hamburg erfolgt, in mindestens einem Fall traf diese eine Frau mit einem Kind in einem privaten Treppenhaus. Keine der Angehörigen sei jedoch auf das Angebot eingegangen.

Verschiedene Strafverteidiger der gesuchten Personen bestätigen die Anwerbeversuche in einer am Samstag veröffentlichten Erklärung. Einer der Anwälte habe sich erkundigt, welche »Unterstützung« das BfV anbiete. Daraufhin habe der Geheimdienst der Generalstaatsanwaltschaft einen Deal vorgeschlagen, den die Verteidiger als »Zusicherung der Verweigerung der Auslieferung nach Ungarn gegen Stellung in Deutschland« beschreiben. Eine Reaktion aus der sächsischen Justiz gebe es aber noch nicht.


Anti-Antifa aus dem Bundestag

Der MdB-Mitarbeiter Mario Müller will eine rechte »Fahndungsplattform« betrieben und sich ins Antifa-Ost-Verfahren eingemischt haben

Matthias Monroy (neues Deutschland)

Am Mittwoch hat Correctiv in einer Lesung im Berliner Ensemble seine Recherchergebnisse zum sogenannten Düsseldorfer Forum szenisch dargestellt. Über diesen geheimen Gesprächskreis von AfD-Politikern und Rechtsextremen berichtete das Recherchezentrum erstmals vor einer Woche. Demnach hat sich das Düsseldorfer Forum am 25. November in Potsdam zum fünften Mal getroffen und dabei die massenhafte Vertreibung von Migranten besprochen.

Bei der Darstellung am Mittwoch hat Correctiv einige bis dahin unveröffentlichte Details zu dem Geheimtreffen bekannt gemacht. Dabei geht es um Mario Müller und seine mögliche Verwicklung in das sogenannte Antifa-Ost-Verfahren.

Müller ist Mitarbeiter im Büro des AfD-Bundestagsabgeordneten Jan Wenzel Schmidt und war eine jahrelang eine Führungsfigur der Identitären Bewegung. Als Reporter schrieb er auch im stramm rechten Magazin »Compact«. Wegen Körperverletzung ist Müller mehrfach vorbestraft.

Laut Correctiv behauptete Müller auf dem Düsseldorfer Forum, für einen gewaltsamen Übergriff auf den ehemaligen linken Aktivisten Johannes Domhöver mitverantwortlich zu sein. Domhöver wurde 2021 von zwei Betroffenen als sexuell und psychisch gewalttätig geoutet; die Staatsanwaltschaft hatte daraufhin ein Strafverfahren wegen Vergewaltigung eröffnet und später eingestellt. Wohl wegen des Outings in Berlin zog Domhöver anschließend nach Warschau und arbeitete dort in einer Kindertagesstätte als Erzieher.

Mario Müller, ein mehrfach wegen Körperverletzung verurteilter Rechtsextremer und Mitarbeiter eines AfD-Bundestagsabgeordneten, am 25. November 2023 im Landhaus Adlon in Potsdam. (Fotos und Collage: CORRECTIV)

Zu diesem Zeitpunkt war Domhöver auch einer der Angeklagten im Antifa-Ost-Verfahren. Ihm und den später verurteilten Linken wurde vorgeworfen, seit 2018 gezielt Jagd auf Neonazis gemacht zu haben. Während des Verfahrens wechselte Domhöver jedoch die Seiten und sagte als Kronzeuge umfassend gegen Lina E. und andere Mitangeklagte aus. Dafür kam er mit einer Bewährungsstrafe davon und profitiert nun von einem Zeugenschutzprogramm des Bundeskriminalamtes.

Im Thüringer Untersuchungsausschuss Politische Gewalt hat der Kronzeuge es so dargestellt, dass persönliche Gründe und seine Ächtung in der linken Szene den Ausschlag für seine Kooperation mit den Behörden gegeben hätten. Auf dem Düsseldorfer Forum behauptete der AfD-Mitarbeiter Müller demgegenüber, er habe dafür gesorgt, dass Domhöver die Seiten wechselte. Müller habe den Aufenthaltsort von Domhöver im November 2021 herausgefunden und an »polnische erlebnisorientierte Fußballkreise« weitergegeben. Daraufhin sei dieser von einem Schlägertrupp verprügelt worden und habe einen Nervenzusammenbruch erlitten, soll Müller auf dem Düsseldorfer Forum gefeixt haben. Das Domhöver tatsächlich verletzt wurde, ist in sozialen Medien dokumentiert.

Mutmaßlich ereignete sich der Vorfall am Rande des Nationalfeiertags in Polen am 11.November 2021, bei dem wie jedes Jahr Rechtsextreme in der polnischen Hauptstadt aufmarschierten. Domhöver soll an dem Tag an einer Gegendemonstration teilgenommen haben.

Auf dem Geheimtreffen in Potsdam soll Müller der Correctiv-Recherche zufolge außerdem gesagt haben, zusammen mit einem anderen rechten Aktivisten eine »politische Fahndungsplattform« zu betreiben. Gemeint ist der reichweitenstarke Account »Dokumentation Linksextremismus« auf X (vormals Twitter) mit derzeit rund 14 000 Followern. Der Account hat Details über linke Akteure, Politiker und Journalisten mit Klarnamen oder Fotos verbreitet. Mehrfach wurden auch Interna gepostet, die aus Behörden stammen könnten, über diese berichteten anschließend rechte Medien und die Springer-Presse.

In einem Fall konnte Correctiv den Informationsfluss nachzeichnen: Am 18. Oktober 2023 wurde auf »Dokumentation Linksextremismus« ein Dokument der Staatsanwaltschaft Dessau veröffentlicht, wonach gegen Lina E. auch wegen versuchten Mordes ermittelt wird. Diese Informationen hatte zwei Tage später unter anderem die »Bild«-Zeitung aufgegriffen. Ein Scoop für Müller, der sich selbst der »Gewalt und Medienarbeit« verschrieben habe, schreibt Correctiv.

Vorläufig ist damit aber Schluss: Am Mittwoch wurde der Account »Dokumentation Linksextremismus« von seinen Betreibern auf X für die Öffentlichkeit gesperrt. Offline sind damit auch Postings zu Antifaschisten, die in Budapest wegen Angriffen auf Nazis beim »Tag der Ehre« im Februar 2023 gesucht werden oder bereits inhaftiert sind. Hierzu hatte »Dokumentation Linksextremismus« ebenfalls Details und Fotos linker Aktivisten veröffentlicht, die aus unbekannten, womöglich behördlichen Quellen stammten. Auch in diesem Fall hatte die »Bild« die Betroffenen dann in der Zeitung geoutet und als »Hammerbande« bezeichnet.

Warschau und Budapest waren nicht die einzigen Orte, an denen Müller im europäischen Ausland aktiv war. 2020 war der Identitäre mit mehreren Dutzend europäischen Neonazis und rechten Influencern nach Lesbos gereist, um ankommende Boote von Geflüchteten zu behindern. Auf Fotos inszenierten sie sich als Verteidiger der griechischen Grenze. Auch Martin Sellner, ein Hauptredner des Düsseldorfer Forums, war bei dem rechtsextremen Ausflug an die EU-Außengrenze dabei. Ungestört blieben die Rechtsextremen aber nicht: Die Reisegruppe wurde von Antifaschisten angegriffen, wie Fotos verschiedener Accounts auf X belegen.


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