Eine Einschätzung des „Antifa-Ost-Verfahrens“
Henning von Stoltzenberg, Mitglied des Bundesvorstandes der Roten Hilfe e.V.
Am 31. Mai 2023 wurden vier Antifaschist*innen vor dem Oberlandesgericht Dresden (OLG) im Antifa-Ost Verfahren zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Den Angeklagten wurde vorgeworfen, in den vergangenen Jahren mehrere Neonazis angegriffen und eine kriminelle Vereinigung nach §129 StGB gebildet zu haben. Die Hauptangeklagte Lina E., die bereits zwei Jahre und sieben Monate in Haft verbracht hatte, wurde zu fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Die Mitangeklagten erhielten Strafen von drei Jahren und drei Monaten, drei Jahren sowie zwei Jahren und fünf Monaten. Das Verfahren dauerte fast einhundert Verhandlungstage und zog sich über einen Zeitraum von fast zwei Jahren hin.
Der Prozess, der am 8. September 2021 begann, war erwartungsgemäß auf die Verurteilung der vier Antifaschist*innen gerichtet. Mit der Verhaftung von Lina E. begann eine umfangreiche öffentliche Kampagne von Teilen der Medien und Politik, um die Angeklagten stellvertretend für die gesamte antifaschistische Bewegung zu dämonisieren. So wurde vor allem Lina E. in einer Vielzahl reißerischer Berichte von konservativen und offen rechten Medien an den Pranger gestellt. Auch die Behörden hatten seit der Festnahme weder Kosten noch Mühen gescheut, um Lina E. als gefährliche Rädelsführerin darzustellen, inklusive eines Helikopterfluges nach Karlsruhe, der sonst Schwerstkriminellen vorbehalten ist. Der Prozess war schließlich begleitet von einer Vielzahl von offensichtlichen Ungereimtheiten bis hin zu politischen Skandalen.
So wurden während eines Prozesstermins im April 2022 Verstrickungen der Ermittlungsbehörde in rechte Netzwerke bekannt. Der Kommandoführer eines Mobilen Einsatzkommandos (MEK) Mario W. machte in seiner Befragung als Zeuge vom Aussageverweigerungsrecht Gebrauch. Er begründete das damit, dass gegen ihn im Zusammenhang mit dem Munitionsskandal im Jahr 2018 ermittelt werde. Vier Jahre zuvor hatten MEK-Beamt*innen mutmaßlich eine unbekannte Menge an Munition gegen ein inoffizielles Schießtraining beim Betreiber eines Schießplatzes entwendet. Betreiber Frank T. zählt zum Kreis des rechtsterroristischen Netzwerkes „Nordkreuz“. In den vergangenen Jahren waren immer wieder zentrale Personen des „Nordkreuz“-Netzwerkes auf besagtem Schießstand „Baltic Shooters“. Ein MEK aus Dresden, welches im Verfahren mit Observationen betraut war, wurde schließlich im Zuge der Ermittlungen gegen die ursprünglich 17 Beamten aufgelöst. Die Generalstaatsanwaltschaft klagte drei Beamte wegen des Diebstahls von Dienstmunition an.
Die Aussage eines anderen Zeugen aus dem Neonazi-Milieu spricht für mindestens eine weitere Verbindung. Ein Beamter der SoKo „Linx“ hätte einen anderen Beamten vom LKA um Kontakt zu ihm gebeten, sagte dieser am gleichen Prozesstag aus. Dazu kommt, dass offen sichtlich Informationen aus den Ermittlungsakten an mehrere Medien durch gestochen worden waren, zu denen auch die Rechtsaußenpostille Compact gehört. Gegen die Soko wurde in dieser Sache dann auch ermittelt, der Leipziger Ober bürgermeister Burkhard Jung, die JVA Chemnitz und das LKA selbst stellten Strafanzeigen in diesem Zusammenhang. Die Anwälte von Lina E. hatten erfolglos versucht, den Vorsitzenden Richter Hans SchlüterStaats abzulehnen und für be fangen zu erklären, nachdem er während eines Verhandlungstages erklärt hatte, es sei als Richter nicht seine Aufgabe, die Ermittlungsarbeit der Polizei zu über prüfen. Schlüter Staats hatte Fragen der Verteidigung zur Herangehensweise der „Soko Linx“ nicht zugelassen. Dabei ging es um die Überprüfung der Neutralität und Unvoreingenommenheit der polizeilichen Ermittlungsgruppe, deren Arbeit die Grundlage für die Anklage war.
Verteidiger Erkan Zünbül und Ulrich von Klinggräff attestierten der SoKo in einer Erklärung einen erheblichen Erfolgsdruck, der den Verlauf der Ermittlungen mitbestimmt und dazu geführt hätte, „aus einer Anzahl von Körperverletzungshandlungen eine kriminelle Vereinigung zu konstruieren“. Das Ergebnis sei ein politisierter Prozess, der unter den Bedingungen eines Terrorismusverfahrens vor einem Staatsschutzsenat stattfände. Beide Verteidiger vertraten die Auffassung, dass es sehr wohl zur Aufgabe des Gerichts gehöre, die Arbeit der Exekutive zu überprüfen. Der Vorsitzende Richter hatte jedoch befunden, dass dies lediglich die Aufgabe der Dienstaufsicht und anderer Stellen sei, da es sich um Verwaltungsrecht handele. Zünbül und Klinggräff zufolge widerspricht diese Rechtsauffassung zentralen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens. Das Gericht müsse nach dem Grundkonzept der Strafprozessordnung selber die Beweise erheben und würdigen. Dazu gehöre, die von Behörden vorgelegten Beweise und Indizien auf ihre Belastbarkeit zu überprüfen, damit auch Alternativhypothesen in den Blick genommen werden könnten.
Auch weitere Verteidiger*innen beschwerten sich über den Umgang und die Verfahrensweise des Richters. Laut Rita Belter war eine ungestörte Zeug*innenbefragung durch die Verteidigung quasi unmöglich. Es sei ein ständiger Streit um Verteidigungsrechte. Ständig wolle der Vorsitzende den Zeug*innen die Fragen erklären und gleich selbst weiter fragen, erklärte die Verteidigerin im Interview mit der Tageszeitung junge Welt. Eine gemeinsame Erklärung der Angeklagten sei nicht zugelassen und die Verlesung unterbrochen worden. Offenbar interessiere ihn als klassischen Vertreter der Hufeisen-Theorie der Standpunkt der Angeklagten nicht. An einer Stelle hätte er die Angeklagten mit der SS verglichen und damit gezeigt, dass es mit seinem Geschichtsverständnis nicht weit her sei.
Eine besondere Dynamik gewann das Verfahren, als das LKA schließlich einen Kronzeugen präsentierte. Johannes D., selbst beschuldigt aber nicht angeklagt, machte umfangreiche Aussagen und belastete die Angeklagten schwer. D. war bereits seit einiger Zeit wegen sexualisierter Gewalt aus allen linken und antifaschistischen Zusammenhängen ausgeschlossen worden. Er wurde in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Seine Aussagen sollen mehrere hundert Seiten zum Verfahren umfassen. Der Komplex um den Kronzeugen D. löste eine notwendige Debatte über sexualisierte Gewalt aus, die in antifaschistischen Zusammenhängen, den Solidaritätsstrukturen sowie der Roten Hilfe e.V. weiter anhält.
Die Aussagen von D. blieben inhaltlich vage und konnten keine vermeintlichen Belege liefern, dennoch wurden sie von der Anklage natürlich als glaubwür dig gewertet. Dass den teils offensichtlichen Unwahrheiten und nachweislich widersprüchlichen Angaben des eigens bemühten Kronzeugen diese zentrale Rolle in der Beweisführung zukam zeigt, wie wenig reales Beweismaterial das Oberlandesgericht als Basis für das politisch gewollte Urteil für eine Verurteilung in der Hand hatte. Dies hinderte das Gericht nicht an einer derart hohen Verurteilung.
D. konnte außerdem mit einer milderen Strafe rechnen, wenn er durch seine Aussage andere belastet. Er hatte also ei ne ganz klare Motivation, belastend aus zusagen, was den Wahrheitsgehalt auch aus Sicht der Verteidigung zusätzlich in Frage stellt, wie Rechtsanwalt Einar Aufurth im Interview erklärte.
Die Urteilsbegründung dauerte fast neun Stunden und ließ zum Teil selbst anwesende Journalist*innen verständnislos zurück. Detailliert wurden verschiedene vage Indizien aufgezählt, die sowohl für als auch gegen eine Beteiligung der Angeklagten an den zur Last gelegten Taten sprachen. Am Ende wurde fast jeder Tatkomplex mit den Worten „in der Gesamtschau hat das Gericht keinen Zweifel an der Tatbeteiligung“ abgeschlossen.
Zwei Interpretationen des Gesagten in der Innenraumüberwachung von Fahrzeugen konnten durch die Verteidigung widerlegt werden. Dies reichte dem Gericht jedoch nicht aus, um die übrigen beiden als Indizien geltenden Gespräche infrage zu stellen. Im Gegenteil wurde erklärt, dass der Senat davon überzeugt sei, die Interpretation würde zutreffen.
Selbstverständlich legten die Angeklagten Revision gegen das Urteil ein. Der Bundesgerichtshof als zuständiges Revisionsgericht prüft das Urteil jedoch nur auf formelle Rechtsfehler. Eine Überprüfung der Beweise beziehungsweise der Beweiswürdigung findet hingegen nicht mehr statt. Auch die Bundesanwaltschaft legte Revision gegen die Urteile ein, vermutlich um noch höhere Haftstrafen durchzusetzen.
Um das Antifa Ost Verfahren in dieser Form und mit diesen Urteilen durchzusetzen, war der Gesinnungsparagraf 129 das zentrale Instrument der Verfolgungsbehörden, welcher die ganze Überwachung und die zahlreichen martialisch durchgeführten Hausdurchsuchungen überhaupt erst ermöglicht hat. Generalbundesanwältin Alexandra Geilhorn musste zwar einräumen, dass die sogenannte „Smoking Gun“, also ein echter Beweis für die Tatbeteiligungen und die Bildung einer kriminellen Vereinigung fehle. Dies sieht sie jedoch nach eigener Aussage während des Prozesses nicht als Problem an, da nach der Reform des Paragrafen 129 keine Mitgliederlisten oder nachgewiesene Beitragszahlungen etc. mehr nötig seien. Vielmehr reicht wohl inzwischen das zugeschriebene gemeinsame Motiv aus, um so massiv gegen Antifaschist*innen vorgehen zu können. In diesem Sinne ist das Antifa Ost Verfahren als ein Versuchsballon zu verstehen.
Mit weiteren Verfahren ist zu rechnen. „Soko Linx“ Leiter Dirk Münster kündigte bereits öffentlich an, das Verfahren sei erst der Anfang. Es gibt noch weitere Beschuldigte, gegen die bisher noch keine Anklage erhoben wurde. Dass es in diesem Zusammenhang noch weitere Verfahren geben wird, die in ähnlicher Art und Weise als politisches Großverfahren inszeniert werden, scheint die Absicht der Verfolgungsbehörden zu sein. Daher bleibt es absolut essentiell, sich weiter wie vielfach geschehen mit den Betroffenen zu solidarisieren und öffentlich Position zu beziehen. Auch kommende Prozesse sollten genau beobachtet und kommentiert werden. Die zahlreichen großen und kleinen Protestaktionen und Kampagnen wie „Wir sind alle Antifa – Wir sind alle Linx“ haben dazu beige tragen, eine kritische Öffentlichkeit her zustellen.
Dieser Artikel erschien in einer leicht geänderten Version im Antifaschistischen Infoblatt Nr. 140
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